Von Ingo Pietsch

Die Parkallee war einer der schönsten Straßen der Stadt.

Stattliche Ahornbäume säumten beide Seiten der verkehrsberuhigten Straße im Herzen der City.

Bertram Schmidt wohnte hier mit seiner Frau Ursula seit über vierzig Jahren.

Sie besaßen einen hübschen Bungalow mit gepflegtem Garten.

Bertram Schmidt war ein pensionierter Polizist. Und ein penibler dazu. Wie im Dienst, so war er auch zuhause: Ordnung musste sein!

Mit Veränderungen kam er nur schwer zurecht. Und das spiegelte sich auch in seinem Gesicht wieder. Tiefe Sorgen- und Zornfalten bildeten ein regelrechtes Gebirge auf seiner Stirn.

Es gab zwei Dinge, über die er sich permanent aufregte.

Zum einen waren es die Ahornbäume. Er hatte nichts an sich gegen die Bäume. Spendeten sie doch im Sommer Schatten und waren im Spätsommer eine reine Augenweide mit ihren bunten Blättern.

Und genau diese Blätter brachten Bertram zum Haare raufen. Gefühlt sammelten sich die Blätter aller Bäume der Straße im Herbst in seiner Einfahrt. Und er war für die Entsorgung selbst zuständig, da sie auf seinem Grundstück lagen.

Ursula fand das gar nicht schlimm. Und meinte, die Bewegung an der frischen Luft würde ihm guttun.

Seine Frau brachte viel Verständnis für Bertram auf. Waren es im Herbst die Blätter, störten ihn im Sommer die quakenden Frösche im Teich des Nachbarn. Auch Ursula fand sie sehr nervtötend.

Bertram hatte etliche Briefe an den Bürgermeister geschrieben, der übrigens ein guter Freund von ihm war und sogar die restliche Nachbarschaft auf seine Seite gebracht, bis der Teich zugeschüttet werden musste.

Das zweite große Ärgernis war die Umwandlung der Allee in eine verkehrsberuhigte Zone gewesen.

Die Stadt hatte die Parkplätze durch Grünflächen und durch auf die Fahrbahn aufgemalten Buchten ersetzt. Natürlich durften die optisch nicht sonderlich ansprechenden bepflanzten Betonkübel nicht fehlen.

Bertram regte sich jedes Mal über seine verschandelte Straße auf und dass dieses Slalomgefahre an seinen Nerven zerrte.

Ursula meinte immer, dass es Schlimmeres gäbe und dass damit vielleicht viele Unfälle mit Kindern vorgebeugt werden würde.

Bertram entgegnete ihr, dass es sich ja gar nicht mehr lohnen würde ein Auto mit vielen PS zu kaufen, weil man es ja sowieso nirgends ausfahren könnte. Und die Kinder störten ihn kaum weniger. Und wenn jetzt ein Möbelwagen hier parken würde, gebe es gar kein Durchkommen mehr. Dann müsste man einen riesen Umweg auf der Parallelstraße fahren und da gab es zusätzlich noch diese Römerkissen.

 

Und eines Tages stand dort tatsächlich der prophezeite Möbelwagen. Genau gegenüber seiner Einfahrt. Und der brachte das Fass zum Überlaufen.

Vergessen waren all die Unannehmlichkeiten. Ab diesem Zeitpunkt konzentrierte sich Bertram Schmidt nur noch auf die neuen Nachbarn, die gegenüber am Einziehen waren.

 

„Ursula, komm mal ans Fenster!“, Bertram war gerade vom Laubharken ins Haus gekommen, stand nun in der Küche und bekam seinen Mund nicht wieder zu.

Ursula stand vom Küchentisch auf und gesellte sich zu ihrem Mann.

„Ist da wieder dieses angeblich tollwütige Eichhörnchen, das jede deiner Bewegung verfolgt?“

„Quatsch, das ist Geschichte. Das habe ich gestern bei einer Spazierfahrt erledigt.“ Bertram hatte sich erst neulich von seiner A-Klasse getrennt und sich einen SUV gegönnt. Eigentlich hatte er nur beweisen wollen, dass durch die verkehrsberuhigten Maßnahmen die Straße einfach viel zu eng geworden war.

„Da steht auf einmal ein Möbelwagen genau gegenüber unserer Einfahrt. Der hat da gerade eben noch nicht gestanden! Wie komme ich denn jetzt vom Hof?“

„Willst du jetzt weg?“, fragte Ursula. „Außerdem ist da noch genug Platz. Der LKW steht ja halb auf dem Grünstreifen. Das dürfte für dich geübten Autofahrer kein Problem sein.“

Bertram hob eine Augenbraue, denn das konnte er gut.

„Ach, das sind übrigens die Lehmanns. Die haben sich gestern vorgestellt und gefragt, ob es in Ordnung wäre, wenn sie für ein paar Stunden da stehen würden.“

„Und das hast es du ihnen natürlich erlaubt“, gab Bertram überzogen zurück. „Ich hätte auf jeden Fall Nein gesagt. Was wirft das jetzt für ein Licht auf mich?“

„Du könntest ruhig ein bisschen netter zu unseren Nachbarn sein. Ist dir schon mal aufgefallen, dass wir in den letzten Jahren kaum noch irgendwo eingeladen waren?“

„Ich möchte ja auch nicht beliebt sein, sondern geachtet werden.“

Ursula schüttelte den Kopf. „Ach, nur um dich zu warnen, die haben fünf Kinder.“ Mit einem Grinsen wollte sie sich aus der Küche schleichen.

