Von Anne Zeisig

Henriette streift mit den Handflächen liebevoll über die gestärkte und gebügelte weiße Damasttischdecke, welche sie gerade auf den Esstisch gelegt hat und stellt das Kaffeeporzellan mit dem Goldrand darauf. Selbstverständlich achtet sie genau darauf, dass Service und Besteck den gleichen Abstand zur Tischkante haben und alles einheitlich in Reih und Glied eingedeckt ist.

Sie entfernt sich ein wenig von der Tafel, kneift die Augen zusammen, legt ihren Kopf nach links, dann nach rechts und beäugt alles aus leichter Entfernung. 

 

„Du erwartest Gäste zum Kaffee?“, fragt Herbert, der in seinem Lieblingssessel sitzt und Kreuzworträtsel löst, um sich die Zeit bis zur Sportschau zu vertreiben.

 

„Hm.“

 

Es fehlen noch die Stoffservietten, welche sie kunstvoll zu einem Fächer faltet und auf die Kuchenteller platziert.

 

„Freundinnen vom Kirchenkreis?“ 

 

„Zwei neue sind dabei.“  Sie rückt zurecht, was ihrer Meinung nach noch nicht am rechten Fleck steht. „Sie singen gerne mit uns gemeinsam.“

 

„Kenne ich die?“

 

„Nein.“

 

Herbert blickt auf und lächelt leicht. „Du und deine ‘heiligen’ Kirchenfrauen!“ Er wendet sich wieder der Zeitschrift zu. „Wenn ihr nicht aufpasst, wächst euch noch der katholische Heiligenschein über der Dauerwelle.“

 

Sie kichert.

 

„Und was gibt es für einen Kuchen?“

 

„Deutschen-Gedeckten-Apfelkuchen.“

 

„Der mit dem Schweineschmalz im Teig? Rezept von meiner Mutter?“ 

 

Seine Frau stottert: „Schwein? Nein. Diesmal nicht. Aber mit Butter!“

 

Er blickt auf. „Hm. Mit guter Butter! Gab‘s den schonmal?“

 

„Kann sein, Herbert.“ Sie wischt sich ihre Hände an der Kittelschürze ab. „Ich backe ja oft.“

 

„Du backst viel für den Kirchen-Basar, Henriette!“ Er bläht die Altherrenbrust auf. „Das ist gut! Auf die deutsche, christliche Tradition ist Verlass. DAS versinnbildlicht schließlich unsere Kultur!“

 

Sie zupft an ihrem Dutt. „Christen sind auch weltoffen. Wir singen ja keine Choräle, Herbert.“

 

Ihr Mann wechselt unvermittelt das Thema.

„Wie viele Jahre wohnen wir in dieser EINST gutbürgerlichen Wohnsiedlung?“

 

Sie blickt auf die massive Standuhr. „Fünfzig Jahre.“ Und stutzt. „Aber wie kommst du nun darauf, mich das zu fragen?“

 

„Weil wir kaum Nachbarn haben, mit denen wir uns unterhalten können! Da stößt die Weltoffenheit nämlich an ihre Grenze! Wir wissen nicht, was in deren Köpfen vor sich geht an verquerem Denken! Unserer Sprache sind diese sogenannten Nachbarn nicht mächtig.“

 

Henriette sinkt auf einen der Esstisch-Stühle. „Da hast du recht. Jedoch ist es nur eine Frage der Zeit, wann die Deutsch gelernt haben. So schnell geht das nicht.“

 

Unvermittelt steht Herbert auf und läuft im Wohnraum auf und ab wie ein eingesperrtes Raubtier. „Wie naiv du bist! Ich habe über vierzig Jahre hart am Fließband geschuftet und unsere Familie ernährt. Habe unserem Staat nie auf der Tasche gelegen! Du hast in der Bäckerei gearbeitet! Trotz der beiden Kinder!“

Er rennt weiterhin wie ein gehetztes Tier im auf und ab: „Und Kindergeld gab es erst ab dem dritten Kind!“

 

„Ja Herbert! Aber die Zeiten haben sich nunmal geändert.“

 

Er hört nicht hin. Ballt seine Fäuste.

„Und als ich in den Siebzigern über ein Jahr arbeitslos war? WAS habe ich da bekommen an Arbeitslosenhilfe? Fast nichts! Weil unsere Ersparnisse und dein Lohn als Einkommen angerechnet wurden!“

Herbert fällt in seinen Sessel.

