Von Uta Lemke
„Willkommen bei dem dieswöchigen Treffen der anonymen Wutbürger.“, sagt Sindy und blickt forschend in die Runde. Anonyme Wutbürger, denke ich. Dass ich nicht lache. Diese Veranstaltung ist alles, aber nicht anonym. Glauben die echt, ich sehe nicht die versteckte Kamera hinter der unschuldig aussehenden Zimmerpflanze? Und gehen die ernsthaft davon aus, dass niemand hier im Kurs ahnt, dass Sindy keine Therapeutenausbildung hinter sich hat, sondern ein Spezialtraining der Regierung, wie man mit nicht systemkonformen Bürgen umgeht, und jedes kritische Wörtchen gleich ihren Vorgesetzten meldet?
Denn in unserem System darf niemand wütend sein. Wir sollen glücklich sein, schließlich geht es uns sowohl gesundheitlich, als auch wirtschaftlich so gut wie noch nie, was könnte es da für einen Anlass geben, mit dem System unzufrieden zu sein? Wir leben doch alle so wunderbar harmonisch zusammen. Alles ist sicher, alles ist gut, kein Grund zur Sorge, erst recht nicht zur Wut.
Als würden wir uns nicht erinnern. Als wüssten wir nicht, dass unser Frieden auf dem Blut anderer beruht. Als hätten wir keinen Schimmer davon, wie sehr sie uns kontrollieren, nur damit wir nicht über den Tellerrand sehen, damit wir nicht bemerken, dass unser Wohlstand nicht einfach vom Himmel gefallen ist.
Gut, ich muss zugeben, bei den meisten Menschen scheint es zu wirken. Sie interessieren sich schlicht nicht, um die Missstände um sich herum. Leben Tag für Tag ihr kleines, langweiliges Leben voller bunter Unterhaltungsmedien und dieser kleinen unscheinbaren Pillen, die sie jeden Morgen schön brav schlucken. „Zur Beruhigung“, sagen sie. Als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt, als ihren leicht erhöhten Blutzucker nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. „Es ist doch alles nur für unser Wohl“, sagen sie, wenn ich sie mit leichter Beunruhigung in der Stimme darauf hinweise, dass in jeden ihrer privaten Zimmer mittlerweile eine öffentlich zugreifbare Überwachungseinrichtung installiert ist.
Und wenn ich dann anfange, mich darüber aufzuregen, dass sie das alles einfach mit sich machen lassen, dass sie die immer strengeren Anweisungen unserer nahezu unsichtbaren Regierung ohne Hinterfragen befolgen, dass ihnen nichts mehr wichtig, nichts mehr heilig zu sein scheint, abgesehen von ihren kleinen Erfolgen in Karriere und Fitness, dann gucken sie nur besorgt um sich und flüstern: „Schhht, reg‘ dich doch nicht immer so auf.“
Aber wirklich ernstnehmen tut uns keiner, uns „Wutbürger“. Stempeln uns wahlweise als verrückt, passiv-aggressiv oder ernsthaft psychisch krank ab. Wir kommen in merkwürdig unbekannte Einrichtungen mit kalten weißen Wänden oder in meinem Fall mit etwas „Glück“ in eine Selbsthilfegruppe mit lächerlich inakkuratem Namen.
Ja, ich gebe zu, er hört sich auf den ersten Blick alles sehr positiv an. Sie möchten ein glückliches Volk, das jeden Tag mit einem strahlenden Lächeln beginnt und mit einem zufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht einschläft. Ein friedliches Volk. Menschen, die nicht rebellieren, die nicht zerstören, die sich nicht aufregen.
Produktive Menschen, gesunde Menschen, sowohl physisch, als auch psychisch. Vorbei seien die Zeiten, in denen menschliches Leben nur aus Qual und Schmerzen bestehen konnte. Wo diese Menschen sind, die nur vor sich hinvegetiert sind? Niemand weiß es so genau…
Und genau das mache ich ihnen zum Vorwurf. Es ist mir vollkommen egal, wie gut ihre Absichten sein mögen, aber fest steht, dass es Menschen gibt, die sie nicht nur von der Gesellschaft ausschließen, sondern auch noch auf mysteriöse Weise vom Erdboden verschwinden lassen.
