Von Gerhard Schönbeck

Es ist Zeit für dich.

 

Hatte er da gerade eine Stimme gehört?

 

Ja, ich spreche mit dir. Komm jetzt.

 

Das  war jetzt nicht wahr. Ruckartig erhob er sich. Die Luft schmeckte mit einem  Mal kühl und ein bisschen modrig. Langsam drehte er den Kopf. Neben ihm hatte sich wie aus dem Nichts eine hochgewachsene Gestalt materialisiert. Schwarzer Kapuzenumhang, eingefallenes, knochiges Gesicht, in der rechten Hand eine gewaltige Sense… Arg klischeebeladen, aber bitte. Er warf einen schnellen Blick in seinen Lehnstuhl, in dem er sich friedlich schlummern sah. Vielleicht nicht ganz so friedlich – sein Gesicht schien etwas verkrampft.

 

Du scheinst ein wenig unsicher.

„Was passiert mit mir?“

Das solltest Du eigentlich am besten wissen.

„Soll das jetzt heißen, ich bin tot? So richtig endgültig? Verstehe ich beim besten Willen nicht. Warum?“

Denk einmal scharf nach. Die Magenschmerzen in der letzten Zeit…

„Das? Aber… So schlimm waren die doch gar nicht.“

Bist du sicher? Immerhin schlimm genug für ein kapitales Magengeschwür.

„Ein Magengeschwür? Wie komme ich an ein Magengeschwür?“

In deinem Bericht  steht, du hättest allen Ärger hinuntergeschluckt, ohne deinen Gefühlen jemals Luft zu machen.

„Bitte? Das kann es jetzt wohl nicht sein. Ich sterbe, weil ich mich nicht aufgeregt habe?!“

Alles klar. Lass es raus.

 

Es schien, als wäre auf einmal ein Damm gebrochen. Und es tat ihm auf eine gewisse Weise gut (sofern dies in seinem derzeitigen Status noch eine relevante Kategorie war).

 

„Das ist jetzt nicht dein Ernst! Ich mühe mich ein halbes Leben ab, mich nur ja nicht zu viel aufzuregen, alles mit stoischer Gelassenheit zu ertragen und dann sterbe ich an einem verdammten Scheißmagengeschwür?! Hast du eine Ahnung, was ich mir alles verkneifen habe müssen? Bei wie vielen Gelegenheiten ich so gerne mal richtig aufgedreht hätte? Und Gelegenheiten hätte es genug gegeben. Genug, sage ich dir!“

 

Er redete sich richtig in Rage und war so wütend, wie er es nie für möglich gehalten hätte.

 

„Aber nein, man ist ja vernünftig und hält sich zurück. Jedes Mal an der Kassa im Supermarkt, wenn wieder so ein hirnverbrannter Idiot minutenlang braucht, um sein Kleingeld herauszufischen. Wenn auf dem Weg zur Arbeit an der Ampel nichts weitergeht und du bei jeder Grünphase eine gefühlte Wagenlänge vorwärtskommst. Wenn du beim Fernsehen nach der Chipstüte greifst, dabei das Bierglas umstößt und beim Versuch, es noch aufzufangen, voll in den Guacamoledip fährst. Ich kann dir gar nicht sagen, wie gern ich manchmal einfach geschrien, geflucht und weiß der Himmel was noch alles hätte. Mensch!“

Warum eigentlich?

„Warum was?“

Warum hast du dich immer zurückgehalten?

„Weil ich gelesen habe, dass übermäßige Aufregung die Herzinfarktgefahr signifikant erhöht. Steht in jeder seriösen wissenschaftlichen Publikation.“

Und hast du auch gelesen, dass das erzwungene Zurückhalten von Ärger zu Magengeschwüren führen kann?

„Nein. Warum sollte ich? Außerdem habe ich das immer für eine reichlich weit hergeholte These gehalten.“

Hm. Und ich nehme an, du warst in den letzten Jahren auch bei keinem Arzt.

„Wozu denn? Es stand ja alles in den Journalen.“

Natürlich, wozu denn.

„Das heißt also jetzt ernsthaft, du nimmst mich mit?“

Tja.

„Ich möchte eine zweite Meinung!“

Gibt’s nicht. Und jetzt komm, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Das heißt, eigentlich schon. Der irdische Zeitbegriff ist für dich momentan außer Kraft gesetzt. Aber es sagt sich so schön.

 

Kaum merkliche Pause.

 

„Aber…“

Nein.

„Aber…“

Was?

Die Stimme des Todes bekam einen leicht angestrengten Unterton.

„Schau mal: ich habe mich doch jetzt aufgeregt. Ich meine, richtig aufgeregt. Oder?“

Kann ich nicht abstreiten. Nun beeil‘ dich aber.

„Moment. Ich möchte dich auf etwas hinweisen.“

 

Hörbares tiefes Durchatmen.

 

Sprich weiter, in Gottes Namen.

„Also: ich habe mich so richtig aufgeregt. Und Aufregung begünstigt Herzinfarkte. Wenn man also die Herzinfarktgefahr auf mein bisheriges Leben aufrechnet und gegen die Magengeschwürgefahr ansetzt, wäre der Risikofaktor des Hinunterschluckens doch quasi eliminiert und wir wären auf null. Ich hätte kein Magengeschwür und wäre konkludenterweise noch am Leben.“

Hm.

„Komm schon! Du hast mich mit deinem Magengeschwür voll auflaufen lassen. Das ist jetzt nur fair.“

Nicht ich habe dich auflaufen lassen. Ich bin nur der Bote, das vergessen die Menschen immer wieder. Na gut. Ich habe so etwas zwar noch nie gemacht, aber dein Argument hat irgendwie Hand und Fuß. Folgendes: ich stelle deinen Lieferschein zurück und ändere den Bericht entsprechend, mit Rückwirkung. Da dein Ablebensvorgang noch nicht vollständig abgeschlossen ist, sollte es gehen.

„Wirklich? Du kannst das einfach so?“

Ich habe vor langem mal die Zugangsdaten zum Zentralsystem bekommen, für den Fall der Fälle. Hat dich aber nicht weiter zu interessieren. Und jetzt schlaf weiter.

 

Er brauchte einen Augenblick, um sich zurechtzufinden, als er die Augen öffnete und sich im Lehnstuhl wiederfand. Nach und nach kam die Erinnerung an die letzten Momente zurück. Hatte er das wirklich erlebt? Es kam ihm seltsam unwirklich vor. Egal, er war noch nie so froh gewesen, am Leben zu sein, wie jetzt.

 

Aber irgendwas stimmte nicht. Die Luft…

 

Es ist Zeit für dich.

Das durfte nicht wahr sein.

„Du? Aber du hast doch…“

Gut, dass du es ansprichst. Lustige Geschichte. Das Magengeschwür war ein Fehler der Redaktion. Aufgrund  deiner Situation hättest du eigentlich gar keines bekommen dürfen. Offensichtlich war die Anspannung bei dir nie so groß, dass sie ein Magengeschwür verursacht hätte. Aber durch die Gegenrechnung deiner Aufregung von vorhin hat sich ein immenser Herzinfarkt ergeben. Hat übrigens einwandfrei funktioniert. Und im System ist jetzt alles richtiggestellt. Ohne meine Intervention wären sie nie auf ihren Fehler gekommen, haben sie gesagt. Ist das nicht großartig?

„Ungemein.“

Und jetzt komm.

 

Hörbares tiefes Durchatmen.

 

„Okay.“