Von Kornelia Wulf

Es klebt unter meinen Fingern. Sie streichen über Holz, über abgeplatzte Lackschichten. Und es stinkt säuerlich, muffig, ein bisschen verdorben. Vielleicht Büßerschweiß. Der Raum um mich herum fühlt sich eng an. Als rückten die Mauern aufeinander zu. Die grau gestrichene Zimmerdecke drückt und vor dem Fenster verharren dicke Regenwolken. Schon seit den frühen Morgenstunden versucht der kaltweiße Schein der Neonröhre, Licht ins Dunkel zu bringen. Sein Räuspern klingt grollend, als Herr Samson vorn am Richtertisch den Startschuss gibt. Noch einmal schiebe ich den Kaugummi in meinem Mund hin und her, dann pappe ich ihn unter die Sitzfläche.

Ein seltsames Jucken beißt mein Handgelenk. Und während ich kratze bis die Haut blutig rot aufspringt, beobachte ich Frau Glauber aus den Augenwinkeln heraus. Sie blättert in meiner Akte, kraust die Stirn. Ihre Ponyspitzen wippen auf dem Hornbrillenrand. Dezent getönt mit einem Mahagonirotstich. Der Kugelschreiber klackert auf die gebleachten Zahnkanten, als Herr Kornitzky sich erhebt. Die Robe hängt wie ein Zelt um seinen dürren Körper. „Wenn ich mit Chilichips vor dem Fernseher abhänge, rennt er seine Runden um den Baggersee“, denke ich, „mindestens drei Mal. Darauf könnte ich wetten.“ Die kelchförmigen Ärmel fallen in seine Armbeugen. Entblößen knochige Handrücken, auf denen sich knorrige Adern wölben. Dann öffnet er den Brustkorb mit einer ausschweifenden Geste. In der Pose eines Dirigenten, der den Takt anschlägt und sein Orchester mit nur einem Streich an sich bannt. „Wie das Bild von Jesus“, der Gedanke schießt durch meinen Kopf, stoppt ohne Vorwarnung und nistet sich ein. Er nimmt Form und Gestalt an, zögerlich, widerstrebend, als sei er überlistet worden. Dann entpixelt sich das Bild, zeichnet klare Farben und Konturen. Ein freundliches Wesen krabbelt aus meiner Erinnerungskiste.

Jesus.

Er breitet die Arme aus wie Kornitzky. Die Augen und Ohren der Jünger hängen an seinen Lippen. Ein Druck aus meiner Kinderbibel auf den schon leicht zerknitterten Seiten. Wenn ich sie umblätterte, blieben meine Fingernägel an den Eselsohren hängen. Zusammen geklebt und mit Popeln gespickt, die mein kleiner Bruder tief in den Klebstoff drückte. Aus Rache, weil ich ihn auf dem Spielplatz stehen ließ. Aus einem gekippten Fenster hinter der Schaukel hallte der Gong der Abendtagesschau achtmal, als die Dunkelheit ihn einschloss. Er schrie und heulte wie ein Riesenbaby. Mamas Bester, nach ihm kommt lange niemand. Wenn ich nicht aufpasse, saugt er sich auch jetzt noch an mir fest, umklammert mich mit seinen Krakenarmen, die nach zu wachsen scheinen, wenn ich ihn weg stoße. Als er an diesem Abend Mamas Brust mit Tintentränen tränkte, prasselten Schimpf und Schande auf meinen Rücken. Und Handkanten trafen meine Stirn. Von Uwe, Mamas Zweitbestem. Seine Mundwinkel tropften, als er auf meine Denke zielte und seinen Arm beim Schlag wie einen Zollstock ausklappte. Uwe, die Lachnummer. Die Billigkopie von Jackie Chan. Er hat er sich eingeschleimt bei Mama. Kübelweise. Ausgenutzt, dass sie Papa hinter her heulte, und ihr dann jede Nacht Zucker ins Ohr gestreut. Nun wälzt er sich in Mamas Laken, kriegt nie genug von ihr. Und wenn ich meine Alarmglocken auf Schlafmodus schalte, vergreift er sich auch an meiner Wäsche.

