von Eva Fischer
Sarah öffnete das Tor des Holzgatters, das ächzend ins Schloss zurückfiel.
Links unten schimmerte der See grau durch die herbstlich belaubten Bäume. Auf der rechten Seite wölbte sich grüner Tann hügelaufwärts und verwehrte dem abendlichen Himmel das spärliche Licht. Der schnurgerade asphaltierte Weg gab Halt zwischen den beiden Ebenen.
Warum musste Ben unbedingt diesen Ort aufsuchen? Sarah hegte keinerlei Sympathie für Personenkult, auch wenn die Personen schon längst tot und unter ungeklärten Umständen gestorben waren.
Sie schwiegen sich an. Ihre Schritte hallten durch die einsame Stille. Sarah wollte es schnell hinter sich bringen. Wann wurde ihr Ziel endlich sichtbar? Eine Kapelle. Aber es gab nur diesen sich scheinbar endlos hinziehenden Weg und in den Himmel ragende Bäume, die reglos und stumm wie Soldaten Spalier standen.
Endlich konnte sie zwischen den Ästen die grauen Schieferplatten eines Daches erkennen.
„Ich gucke mir das Kreuz an“, sagte Ben, löste seine Hand aus Sarahs und kletterte durch den Wald nach unten zum See. Er schaute sich noch einmal erwartungsvoll um, ob sie ihm folgte.
„Ich gehe zuerst zur Kapelle“, rief Sarah. „Wir treffen uns unten am See.“
Ben nickte und setzte seinen Weg fort, während sich Sarah dem Sakralbau näherte.
Kapelle? Das ist eher eine Kirche, die an Sacré-Coeur erinnert, dachte sie. Enttäuscht rüttelte sie an der Tür. Sie war geschlossen wegen Renovierung, wie ein Schild verriet. Ein riesiger Balkon gab den Blick auf den See frei. Sarah schritt majestätisch zur Brüstung. Unten ragte das große Holzkreuz aus dem Wasser. Sie erschauerte und dachte an die Menschen, die nachts zu seinem Todestag mit Fackeln hierherpilgerten. Eine schwarze Krähe löste sich vom Dach der Kapelle und flog Richtung Kreuz.
Wo war Ben? Er stand nicht wie erwartet am Uferrand. Ich gehe nicht nach unten, sagte sie sich. Von hier aus habe ich den besseren Überblick. Er wird schon auftauchen.
Wie lange sie auf den See und das Kreuz starrte, wusste sie nicht mehr. Immer in der Hoffnung, Ben käme und winkte ihr zu. Sie vergaß die Zeit und die Zeit vergaß sie. Plötzlich stieg Panik in ihr auf, denn der Himmel verdunkelte sich zunehmend.
Ich muss zurück, bevor es ganz dunkel wird. Sicher wartet Ben am Parkplatz auf mich. Sarah eilte zurück zum Asphaltweg, als sie hinter den Bäumen einen Schatten wahrnahm. Ben? Was machte er dort oben? Etwas bewegte sich. Vielleicht ein Reh? Sie blieb stehen. Da spürte sie, wie ein Augenpaar sie musterte. Ein Mann? Sie konnte hinter den Bäumen einen schlanken männlichen Körper entdecken. Nackt! Oh Gott, ein Irrer! Schnell weg!
Sie wollte gerade zur Flucht ansetzen, als sie eine Stimme hörte.
„Haben Sie keine Angst, werte Dame! Ich wollte Sie nicht erschrecken. Verzeihen Sie meinen unschicklichen Aufzug. Ich habe gerade ein Bad genommen und wähnte mich allein. Nun würde ich Sie gerne begrüßen, denn Sie sind sicher wegen mir hier. Wenn Sie mir Ihre Jacke reichen, dann könnte ich mich Ihnen einigermaßen züchtig nähern.“
Warum rannte Sarah nicht weg, sondern tat, wie ihr geheißen, zog ihre Jacke aus und warf sie dem Fremden zu? Auf diese Frage würde sie nie eine Antwort finden.
Als er näher kam, erkannte sie sofort die gewellte Haarpracht des Königs, die schon ein jeder mal auf einem Bild gesehen hatte.
