Von Jutta Wein

Deutschland, ein Tag im Herbst 2015, im Osten

„Meerrkel muuss weegg!

Wie oft hatte Berta diesen Satz gemeinsam mit den anderen schon geschrien? Ihre Stimme war nun mehr ein heiseres Kratzen als ein Schrei. Darauf kam es im Augenblick aber nicht an. Es zählte nur, sich endlich Luft zu machen, gemeinsam mit den anderen. Wir sind das Volk. Das hatte sie sich auf die Fahne geschrieben.

Ihr ganzes Leben hatte sie hart gearbeitet, nebenbei vier Kinder großgezogen, sich für die anderen aufgeopfert. Einfach war es nicht gewesen. Sie hatten alle auf Vieles verzichten müssen und nun das. Die ältere Frau kochte innerlich. Ihre Hände hatte sie zu Fäusten geballt. Ihr ganzer Körper bebte. Diese Verräterin, die Merkel. Ihre Wut kannte keine Grenzen. Gerne hatte sie sich wiederholt, als dieser Reporter auf sie zugekommen war.  

„Meerrkel muuss weegg!

Ein Fernsehreporter war ganz nah an Berta herangekommen und hatte sie gefilmt. Ihn faszinierte diese, einer menschlichen Fratze entsprungene, heiser gebrüllte Litanei einer Frau? Eines Mannes? Die Gestalt war hager, das Gesicht verhärmt.  Er hatte die Szene im Kasten, aufgenommen für die Welt der Zuschauer. Zufrieden wandte er sich ab.

Die Demonstranten zogen weiter, eine erregte und pulsierende Masse Menschen.

 

Am gleichen Tag, am Abend, im Westen

„Meerrkel muuss weegg!

Die Bilder flimmerten über den Bildschirm. Die 18-jährige Julia lachte und fühlte sich gleichzeitig angewidert von dieser Frau ohne jede Beherrschung. Sie räkelte sich auf der fremden Couch und gähnte laut. Blanke Wut machte ja so hässlich.

Sie war für die Nacht bei Frank untergekommen, der ihr spontan angeboten hatte, bei ihm zu pennen. Blöderweise hatte sie keine Unterkunft für die Nacht gefunden. Vor allem musste sie zum Amt, dringend. Julia hatte ihn erst heute kennengelernt. Er arbeite für die Stadt, hatte er gesagt. Frank hatte angeboten, ihr zu helfen. Sie fühlte sich wohl bei ihm.

Total peinlich, diese Alte, dachte sie und meinte zu Frank:

„Du musst weg, du Fratze, so muss es heißen.“ Dabei lachte sie schallend.

„Jetzt mach aber mal halblang! Lustig ist das nicht.“, sagte Frank ärgerlich, zum einen wegen der unbedachten Aussage des wohnungslosen Mädchens, aber auch wegen der Medien, die aus seiner Sicht die Stimmung nur noch weiter anheizten mit ihren Beiträgen.

„Meerrkel muuss weegg!

Frank, ein 55-jähriger Streetworker, der sich für sehr engagiert hielt, schaltete den Fernseher aus, unter lautem Protest von Julia, die offenbar nach einigen Gläsern Wein einen Schwips hatte.

Er war gereizt und überzeugt davon, dass die Zurschaustellung dieser Frau, die Lage im Land weiter zuspitzen werde. Es würde noch mehr Spaltung geben. Auch ärgerte er sich einen Moment über diese „Ossis“, die so dämlich waren. Schwer nachvollziehbar. Scheißpopulismus. Wo sollte das alles enden? Was zur Hölle war passiert in diesem Land? Da konnte man es wirklich mit der Angst bekommen.

Er selbst war in seiner Jugend in der Friedensbewegung engagiert gewesen, hatte an zahlreichen Demonstrationen in den 80zigern teilgenommen. Damals hatte man sich Sorgen um den Weltfrieden gemacht. Der kalte Krieg hatte viel Unsicherheit, Besorgnis und auch Wut ausgelöst. Er war mit vielen anderen auf die Straße gegangen. Politische Diskussionen waren an der Tagesordnung gewesen. Einfach klasse. „Hopp, hopp, hopp, Atomraketen stopp.“ Diese wunderschöne Erinnerung an die Leichtigkeit seiner Jugend, kam ihm in den Sinn. Er schmunzelte.

Das war doch etwas anderes gewesen, als dieses peinliche Gebrüll.

