Von Nando Lindemann

Frank Müller hatte im Lotto eine Million Euro gewonnen. Er wusste nicht, was er damit anfangen sollte. Er verdiente genug Geld für seinen Lebensunterhalt. Seine Bedürfnisse waren von eher geringer Quantität. Er verreiste regelmäßig und leistete sich hin und wieder eine Partnervermittlung. Von den kleineren Lottogewinnen kaufte er sich den Technik- und Heimwerkerschnickschnack, mit dem Männer so gerne spielen.

Er hatte Bücher gelesen und gehört, dass plötzlich reiche Menschen das Geld mit vollen Händen ausgeben, für völlig unbrauchbaren Müll wie einen Porsche oder eine Villa. Das Geld ist eine verkappte Droge. Der Adrenalinspiegel steigt, die Endorphine wissen nicht, wohin sie wollen und wenn der Rausch verflogen ist, kommt die Ernüchterung, der Kater, das große Winseln. Der Kick, der nach dem Millionengewinn einsetzte sollte, blieb bei ihm aus. Mülli stand erhaben darüber. Manchmal wollte ihm eine Stimme einreden, er wäre depressiv oder noch schlechteres, doch dann lächelte er. Gefühle sind meistens schlechte Gefährten. Irgendwann würde er eine Verwendung finden. Er verteilte den Gewinn auf Konten verschiedener Banken, um die Gebühren zu sparen. Wer weiß, wofür man das mal braucht.

Die Jahre vergingen, sein Gewinn vermehrte sich, und auch seine verblassten Träume.

Bis heute.

Am frühen Abend überquerte er den Fußgängerüberweg zwischen Bahnhof und Kaufhaus.

„Haste mal ‘ne Mark? Nur ‘n bisschen Kleingeld.“ Aus seinen Gedanken gerissen, schreckte er hoch. So eine verwahrloste und zerlumpte Frau hatte er noch nie gesehen. Ihr rundliches Gesicht schien mal sehr niedlich gewesen zu sein, doch die gelben Zähne hinter ihrem Lächeln schienen ihm die Augen auszustechen. Mit abwehrenden Händen vor seinen Augen lief er mit gesenktem Blick eilig an ihr vorbei. ‚Was hier nicht alles herumlungert!‘, dachte er.

„Danke der Herr“, sagte sie freundlich.

Das saß. Jetzt war er hellwach. Die Erkenntnis, sie einfach abgeurteilt zu haben, fraß sich in sein Bewusstsein. Sie ist ein Mensch, wie du! Als er sich zu ihr umdrehte, dachte er nach langer Zeit wieder an die Million, so als wäre sie ein Traum. Sie schaute ihn immer noch an.

„Wofür brauchst du das Geld“, rief er. Für Alkohol hatte er keins übrig.

„Ich muss mir was zu essen kaufen. Am besten gleich, ich bin sehr hungrig.“

„Und warum bettelst du mich dann um Geld an?“

„Die meisten haben mehr Geld als Essen bei sich.“ Frank sah sie an, sie schaut ihn an. Es war ihm peinlich. Regte sich sein Gewissen, oder nur ein Schuldgefühl? Er könnte ihr was spendieren. Genug hatte er ja und das wäre mal eine gute Tat.

„Ich kann dir was zu essen geben“, sagte er, „aber vorher machst du dich hübsch.“

„Ah, du gehst mit mir aus.“

„Nein, ich geh nicht mit dir aus, ich gebe dir was zu essen. Und dann erzählst du mir, warum du mich anbettelst, hörst du? Ich will deine ganze Geschichte hören. So was mag ich nämlich gar nicht, dass mich jemand anbettelt. Und wenn ich dir deine Geschichte nicht glaube, verschwinde ich auf die Toilette und lass dich mit der Rechnung allein.“ Er packte sie am Arm und zog sie in das Kaufhaus. „Du stinkst erbärmlich. Du kriegst jetzt neue Kleider und dann gehst du duschen.“

„Aber…“ Sie versuchte, sich zu wehren. „Aber das ist doch nicht nötig, ich…“ Blitzschnell drehte er sich zu ihr, so nah, dass sich beinahe ihre Nasen berührten.

„Ich will, dass du würdevoll essen kannst!“ Sie verstummte und lief eilig neben ihm her.

Sie wählte sich nur die besten Klamotten. Umkleiden ließ die Verkäuferin nicht zu. Frank sagte, was er verschmutzte, würde er bezahlen, auch wenn er es nicht nähme. An der Kasse zückte er zum ersten Mal eine der Karten, die seinen Millionengewinn nun schrumpfen ließ. Er freute sich. Ein bisschen, denn er tat etwas Gutes.

Aus der Dusche gekommen und neu eingekleidet, stand eine schöne Frau vor ihm. Sie duftete angenehm. Die verwahrlosten Jahre hatten sie zwar rauh und holprig gemacht, doch was soll’s? Er entschied sich, sie noch zum Frisör zu schicken. Vielleicht sollte er noch Schmuck spendieren? Doch das wäre wohl zu viel des Guten.

„Was willst du essen“, fragte er, „isst du gerne Reis? Ich habe Lust auf Reis.“

„Ja, Reis geht auch. Ich könnte jetzt alles essen.“ Sie schien verschüchtert zu sein. Wahrscheinlich dachte sie, dass er nicht ganz richtig im Kopf sei, doch ihm war das egal. Er hatte jetzt selber mächtigen Kohldampf.