All ihr Gutzureden, oder wie ich es nenne „schamlose Propaganda“, all das kann mich nicht von dem Fakt ablenken, dass ihr System scheinbar so schlecht ist, dass sie ihre Bürger mit putzigen kleinen Pillchen dazu zwingen müssen, es zu mögen. Sie müssen uns tagtäglich daran erinnern, wie gut wir es haben, damit wir es überhaupt wissen. Sie können keine Widerrede zulassen, weil diese Kritik ihr Fundament im Nu ins Wanken bringen würde. Sie können nichts riskieren. Deshalb sitzen wir hier. Wo uns niemand schreien hört. Weil uns niemand hören will.
Langsam dringt es zu mir durch. Mein Name. Meine Augen fokussieren sich wieder und blicken in das vorwurfsvolle Gesicht Sindys. „Na, bist du wieder bei uns?“, fragt sie mit diesem leicht zynischen Unterton, der mir signalisieren soll, wie unerwünscht ich bin. Ich starre sie nur wortlos an. „Du bist dran. Erzähl uns, welche Beruhigungsstrategien du in der letzten Woche gelernt hast.“
Ich blicke sie leicht fassungslos an. „Beruhigungsstragien?“, kommt es aus meinem Mund. „Beruhigung?“ „Ja, das war die Aufgabe des Treffens der letzten Woche.“, antwortet Sindy noch etwas ungehaltener als zuvor. „Ich weiß“, sage ich. „Aber das heißt noch lange nicht, dass ich das auch gemacht habe. Warum sollte ich etwas freiwillig tun, was entgegen meiner Grundüberzeugung ist? Ich bin ja nicht ohne Grund beunruhigt.“
Sindy lacht nur leise. „Du solltest doch mittlerweile gelernt haben, dass es nichts bringt. Das Beste, was du für dich und deine Umwelt tun kannst, ist doch, ein wenig runterzukommen. Ich weiß, das ist nicht einfach, aber du musst es immer wieder versuchen.“
„Aber warum?“, sage ich und fühle mich auf einmal ziemlich mutig. „Was soll es bringen, wenn ich mich einreihe in die Schlange der Menschen, die nichts sagen? Wenn ich einfach die Augen verschließe vor dem Unrecht, was nicht nur jenseits unserer Landesgrenzte geschieht? Was bringt mir oder der Gesellschaft ein weiterer ignoranter Mensch? Ich weiß, ich bin ja nicht hier, um mich aufzuregen. Sagst du. Aber du müsstest genauso gut wie ich wissen, dass es nicht ohne Grund ist. Freie Meinungsäußerung ist ein Menschenrecht. Genauso wie der Schutz der Privatsphäre. Und das Verbot von Diskriminierung.“
„Moment, Moment“, unterbricht mich ein anderes Mitglied. „Wer wird denn hier diskriminiert?“
„Die, von denen wir nichts hören“, meine Stimme wird ein wenig brüchig. „Die, die nicht Teil unserer heilen Welt sind. Die, die wir außen vor lassen, die, die einfach so verschwinden, ohne dass wir etwas von ihnen hören. Wo sind sie, die Kranken, die Armen, die Andersaussehenden? Erzählt mir keinen Stuss, ich weiß, dass sie existieren. Oder sollte ich besser sagen, existierten? Nicht nur, dass sie uns manipulieren bis zum Gehtnichtmehr, nein, sie greifen auch zu härteren Mitteln, damit alles schön in ihr tolles Weltbild passt. Damit wir alle in Friede, Freude, Eierkuchen leben bis an das Ende unserer Zeiten. Ja nicht hinterfragen, ja nicht nachdenken, dann könnten wir ja merken, wie fragil das Ganze ist. Wie zerbrechlich unsere ach so stabile innere Sicherheit. Wie verletzlich der Frieden unserer ach so harmonischen Gesellschaft. Wie oft müssen wir die unbequeme Wahrheit noch hören, bis wir endlich einsehen, dass es das perfekte Leben, das perfekte System, die perfekte Welt schlicht nicht gibt?