„Und heute beschweren sie sich über diese sogenannten Bedarfsgemeinschaften bei Hartz Vier!“

 

Henriette kraust ihre Stirn. „Jede Generation hat ihre Last zu tragen.“

 

„Frau! WIR haben uns vor dem Standesamt per rechtmäßiger Unterschrift zu unserer Liebe bekannt! Eine deutsche Ehe mit deutschen Nachbarn! Und ehelich gezeugten Kindern!

Und die kommen nun übers Mittelmeer zu uns und haben keine gültigen Ausweise! Als wir das Aufgebot bestellen wollten und du hattest das Stammbuch deiner Eltern nicht, weil es in Oberschlesien während des Krieges auf der Flucht verlorengegangen war, konnten wir da heiraten?“

 

Herbert schnappt nach Luft wie ein Fisch, der hilflos an der Angel hängt.

 

Er geht in die Küche und holt sich aus dem Kühlschrank eine Flasche Bier. „Es hatte ein halbes Jahr gedauert, bis die Unterlagen hier waren!“ Und kehrt zurück in den Wohnraum.

 

„Deshalb ist Anna-Margaretha auch unehelich geboren worden!“ Maria wischt sich mit dem Stofftaschentuch, welches sie aus der Tasche ihrer Kittelschürze zieht, eine Träne aus den Augen.

„Mein Gott! Was habe ich mich vor der Hebamme geschämt! Weil wir ja offiziell nicht als verheiratet galten.“

 

„DIE schämen sich heutzutage wegen nichts! Wer so viel Geld für den Fluchtschlepper ausgeben kann, der hat noch einiges in der Heimat auf dem Konto! Aber hier Existenzminimum beantragen! Wie frech ist das denn! Nichts gegen Kriegsflüchtlinge, aber alles hat Grenzen! Die Armen können nicht fliehen und desertieren, die verteidigen ihr Land.“

 

„Du hast doch damals auch deinen Wehrdienst absolviert, Herbert, und dein Vater ist im Krieg gefallen. Da hat auch keiner danach gefragt, wie es dir und deiner Mutter auf der Flucht ergangen ist.“

 

„Genau das ist der Punkt! Die schicken ihre jungen Männer hier her, anstatt dass die in der Heimat Frauen und Kinder verteidigen! Ich habe ja nichts gegen Flüchtlinge, aber ich habe was gegen feige Kriegs-Verweigerer! Mein Vater konnte auch nicht Neinsagen, den hätten sie an die Wand gestellt und abgeknallt!“

 

„Aber man muss auch an die Kinder denken!“ Henriette stöhnt leise. „Und ihre Mütter. Die Zeiten sind anders!“, jault sie gequält und zuppelt an dem Taschentuch. „Da schlagen zwei Herzen in meiner Brust.“

 

Ihr Mann schüttelt den Kopf: „Die Österreichter und Polen machen das richtig! Grenzen dicht. Austria first, Polska first! Aber die wollen eh alle nach Germany, weil es bei uns die soziale Merkel-Hängematte gibt, in die sich jeder Terrorist reinlegen darf!“

 

„Der Jussuf aus dem Erdgeschoss hat eine Hängematte zwischen den Apfelbäumen gehängt. Für die Kinder“, versucht Henriette, das Thema ins Positive zu wandeln und lacht. „Ist das nicht schön?“

 

Ihr Mann winkt ab und nimmt einen Schluck aus der Bierflasche. Hat längst einen neuen Gedanken im Sinn: „Du und dein Optimismus. Aber warum, glaubst du, sind unsere Renten wohl so gering?“

 

Was soll seine Frau ihm antworten? Sie blickt auf die Uhr. Gleich kommen ihre Gäste. Herbert gibt ihr die Antwort.

 

„Die brauchen das Geld für die Asylanten! Für die Kriegsverweigerer! Für die, die ihr Land nicht verteidigen wollen!“

 

Herbert geht in die Küche, um sich ein weiteres Bier zu holen und keift: „Ich jedenfalls habe mich bewaffnet! Habe ein recht auf den ‘Kleinen Waffenschein’ für Gas- und Schreckschusspistolen, damit ich dich beschützen kann, wenn du bei Dunkelheit mit den Einkäufen von ALDI nach Hause gehst.“

 

„Du besitzt Waffen?“ Sie weitet vor Schreck die Augen. Auf ihrer Stirn bilden sich Schweißperlen.