„Was denken Sie? Bin ich der Echte? Ich sehe, Sie sind skeptisch.“
„Der Echte ist tot, aber Sie sehen ihm täuschend ähnlich. Respekt!“, krächzte Sarah. Etwas in ihr konnte sich nicht entscheiden zwischen Angst und Neugierde.
„Wie kann ich Ihnen beweisen, dass ich der Echte bin, wertes Fräulein?“
„Wenn Sie mir jetzt Ihr Leben erzählen wollen, ist das nicht schwer. Schließlich haben Sie Tagebücher hinterlassen.“
„Es war ein Fehler, sie nicht zu verbrennen.Wer kann schon fühlen, was ich je gefühlt?“
„Ja, ja, Sie waren (oder sind ?) ein Romantiker und hatten genug Geld, sich tolle Schlösser bauen zu lassen, wo noch heute die Touristen Schlange stehen.“
„Sie auch?“
„Ich kenne nur Herrenchiemsee. Das hat mich etwas enttäuscht. Es ist nur eine Kopie von Versailles. Da scheint Ihnen das Geld ausgegangen zu sein.“
„ Ja! Sehr ärgerlich! Bayern ist eben nicht Frankreich, ma chère.“
Sie konnte den Blick nicht abwenden von den sanft geschwungenen Lippen, den dunklen Augen, dem markanten Kinn, das sie am liebsten gestreichelt hätte. Er sah so wild und verletzlich aus und berührte eine unbekannte Saite ihres Innersten.
„Erkennst du mich nicht. Ich bin dein Falke, du meine Seemöwe. Kämst du doch geschwind zu mir geflogen!“
Sie errötete.
„Ach, Sie erinnern mich so an Sisi, meine Seelenverwandte. Wie sehr ich sie vermisse!“
„Sie geistert nicht zufällig auf der Roseninsel herum?“, spottete Sarah, die zugegeben etwas eifersüchtig auf die unbekannte Bekannte war.
„Leider nein! Ich bin ihr schon lange nicht mehr begegnet. Aber was waren das für kostbare Momente, die wir unseren Verpflichtungen abtrotzten und uns gegenseitig unsere Lieblingsverse vortrugen! Mögen Sie auch Poesie? Die Musik von Wagner?“
„Alles, was Sie mir bisher erzählt haben, kann jeder nachlesen, aber von Ihrem Tod gibt es verschiedene Versionen. Nur der Echte weiß, was damals wirklich am Starnberger See passiert ist. Könnten Sie mich darüber aufklären? Dann könnte ich Sie noch posthum rehabilitieren.“ Sie lächelte ihn kokett an.
„Gerne, mein Fräulein. Doch dazu müssten wir an den See gehen zum Ort des Geschehens. Darf ich Ihnen meine Hand reichen?“
Die Hand, die der Fremde ihr entgegenstreckte, war schneeweiß und eiskalt.
„Ich will gar nichts mehr wissen!“, schrie Sarah hysterisch auf. „Mein Freund wartet!“
Sie rannte davon, ohne sich umzusehen,
„Schade!“ hörte sie den Fremden sagen gefolgt von einem diabolischen Lachen.
Zitternd und außer Atem erreichte Sarah den Parkplatz. Mittlerweile war es stockdunkel, aber nirgendwo war eine Menschenseele zu finden. Sie hastete weiter.
„Du frierst ja, mein Schätzchen! Wo hast du denn deine Jacke gelassen? Ich habe dich überall gesucht, und da habe ich mir gedacht, du bist vorgegangen zu dem Restaurant am See. Da wolltest du doch schon heute Nachmittag hin. Komm, wir bestellen uns einen leckeren Fisch und ein Glas Weißwein! Du hast doch sicher Hunger. Der Wein wird dich wärmen. Ist der Blick auf den See nicht herrlich bei Nacht? So romantisch! Überall brennen Lampen und spiegeln sich im Wasser! Nun sag schon was, Sarah! Du bist ja vollkommen erstarrt, als wärst du auf dem Rückweg dem Leibhaftigen begegnet oder am Ende gar dem Kini? Du glaubst doch nicht an den Quatsch, den die Leute hier erzählen. “