Sie erzählen uns ihre dreisten Lügen, Tag für Tag, und was tun wir? Wir hören ihnen nicht nur ohne Widerspruch zu, nein, wir fügen uns ihnen auch noch. Wir machen sie zu einem Teil unserer Lebenswahrheit, weil es so viel bequemer ist als die Realität.“
Zustimmendes Gemurmel und ein kalkweißes Gesicht mir gegenüber, dass ich kaum noch als Sindy wiedererkenne, so schockiert und beunruhigt sieht es aus, sind die Antwort auf meine hitzige Rede.
Für einen kurzen Moment erlaube ich mir, stolz auf mich zu sein. Noch nie habe ich es geschafft, vor so vielen Leuten meine Meinung kundzutun. Hier habe ich mich immer zurückgehalten. Habe Reden dieser Art nur für meinen engsten Freunden und Familienmitgliedern in den abgelegensten Waldstücken gehalten, in der Angst, die Mächtigen könnten etwas davon mitkriegen. Aber auf einmal interessiert es mich nicht mehr. Und wenn ich nur den knapp 30 Leuten, die mit mir in diesem Treffen sitzen, Mut gemacht habe, den Mund aufzumachen, dann ist das immer noch besser, als all diese Stunden, die ich hier verbringen muss, zu schweigen. Es hat etwas endgültiges, diese kleine wütende Rede, merke ich. So, als wäre ich mir irgendwie bewusst, dass es vorbei ist. Als würde ich ihre Gewehre schon in meinem Nacken spüren. Von dieser plötzlichen Klarheit erfüllt rede ich weiter, sicher, dass es mir den Kopf kosten wird.
„Ich weiß, dass ihr, die ihr euch hinter den kalten Augen der Überwachungskameras versteckt, das hier hört. Dreht eure Lautsprecher auf und hört euch zumindest an, was ich zu sagen habe. Ich weiß, ihr denkt, ich bin nur ein kleiner unscheinbarer Mensch in einem großen, mächtigen System, in dem ich eh nichts ausrichten kann. Aber ihr irrt euch, und wie ihr euch irrt. Ich mag nur ein kleines Sandkorn im Getriebe sein, aber ich bin nur ein Mensch von vielen. Euer Sytstem wird genauso wenig wie irgendein anderes totalitätes Regime ewig andauern. Ihr glaubt, ihr habt sie alle im Griff mit euren ach so manipulativen und ausgeklügelten Mechanismen, aber das ist genauso ein beruhigendes Märchen zum Einschlafen, wie das was sich die Menschen in euerm Land jede Nacht erzählen, wenn sie glauben, dass es doch allen gut geht in diesem System.
Genauso wie sich das Gras seinen Weg durch den Asphalt bohrt und damit die Straßen zurückerobert, werden auch einzelne Menschen wie ich dafür sorgen, dass sich das Volk sein Land zurückerobert. Und auch wenn die nachfolgende Gesellschaft noch so brutal und ungerecht sein mag, ist sie doch meilenweit besser als ein System, was auf kompletter Überwachung und Manipulation beruht. Man kann Menschen zu ihrem Glück nicht zwingen, hat euch das nie jemand beigebracht? Nicht, weil Menschen zu doof sind, um die Chance auf ihr eigenes Glück zu ergreifen, sondern weil erzwungenes Glück kein Glück mehr ist.“
Kaum habe ich diese letzen Worte ausgerufen, schon spüre ich starke Hände, die mich an den Armen packen und zur Tür hinausschleifen. Und wenn ich dann noch einmal den Blick in die Runde werfe und ein letztes mal lächle, dann ist das Lächeln kein Zeichen der Systemkonformität, sondern ein Zeichen von Triumph.