Jesus schaut mich an, versucht in meinem Geist zu versinken. Er bettet seine Gesichtshälfte in die gehöhlte Hand. Ich fahre die Ellbogen aus, dränge mich vor die Jünger. „Das kannst du dir abschminken Meister“, flüstere ich mit geschlossenen Lippen, „meine Wangen sind tabu!“

Sie hat die Warnung nicht verstanden, zeigt keine Einsicht.“ Kornitzky hebt die Stimme, ich schrecke auf. Er näselt ein bisschen, lässt Worte wie Zuchtmittel und Sühne über seine Zunge rollen. Die Zimmerdecke senkt sich nun, scheint sich zu wölben wie ein konvexe Linse, als wolle sie mich zusammendrücken.

Kornitzky, du alter Schwatzfrosch. Du verstehst es nicht! Es geht um Respekt. Und der fällt nicht vom Himmel in unseren Schoß hinab. Der muss erarbeitet werden, eisern und unerbittlich. Denn wir leben in einem Haifischbecken. Unten krebsen die Opfer, sie wühlen im Müll und Dreck. Nur die Starken schwimmen oben und ziehen ihre Bahnen im Licht. Und wir, Kim, Rihanna und ich, gehören zu den Starken. Ich schwöre! Das weiß jeder auf unserer Straße. Wenn wir das Revier kontrollieren, glotzt keiner auf die Faust Logos, die über unseren Hupen spannen. Die Augendeckel bleiben schön straff gespannt mit Pflastersteinblick. Sightseeing auf Dönerabfall und Hundekacke inklusive. Denn alle kennen hier die Regel. Du sollst Demut zeigen, sonst setzt es Respektschellen.

Nur die Aok Rollatorin, die uns entgegen kam, verweigerte sich. Wich keinen Zentimeter zur Seite.

Ich sehe es noch genau vor mir, wie sie „Freche Gören“, keift, „kennen keinen Anstand. Wohl erzogen mit Samthandschuhen“, etwas von einem „Arbeitslager“ murmelt. Dabei fuchtelt sie mit diesem albernen Schirm vor unserer Nase herum. Gemustert mit einer weißen Katzengarde, die sich wie ein Wachsoldatentrupp rund um den Stock aufreiht. Allzeit bereit, uns die Augen auszukratzen, wenn wir der vergreisten Watschelgans zu nahe kommen.

Und dann regte es sich wieder.

Dieses Ding.

Vielleicht ist es ein Tumor, vielleicht ein Parasit. Es dehnt sich aus in mir, zwingt Rippen und Halsadern auseinander. Bis ich brülle. Keuche. Quillt in Schultern und Armen, lädt meinen Kraftakku auf, bis die Fäuste propellergleich kreisen. Und dann schießt es hoch in meinen Kopf, dimmt das Augenlicht, färbt meinen Blick mit schwarzer Farbe.

Als wir mit ihr fertig sind, rudert sie mit den Armen in dem nassen, von Autoreifen zermatschtem Herbstlaub. Ihr Bein sieht komisch aus. Abgeknickt wie ein Streichholz, die Schuhspitze nach innen gebogen wie ein Wegweiser in Richtung Hüfte. Und aus den Laufmaschen unter dem Knie ragen kleine graue Zacken. Vom Bordstein rollt eine Kippe auf ihr Gesicht zu, streift die Lippen. „Ey, die Alte will quarzen“, schreit Kim, „gib uns was ab, du Kiffeule!“ Und ich schnappe mir noch schnell den Katzenschirm, als wir die Sirenen des herannahenden Krankenwagens hören und im ZickZack in eine Seitenstraße türmen.

