Von Anna-Stine Bock

Wir schreiben das Jahr 2129. Ich bin Juliette, 119 Jahre alt, und die älteste Frau der Welt. Ich habe das Jahrhundert der größten Revolution der Welt miterlebt. Ich bin heute so geblendet, dass ich nicht mal mehr weiß, wie frisches Gras riecht. Die Welt besteht nur noch aus Plastik, hoch modernster Technik und Wasser. Jeder Zentimeter Gras wurde in Straßen, Gebäude und Felder umgewandelt.

In Felder, bei denen es nicht mehr darauf ankommt, wie die Wetterbedingungen oder die Umwelt um sie herum aussieht, sondern Felder, bei denen der Mensch die Verantwortung trägt, wann das Feld reif ist und wie groß und welche Farbe die Kartoffel hat. In Straßen, über die Autos fliegen, die durch Magnetfelder über die Straßen gleiten, ohne dass sie einen Fahrer brauchen. Und in Gebäude, die man gar nicht mehr Gebäude nennen mag, da sie nur noch von Maschinen hergestellt werden und nicht von des Menschen Hand. Die den Menschen schon lange nicht mehr nur ein zu Hause bieten, sondern Luxus und Selbstständigkeit. Und damit meine ich nicht die Selbstständigkeit der Menschen, sondern die des Gebäudes.

Mit den Jahren musste ich auch in solch ein Gebäude umziehen. Mein kleines Haus liegt in einem Vorort einer Stadt, doch selbst da gibt es kein Grün mehr, außer das Grün auf Bildern, Gebäuden und Wänden. Naja ein Haus ist es nicht, wohl eher eine Illusion des menschlichen Auge. Wenn man das Haus verlässt, scheint es nicht mehr da zu sein. Doch das erschreckende ist, dass es keine Täuschung unserer selbst ist, sondern die Wirklichkeit. Es ist wirklich verschwunden und du kannst es, egal wo, wieder erscheinen lassen.

Es gibt so viele unfassbare Dinge heutzutage und ich bin, obwohl ich schon so alt bin, leider durch die Entwicklung sehr geprägt geworden. Sodass ich mich nur noch wage an die frischen Wiesen voller duftender Blumen, an die Ausflüge mit meinen Eltern und Geschwistern in den Wald, an die goldbraunen Felder und unseren Garten erinnern kann. Unser Garten damals war mein Lieblingsort. Ich saß oft auf der braunen langen Schaukel unterm Walnussbaum und sang über die Wunder der Natur. Immer wenn ich an diesen Moment denke, verblasst er und ich weiß nicht mehr genau, ob ich mir diesen Moment nur eingebildet habe oder nicht.

Es gibt keinen, der mich versteht und sich noch an die Zeit damals erinnern kann. Ich bin die einzige, die noch erlebt hat, wie das Leben vor diesem ganzen hier war. Ich hab keinen, der mich jeden Tag daran erinnert wie es mal war, um diese wunderbaren Erinnerungen zu bewahren. Doch ich hab so jemanden nicht und mit jedem Tag, der vergeht, freue ich mich nicht über die Zeit, die ich hier noch verbringen durfte, sondern mit jedem Tag steigt die Angst, all meine Gedanken, Erinnerungen, meine Schätze und das was nur noch mir bleibt, zu vergessen.                                                                                                                                                          

Ich weiß, dass ich nicht mehr lange habe und dass ich trotzdem dankbar für jeden einzelnen Tag bin, der mir noch bleibt. Doch ich weiß nicht, was ich dafür geben würde nochmal einen Ausflug ins Grüne zu machen, mit echten Blumen und richtigem Gras. Besonders, wenn es Rosen wären…

Doch gegen die Zeit kann ich nichts machen und die einzigen Blumen, die es noch gibt, wachsen nur noch in bestimmten Bereichen, sind selten und teuer. Mir ist klar, dass ich mir das nie leisten könnte, doch der Gedanke daran verleiht mir schon ein wunderbares Gefühl.                                        

 

Ich hatte nie einen Mann und auch nie Kinder, das einzige was mich erfüllt hat, war meine Arbeit. Ich hatte damals einen Blumenladen ganz in der Nähe von meinem Elternhaus eröffnet. Er war der Sinn in meinem Leben. Ich band jeden Tag ein dutzend von Sträuchern aus den Blumen aus meinem Garten. Ich liebte die Rosen in meinem Garten, ich pflegte sie wie eine Mutter ihr Baby. Der Duft meiner Blumen machte mich glücklich.

Oft saß ich inmitten der Rosen nur da und las ein Buch über Rosenzucht. Ich kann es nicht beschreiben, aber es erfüllte mich irgendwie, obwohl ich nur ein kleines Geschäft hatte und Blumen. Doch jetzt hab ich schon lange meine Rosen nicht mehr und starre jeden Tag auf meine Kunstblumen in der Vase auf meinem Esstisch. Ich habe meine Leidenschaft verloren, das was mich vollständig und zufrieden gemacht hat.

Ich hab jetzt sehr viel Zeit über mich selbst nachzudenken und über alles mir meinen Kopf zu zerbrechen, weil ich einfach nicht mehr die Möglichkeit habe Rosen zu binden, mein Geschäft neu zu dekorieren oder einfach nur da zu liegen im weichen grünen Gras. Vielleicht erleichtert und erfüllt das moderne das Leben der Menschen um mich herum und vielleicht ist das um mich herum das fortschrittlichste, was die Welt je gesehen hat. Doch ich sehe das um mich herum mit anderen Augen. Mit Augen, die die frischen und bunten Farben vermissen. Ich gehe oft draußen spazieren und stelle mir vor, dass die grauen Gebäude grüne Bäume sind, die Autos wunderschöne Blumen und die Straße die saftige Wiese.