 

Er stellt sein Getränk auf den Sofatisch. „Genau! Habe ich im Keller deponiert. Denn was nutzt es uns, wenn der Supermarkt bis 21 Uhr geöffnet hat, sich aber keine anständige deutsche Frau mehr auf die Straße traut wie in der Silvesternacht in Köln.“

 

„Ich gehe doch nie an Silvester nach ALDI, da ist mir das viel zu voll!“ Henriette stellt die Gläser für den Eierlikör auf den Kaffeetisch.

„Und meine neuen Freundinnen wollen nur in Frieden leben. Die mögen bestimmt keine Knaller oder Silvsterraketen, weil das unschöne Erinnerungen weckt.“

 

Herbert hört seiner Frau nicht zu, geht abermals in die Küche und kommt mit belegten Broten zurück ins Wohnzimmer und setzt sich an den Esstisch: „Es kommt noch so weit, dass sie uns das Schweinefleisch verbieten, weil WIR uns der fremden Esskultur anpassen müssen.“ 

 

„Aber Herbert! Gleich gibt es doch Kuchen! Du krümelst mir das Tischtuch voll!“

 

Er beißt in sein Wurstbrot und verzieht das Gesicht. „Was ist das denn für eine Wurst?“

 

„Eine türkische Knoblauchwurst, ähnlich unserer Mettwurst“, antwortet seine Frau, „aber wesentlich aromatischer. Die tue ich auch immer in den Eintopf hinein. Ein Tipp von Jussufs Frau.“ 

 

„ICH ESSE KEINE TÜRKISCHE WURST !!!“, schreit Herbert, öffnet die Terrassentür und wirft den Teller samt Schnittchen hinaus. „Denn die haben uns den ganzen Moslemscheiß doch eingebrockt! Die und ihre Glaubensbrüderflüchtlinge kosten dem Staat unsägliche Summen! Genau deshalb sind unsere Renten trotz Wirtschaftsboom so niedrig! Ich habe sechsundvierzig Jahre für die Rente geklebt! Und? Was bekomme ich dafür?“ Herbert hechelt. Der Dunst seines warmen Atems verflüchtigt sich in der kalten Dezemberluft.

 

„Eintausendzweihundert Euro plus meine achthundert.“ Sie zieht ihren Mann zurück ins Wohnzimmer.

 

Er schließt die Terrrassentür und setzt sich erschöpft in den Fernsehsessel. „Mehr gestehen sie uns nach der Schufterei nicht zu.“

 

„Bist du dir sicher, dass die Moslems samt Knofi-Wurst schuld sind an unserer Rentenhöhe?“, fragt seine Frau, „denn deine heißgeliebte Salami ist eine italienische Spezialität und die Italiener haben ja wirklich genug Schulden in der EU aufgehäuft.“

 

Herberts Teint läuft rot an. Eher dunkelrot.

 

„Aber Herbert! Beruhige dich doch. Türken und Italiener waren jahrelang deine Arbeitskollegen!“

 

„Ich habe ja auch nichts gegen meine ehemaligen Arbeitskollegen!“, schreit Herbert und schnappt nach Luft, „die kannte ich schließlich, das ist etwas gaaaaaanz anderes!“

 

Henriette atmet auf: „Dann hast du also auch nichts gegen meine beiden neuen Freundinen aus Syrien, die mit ihren Kindern vor den Bomben und dem Entsetzen geflohen sind. Die sind wirklich nett! Sie singen bei uns mit.“

 

Herberts Frau atmet hörbar ein und aus. “Aber das habe ich dir ja längst erzählt. Eine singt sopran, die andere hat eine Altstimme wie ich.“

 

„Was? Die sind aus Syrien?“

 

Herbert steht abrupt auf.

 

Es klingelt.

 

Henriette richtet flink ihre Kittelschürze zurecht: „Aber nun trinken wir erstmal gemütlich Kaffee und essen Deutschen-Gedeckten-Apfelkuchen mit den Gästen.“

 

Ihr Mann flitzt ins Treppenhaus die Treppe hinunter.

 

„Wo willst du hin?“, hallt ihre Frage durchs Treppenhaus. 

 

„In den Keller!“

 

„In den Keller? Aber warum das denn?“

 

 

ENDfassung