Ihre Geschichte riss ihn nicht vom Hocker. Anfangs zögerte sie. Was gab es schon zu erzählen?  Er bedrängte sie.,wollte wissen, ob er sein Geld an ihr verschwendete.

Vater vererbt ihr eine Firma, sie verliebt sich in einen Mann, der ihr Vermögen verjubelt und verschwindet. Dann der soziale Abstieg und letztlich der persönliche. Nichtssagend und alltäglich. Das machte ihn wütend. Können Obdachlose ihr Leben nicht reflektieren?

„Was hast du versucht, um nicht mehr betteln zu gehen?“ Sie winkte ab.

„Ohne Moos nichts los und ohne Wohnung keine Arbeit.“

„Ja, der berühmte Teufelskreis.“

„Eben, das Leben ist beschissen.“

„Genau“, sagte er. Er starrte vor sich hin und schob sich mit den Stäbchen ein Stück Enabi Maki in den Mund. „Das Leben ist beschissen.“

Sie bestellte sich ein zweites Sushi-Menü.

„Lecker“, sagte sie, „du verstehst was davon. Als ich noch reich war, hatte immer meine Haushälterin für mich gekocht. Sie ist die beste Köchin der Welt.“ Er beugte sich zu ihr nach vorn. Ihr Geplänkel ging ihm auf die Nerven.

„Wenn du alle Möglichkeiten hättest, was würdest du tun, um wieder auf die Beine zu kommen?“ Sie schob sich ein Stück Unagi Maki, gewürzt mit Meerrettich, Wasabi und Sojasoße, in den Mund und mampfte:

„Zuerst würde ich zum Zahnarzt gehen, der gibt mir neue Zähne. Dann zum Schönheitschirurgen, denn mit dem Gesicht will ich mich nicht mehr blicken lassen. Und dann finde ich meinen Exmann und schreibe eine Million für seinen Kopf aus. Nee“, unterbrach sie sich schnell, „zuerst das und dann zum Schönheitschirurgen.“ Er schaute sie an.

„Das würdest du tun, wenn du wieder oben bist. Doch was würdest du tun, um überhaupt wieder hoch zu kommen?“ Sie überlegte. Dann nickte sie und aß weiter.

„Ja, er ist der Grund für mein Übel und wenn der weg ist, geht es mir wieder gut.“

„Wirklich?“ Er zweifelte an seiner guten Tat. Wie gut, dass er sich gegen den Schmuck entschieden hatte, sonst würde sie ihn womöglich verscherbeln und einen Auftragsmörder damit bezahlen.

„Also… Ich wollte wissen, was du tun würdest, um nicht mehr betteln zu müssen.“

„Ach so“, sagte sie gedehnt, „du meinst, außer betteln gehen. Da hab ich schon alles versucht. Sogar mit dem Strich, aber… das war ekelhaft…“ Frank sah, wie ihre Augen feucht wurden. Dann sah sie ihn fordernd an. „Tja, ist wohl nicht das, was du hören wolltest, oder? Wozu machst du dieses Theater hier? Konntest du mir nicht einfach etwas Geld in die Hand drücken?“ Er musste sich eingestehen, dass er das nicht gründlich durchdacht hatte. Für sowas hatte er keine Zeit gehabt. Trotzdem musste er wissen, was so schwer daran sein konnte, ohne Betteln auszukommen.

„Wie sieht es denn mit dieser Sozialhilfe aus?“

„Lass gut sein“, sagte sie. „Sag mir erstmal, warum du dich hier so aufspielst.“

Frank fühlte sich in die Ecke gedrängt. Konnte sie nicht froh sein, dass er versuchte, ihr zu helfen? Nun sah sie kaum mehr aus, wie eine Bettlerin. Wenn sie schläft, wird man ihr die neue Kleidung wohl stehlen. Er schämte sich. Der Gönner in ihm wurde winzig klein.

„Ich… “, stammelte er.

„Mann, du bist ja ganz rot“, sagte sie. „Ich sollte wohl dankbar sein für das alles. Hast gedacht, ‚Ich helfe mal der Kleinen‘, was?“ Sie schaute auf ihre neue Kleidung. „Nicht gerade alltäglich.“ Gesättigt leerte sie ihr Glas Wasser. „So, jetzt muss ich mir die Beine vertreten.“

Während er die Rechnung zahlte, nutzte sie die Gelegenheit, auf die Toilette zu gehen.

Draußen atmete Frank erleichtert auf. Er hatte ein paar Minuten für sich allein. Sollte er jetzt gehen? Sie schien nicht begeistert zu sein. Wie weit würde sie mit Hundert Euro kommen, oder mit Tausend, Hunderttausend? Sollte er beobachten, wie sie das Geld verwenden würde? Hilfe müsste bedingungslos sein. Wenn sie aus dem Herzen käme. Er ging in die Nebenstraße und lehnte sich an die Hauswand indem er in die Hocke ging. Er hatte keinen Plan. Das musste gut durchdacht sein. Er hätte vor Scham in den Boden versinken können. Sein Körper verkrampfte sich. ‚Du bist so dumm‘, dachte er.

Nach einer halben Stunde stand er auf. Sie wird bestimmt schon gegangen sein. Morgen war ein neuer Tag und er würde überlegen, wie er einigen Obdachlosen helfen könnte. Bei diesem Gedanken fiel eine Last von ihm. Dann kam jemand aus dem Haus heraus. Es war die Bettlerin. Beide erschraken.