Es ist Sonntagmittag und wie jeden Tag gehe ich spazieren und stelle mir die Blumen, Wiesen und Bäume, anstelle des grauen, ringsherum vor. Bis plötzlich mich ein Reporter mit seinem Interviewraum im Rucksack anspricht. Er bittet mich höflich um ein Interview. Ich möchte den armen Kerl nicht enttäuschen und steige in den plötzlich erscheinenden Raum, der mich von überall aufnimmt. Es ist komisch, denn bisher habe ich mich geweigert jegliche Erfindungen von heute zu betreten, kennenzulernen geschweige denn mich zu bemühen sie zu verstehen. Doch diesmal ist es etwas anderes. Ich springe über meinen Schatten und der Reporter beginnt mit der Umfrage, welche, wie ich im Nachhinein erfahre, für eine Spaßsendung ist. Er fragt mich, für was ich mich entscheiden würde, wenn ich die Wahl zwischen 1 Million Euro und einem Rosenstrauß hätte. Dazu muss ich sagen, dass die Rosen auch ungefähr 1 Million Euro wert sind, weil sie so selten geworden sind.

Ich überlege nicht lange und entscheide mich voller Überzeugung für die Rosen. Ich bin mir noch nie einer Antwort so sicher gewesen wie jetzt und sie fühlt sich einfach richtig an. Das Kamerateam, also die Leute, die dafür sorgen, dass nichts am Interviewraum kaputt geht, brechen in großes Gelächter aus. Denn anscheinend ist das gar keine ernstgemeinte Frage für sie, sie gingen bestimmt davon aus, dass ich mich für die 1 Million Euro entscheiden würde. Doch diese Frage ist für mich mehr als ernst, sie ist eine Traumvorstellung und ein Funke Hoffnung auf mein altes Ich.

Ich glaube, dass der junge Reporter erkennt, dass diese Rosen für mich mal eine große Rolle gespielt haben, denn er lächelt nur beeindruckt und lacht nicht. Er holt eine einzelne Rose hervor und legt sie in meine alte zitternde Hand. Ich bin so glücklich, außer mir vor Freude und fange an zu weinen. Für jeden scheint das lächerlich, doch für mich ist das der schönste Tag seit ich meinen kleinen Blumenladen in der Seitenstraße verloren habe.

 

Der Reporter fragt mich vorsichtig, warum ich mich so entscheiden würde, denn vom Geld hätte ich mir alles kaufen können. Ich antworte ihm, dass schon diese eine Rose für mich 1 Million reicher an Bedeutung ist, als irgendein Geld dieser Welt. Der nette Mann ist sehr gerührt von meiner Sicht des Lebens und er ist der erste seit langer Zeit, mit dem ich mich richtig unterhalten kann. Immer noch völlig aufgelöst, lade ich ihn in mein bescheidenes Heim zu Kaffee und Kuchen ein.                                                                                                                                         

Als ich nach Hause komme, laufe ich in Gedanken schon zu meiner Vase auf dem Esstisch, doch meine Beine wollen nicht so schnell. Der Ausflug hat mich sehr geschafft. Doch ich bin zu aufgeregt auf den Besuch, um mich noch für eine Stunde hinzulegen und stelle die Rose ins Wasser, koche Tee auf und backe einen kleinen Zitronenkuchen. Ich decke gerade den Tisch, als es schon an der Tür klingelt. Ich öffne die Tür und bitte den Reporter hinein. Er steht jetzt da, ohne seinen Interviewraum und ohne sein Kamerateam. Wir setzen uns und für ein paar Minuten sage ich nichts, weil ich den Geruch der Rosen genieße und keinen Moment verschwenden will, um mich nicht an ihnen zu beglücken.

Ich erzähle dem Mann alles über mich, über meine Gedanken und wie es damals war. Ich habe das noch nie jemanden erzählt und er, er sitzt nur da und hört mir respektvoll zu. Er behandelt mich nicht wie eine Irre oder eine 119-jährige Frau, die nur irgendwelches verwirrtes Zeug quatscht. Er hört mir aufmerksam zu und stellt mir ab und zu nebenher Fragen, er scheint sich wirklich für mich und mein Leben zu interessieren.  

Ich erzähle ihm so viel, sogar, dass er mich heute zum glücklichsten Menschen der Welt gemacht hat. Selbst wenn es in den Augen anderer Leute nur Rosen sind, die sie ja nie kennengelernt haben, weil sie viel zu jung sind, um sich noch an die Zeit voller Grün und wunderbarer Natur erinnern zu können. Ich weiß noch genau wie die Rosen in Wirklichkeit aussahen, wie sie rochen, wie sie sich anfühlten und vor allem welche Bedeutung sie für mich hatten. Ich erzähle immer mehr und immer weiter.

Dieses ganze Gefühlschaos ist für mich ganz neu und überfordert mich. Ich will aufstehen, doch ich bemerke nur noch, wie ich zusammenbreche und der Reporter mich auf mein Bett trägt. Ich liege da, kann mich nicht mehr bewegen und ich weiß, dass es nun so weit ist. Der Mann, von dem ich nicht mal den Namen kenne und er mir trotzdem mehr ans Herz gewachsen ist als jemals jemand anderes, setzt sich zu mir ans Bett und legt die Rose behutsam auf meine Brust. Ich bekomme nur noch ein leises Danke heraus und schließe, während ich das letzte Mal den Duft der Rose wahrnehme, langsam die Augen.