„Na toll. Dann sind die bestimmt solche religiösen Spinner und stehen morgen mit ihrer Kirchenzeitung vor unserer Haustür.“

„Jetzt reg dich doch nicht so auf. Vor gar nicht allzu langer Zeit waren alle Südländer mit Bart Terroristen.“

„Sind sie immer noch“, nuschelte Bertram. „Ich rufe jetzt bei der Stadt an, damit die was gegen diese wilde Parkerei unternehmen.

 

Das Gespräch mit dem zuständigen Mitarbeiter dauert eine geschlagene halbe Stunde. Wobei Bertram dem armen Menschen am anderen Ende des Telefons kaum mehr als ein paar „Jas“, „Neins“, „Wir kümmern uns noch heute darum“ und gelegentlichem Luftholen zuließ.

Wütend drückte er die Hörer-Taste und griff nach seiner Jacke. „Ich fahre jetzt Minigolf-Spielen. Und wenn ich wieder zurück bin, sind die da verschwunden.“

Er knallte die Tür hinter sich zu, dass die Teller in der Vitrine wackelten.

Ursula war ihm gefolgt und stand in der Haustür mit verschränkten Armen. Sie kannte ihren Mann ganz genau. Er würde sich so lange in die Sache hineinsteigern, bis sie zu seinen Gunsten entschieden war,

Nachdem er seinen Wagen zweimal hintereinander abgewürgt hatte, setzte er seine Sonnenbrille auf, obwohl es bewölkt war.

Bertram fuhr das Fenster herunter und blökte seine Frau an: „Hast du nichts zu tun?“

Ruhig erwiderte sie: „Ich will nur nicht, dass dir was passiert. Ich werde einen Kuchen backen.“

Er lächelte sie liebevoll an.

„Für die neuen Nachbarn“, ergänzte sie.

Bertram fletschte die Zähne und schaltete NDR 1 ein.

Mit quietschenden Reifen fuhr er bis an den Bürgersteig und dann gekünstelt langsam am Umzugswagen vorbei, trotzdem zwei Autos von der Sorte, die Bertram fuhr, dort Platz gehabt hätten.

Die Lehmanns winkten ihm freundlich zu.

Bertram antwortete mit der vollen Lautstärke seines Lieblingsradiosenders und raste in einer Staub- und Laubwolke davon.

 

Als Bertram zurückkam, hatte er sich ein wenig beruhigt.

Er fuhr in gemächlichem Tempo und mit leiser Musik auf sein Haus zu. Der Möbelwagen war weg.

Doch was musste er da jetzt sehen?

Da standen die Lehmanns mit versammelter Mannschaft mit Rechen bewaffnet und harkten einen riesigen Haufen Laub zusammen – genau gegenüber seiner Einfahrt und halb auf der Straße!

Bertram kniff die Augen zusammen: Seine Ursula stand ebenfalls mit einem Rechen dabei! Und sie schienen alle zusammen Spaß zu haben!

„Diese Verräterin!“, dachte er und gab Gas.

Hupend und mit Lichtzeichen raste er auf den Haufen zu.

Alle riefen ihm etwas zu und winkten abwehrend mit den Händen.

Mit beherzten Sprüngen brachten sie sich in Sicherheit.

Bertrams Hände verkrampften sich ins Lenkrad und er hatte Schaum vor dem Mund.

Der Haufen kam näher und …

 

… Bertram erwachte aus einem Alptraum.

Ihm brummte der Schädel.

„Bertram, bist du wach?“, Ursula hatte ihm die Hand gehalten.

„Ja“, knurrte er. „Wo bin ich?“

„Im Krankenhaus.“

„Warum? Hatte ich einen Herzinfarkt? Die neuen Nachbarn haben mich ja so aufgeregt!“, wollte er wissen.

„Erinnerst du dich noch an den Laubhaufen?“ Ursula überging die Bermerkung.

„Ja, das große Ding, bei dem du auch noch mitgeholfen hast. Ein Windstoß und die ganzen Blätter hätten wieder in unserer Einfahrt gelegen.“

„Wir wollten dir damit eigentlich eine Überraschung bereiten.“

„Das ist ja toll. Aber warum bin ich dann im Krankenhaus?“, Bertram hatte sich aufgesetzt.

„Während du zum Minigolf gefahren bist, war das Städtische Baumamt hier und hat gegenüber unserer Einfahrt einen schweren Holzpoller auf die Wiese gesetzt, damit dort niemand mehr parken kann.“

Bertram versank vor Scham unter seiner Bettdecke.

Gedämpft hörte er:„Und wir haben ihn mit Blättern zugedeckt, damit wir dich überraschen können. Das Auto ist übrigens Totalschaden und du hast Glück, dass du noch lebst.“

Bertram war wieder aufgetaucht. „Bring mir sofort ein Telefon.“

Ursula war fast sprachlos: „Willst du dich bei den Lehmanns entschuldigen?“

„Nein, ich will mich beim Bauamt beschweren. Diese Poller sind ja lebensgefährlich!“