Von Sabine Esser

„Orkanartige Böen und Starkregen“ wurden im Wetterbericht avisiert. Noch ist davon nichts zu spüren.

 

Angewidert starrt Antonia auf die Plastiktüte, die der kleine Terrier stolz hinter sich her schleppt. Zu gern buddelt er irgendwelchen Kram aus und apportiert ihn. Bislang war dieser schmale Waldweg kein Problem. Kondome, Kleenextücher und zerbrochene Flaschen findet man eigentlich nur in der Nähe der Parkbucht. Dass jetzt schon Müll mitten im Wäldchen liegt, ist ihr neu.

 

Vielleicht sollte sie die Gemeindeverwaltung ansprechen? Aber wozu?

„Eine wenig frequentierte Landstraße zwischen zwei wichtigen Autobahnen, da bleibt das nicht aus“, wird dort seit Jahren argumentiert.

 

„Nu‘ lass das olle Ding und komm weiter“, ermuntert sie Benni und zieht die Flexleine an. Der Hund gehorcht zwar, zerrt aber seinen Fund weiter hinter sich her. Terriermix eben. Antonia mag die eklige Tüte nicht ohne Handschuhe anfassen. Wer weiß, was darin ist? Irgendwann wird sie ihm schon zu schwer werden. Sie beschleunigt das Tempo. Benni hält mit – inklusive Beute. Bis zu Hause.

 

„Nee, also wirklich, pfui nun aber!“, schimpft Antonia ziemlich ernsthaft und bietet ein Leckerli-Tauschgeschäft an. Auf Bennis Bestechlichkeit ist Verlass! Sie sperrt ihn ins Haus, schnappt sich ihre Gartenhandschuhe und hätte die Tüte in den Restmüll werfen können. Hätte! Denn so ganz unbeschadet hatte diese den langen Weg doch nicht überstanden. Mitten im Schwung reißt sie, und es fallen Geldscheine heraus. Massenhaft lilafarbene, gelbliche und grüne.

 

Ein Lüftchen droht, sie zu verwehen. Reflexhaft fällt Antonia auf die Knie und kratzt die Scheine eiligst zusammen. Nicht ein einziger soll entkommen! Mit ihrer Jacke deckt sie den Haufen provisorisch ab, sichert ihn noch schnell mit ihren Schuhen, hastet in die Garage, wuchtet den 10-Kilo-Sack Rasensaat in die Schubkarre und fährt zu den Mülltonnen. Erst der Sack auf die Jacke und die Schuhe, dann die umgestülpte Karre darüber. Geschafft! Nichts kann jetzt mehr wegfliegen! Alles ist in Sicherheit! Die Tüte fängt sie gerade noch ein, ab damit in die gelbe Tonne.

 

Erschöpft plumpst Antonia auf einen Küchenstuhl, bemerkt erst jetzt, dass sie keine Schuhe trägt. Also hat sie das Ganze doch nicht geträumt? Mindestens eine Million Euro liegt da neben der Mülltonne. Unwirklich, sehr unwirklich das Ganze.

 

„Ich rauche ja eigentlich nicht mehr, aber das ist ein Notfall“, erklärt sie dem schlafenden Hund und kramt aus dem Karton mit Schuhputzzeug eine ziemlich leere Schachtel Zigaretten, Aschenbecher und Feuerzeug hervor. Ausnahmsweise kann sie sogar in der Küche rauchen. Tommi ist wieder mal eine Woche auf Fortbildung und die Kinder sind selten daheim. Nur sie hält hier die Stellung.

 

Ein tiefer, tiefer Zug! Antonia wird schwindelig davon. Eine Million Euro! Mindestens! Sie sieht Sternchen vom Nikotin. Es gibt so viel, was sie sich wünscht und was dringend nötig ist:

 

„Das Dach, vielleicht sogar mit Solaranlage. Und eine neue Heizung und Wärmedämmung.

Eine neue Couchgarnitur und überhaupt: Neue Möbel! Die Küche! Dieses elendig altrosa-mintgrün-hellblau geflieste Bad!

Kreditwürdig? Die Bank lacht sich tot! Weder für das Haus noch für ein neues, gebrauchtes Auto, das Tommi so dringend benötigt, um zu den ewigen Fortbildungen zu fahren.

Und schon gar nicht für Urlaub. Ein richtig schöner Urlaub wie in den Zeitungen. Malediven, Mauritius oder so. Mit „M“ jedenfalls. Blaues Meer, Palmen, Sonne, heller Strand, gut aussehende Menschen …“

 

Ungläubig starrt Antonia auf die leere Schachtel. Sie hat alle vier Zigaretten geraucht! Sie setzt Kaffee auf und holt eine volle Schachtel aus dem Schlafzimmerschrank, hinter den Bettlaken hat sie ein kleines Depot.

 

Der heiße Kaffee wirkt sofort.

„Nein! Die Nachbarn wittern doch sofort Unrat und tratschen. Die wissen genau, dass wir nur das marode Haus geerbt haben und nichts sonst. Wie sollen wir die Renovierung und das neue Auto erklären?

Lotto? Alle wissen, dass wir kein Lotto spielen. Wir sind ja nicht mal im Sparverein.

Spielbank? Das nun schon gar nicht.

Die werden glauben, wir hätten eine Bank ausgeraubt!

Oh Gott, wem gehört das Geld überhaupt?“

 

Kaffee und Zigaretten jagen Antonias Gedanken: Lösegeld, Gangsterbeute, Drogenmafia, Mädchenhandel.

„Die wissen bestimmt, dass ich mit Benni dort spazierengehe. Und sie werden mir drohen, Bennilein vielleicht sogar vergiften! Und Tommi und die Kinder sind dann auch nicht mehr sicher!“

 

Schweißnass und atemlos greift sie zum Telefon. Polizei anrufen! Sofort aber sinkt ihre Hand zurück. Geht nicht. Benni und sie haben einen Tatort verunreinigt und einen Haufen fremdes Geld gestohlen! Außerdem hat Benni mit der Tüte eine lange Spur gelegt, die jeder Polizeihund leicht finden kann.

 

Kalter, nasser Waschlappen auf die Stirn, auf den Nacken, hinter die Ohren! Immer wieder. Klaren Kopf bekommen.

 

Es gibt nur Eines: Das Geld muss zurück – inklusive Tüte.

 

Antonia überdenkt ihren Entschluss gründlich, zieht die Gartenhandschuhe wieder an, packt fast alles zusammen und überrascht Benni mit einem weiteren Spaziergang.

 

Der Wind nimmt merklich zu, und es beginnt zu regnen. Die beiden kämpfen sich durch das schlechte Wetter bis zur Fundstelle. Dort lässt Antonia die kaputte Plastiktüte fliegen und einen großen Teil der Geldscheine auch.

 

Die ganze Nacht stürmt es heftig und gießt wie aus Kübeln. Antonia schläft tief und fest. Benni auch – ausnahmsweise auf dem Bett. Wer auch immer sich am Rest bedienen wird, Antonia hat ein reines Gewissen und ihre Depots für Notfälle.

 

Version 3