Als Trophäe. Denn ich gehöre zu den Beutesammlern. Erst letzte Woche kam der halbe Fingernagel dazu. Pistaziengrün lackiert. Echt geil die Farbe. Er knackte ab, als ich den endlos langen Gazellenfinger der milchkaffeefarbenen Pinguin-Lady nach hinten bog, die es wagte, meinen Hoodie zu streif…

Ey, was ist das? Die Glauber stößt ihren Stiletto an meinen Sneaker, platziert ihn warnend zwischen meine Zehen. Okay, okay. Sie haben es tausendmal verkündet. Die Gebetsmühle torkelt bereits lallend.

Vor Gericht zählt das Gesamtpaket. Das Außen muss stimmen, doch besonders das Innen. Idealerweise vorbehandelt mit Fleckenteufel, um den Dreck wegzuätzen, der am tiefsten haftet. Gesinnungsdreck. Dann durch geschleudert und weichgespült. Aber vor allem glatt gebügelt.

Deine Zehen hängen bereits über der Klippe“, sagte die Glauber, als wir vor ein paar Stunden das Gericht betraten. „Also, reiß dich zusammen. Atme tief durch, falls du sie spürst und halte sie fest im Zaum.“

Bei unserem ersten Date im letzten Sommer schien die Klippe noch in meilenweiter Entfernung zu liegen. Da schaute er mich noch freundlich an, zwinkerte mir zu. Jetzt schweift Samsons Blick über meinen Scheitel hinweg. Bleibt unerreichbar, als habe er sich hinter Panzerglas verschanzt. Er senkt den Kopf, bearbeitet mit den Fingerspitzen die tiefe Stirnfalte zwischen den beiden schwarzen Büscheln, die sich berühren, schon beinahe zu knutschen scheinen. Nach gefühlten Stunden taucht Samson endlich wieder auf. „Victoria“, sagt er, „bitte schildere uns den Verlauf der Vorkommnisse vom 29.10.2018. Ganz präzise. Überlege gründlich und lass dir Zeit.“

Und ich hole tief Luft, um über die Aok Rolla…

Ey, ich fasse es nicht! Die Glauber quetscht meine Knochen zusammen. Mit ihrem Pfennigabsatz. Spitz wie ein Queue. Voll spooky, sie kann Gedanken lesen. Ganz ruhig, Glauber, geschmeidig bleiben. Ich wechsele die Tonspur.

Also, um über den Vorfall mit der hilfsbedürftigen Seniorin zu berichten…

Und dann.

Stille.

Nur ein feines Schnorcheln klimmt in mein Ohr. Vielleicht schnarcht das Ding in mir, das sich nun wiegt, zusammen geschrumpft wie ein Fötus.

Samson beginnt, sein drahtiges Brauenhaar zu zwirbeln, als drehe er mir einen Strick aus dieser Sache. „Ich glaube, in deiner Welt regiert die Wut, Victoria“, sagt er und wirft ihn mir zu wie ein Lasso. „Doch bevor ich Frau Glauber und Herrn Kornitzky um ihre Anträge bitte, möchte ich zunächst von dir hören, wie du dein Verhalten beurteilst.“

Plötzlich schüttelt ein Beben meinen Körper. Erweckt das Ding in mir, das nun maunzt wie ein Kätzchen, dem man die Krallen stutzt …

Und mein Kopf beginnt zu zittern. Denn dieser Schirm wirbelt durch mein Hirn…

Und noch einmal spüre ich die Faust der Alten. Sie umklammert mein Handgelenk, das schlagartig wieder juckt und brennt. Höllisch. Als sei es von einer Ameisengang gekidnappt und zum Opfer erklärt worden …

Und noch einmal höre ich das Knacken und Knirschen der Knochen, während ich biege, hebele, um meine Trophäe aus ihren Schrumpelfingern zu winden …

Und …

Es klebt unter meinen Fingern. Ich taste nach dem Kaugummi unter der Holzsitzfläche. Kaue. Puste. Bis die Blase sich aufbläht wie ein Ballon. Kindskopfrund. Und ich möchte abheben, schweben …

Bis sie zerplatzt, sich in meine Lippenfältchen schmiegt. Meinen Mund verklebt und versiegelt.