Julia kicherte immer noch leise vor sich hin. Sie war definitiv nicht die richtige Gesprächspartnerin für eine Debatte. Er schickte sie freundlich ins Schlafzimmer, sie solle auf ihn warten. Frank sagte, er käme gleich nach.

Erfreut schaute er ihr nach, als sie tatsächlich leicht wankend und ohne Widerspruch in Richtung Schlafzimmer ging. Das war ja einfach gewesen. Nicht alle Mädchen hatten es ihm so einfach gemacht. Jetzt gab es kein Zurück mehr für Julia. Wenn sie einmal bei ihm im Bett lagen, die Mädels, konnten sie nicht mehr Nein sagen. Sie war ihm sicher. Das wusste er aus Erfahrung.

Frank ging ins Bad und sinnierte noch ein wenig vor sich hin. Die wütenden „Ossis“ wollten ihm noch nicht so recht aus dem Sinn. Außerdem würde er am morgigen Tag, einige Kollegen zur Supervision treffen. Das war eine gute Gelegenheit, um mit den anderen über Politik zu quatschen. Er hatte neulich so einen Artikel in der Zeitung gelesen. Wo war der denn jetzt bloß? Auf einer Ablage fand er ihn und überflog den Text erneut.

Gleichheit und Gerechtigkeit gibt es bislang nicht zwischen West und Ost. Im Osten veröden die Dörfer. Viele junge Leute haben diese verlassen um im Westen ihr Glück zu suchen. Auch beim Lohnniveau und der Wirtschaftskraft liegt der Osten in Fortsetzung der Vorjahre im Vergleich zum Westen immer noch zurück.

Ja, ja. Das ist alles bekannt.

Aber hatte das mit dem persönlichen Schicksal dieser Frau zu tun? Woran fehlte es ihr wirklich? War sie eine Verliererin der Wende? Lehnte sie Demokratie und Freiheit ab? Nutzte sie schlicht ihr demokratisches Recht zu demonstrieren? Hatte sie komplett die Orientierung verloren oder diese nie gehabt?

Unterstützung nach der Wende hatte es doch auch gegeben. Was wollten die denn noch?

Die Wiedervereinigung, eine Erlösung von Menschen, die in einer Diktatur, einem Unterdrückungsregime aufgewachsen waren, eine lang erhoffte Zusammenführung von Familien, eine Chance für alle in einem wiedervereinten Deutschland.

Stimmte das etwa nicht?

Enttäuschungen sind im Osten aufgetreten, das Gefühl vergessen und abgehängt worden zu sein. Träume, die sich nicht erfüllt haben. Fortgesetzte Ungerechtigkeit.

Persönliches Leid, sicherlich. Aber im Westen war es auch nicht leicht gewesen.

Zu Beginn der 90ziger Jahre, da war er während seines Studiums in Leipzig gewesen und hatte dort mit anderen Studenten über die Wende gesprochen. Es war ein sehr erbaulicher Austausch gewesen, einer seiner wenigen Kontakte zum Osten. Die jungen Leute waren wütend gewesen und hatten eine große Sorge geäußert, dass von der Kultur und der Identität der Ostbürger nichts übrigbleiben könnte, dass der Westen alles schluckt. Da war schon was dran gewesen. Wer will sich schon selbst verlieren?

Aber gab es nicht immer wieder Veränderungen im Leben? Hatten nicht alle profitiert?

Kürzlich hatte Merkel Millionen von Flüchtlingen ins Land geholt. Sie wurden herzlich willkommen geheißen. Frank hatte das sehr angerührt. Er war auf ihrer Seite. Den Menschen musste geholfen werden. Deutschland hatte genug, um zu teilen.  

Brachte das jetzt den erhitzten Kochtopf der Wut zum Überlaufen?

Armes Deutschland.  

Unwillkürlich schüttelte Frank seinen Kopf.

Er folgte Julia ins Bett, die, plötzlich etwas nüchterner, angespannt an die Wand starrte, was er nicht sehen konnte, da sie ihm den Rücken zugewandt hatte. Sie wollte ihn nicht ansehen. Ihr war unbehaglich, ahnend, was auf sie zukommen würde. Ihr Kopf dröhnte. Wäre sie besser da draußen geblieben? Jetzt war es zu spät, darüber nachzudenken.

Frank war ein wirklich netter Typ. Morgen würde er sie zum Jobcenter begleiten, hatte er ihr versprochen. Er hatte es verdient. Sicher würde es schnell gehen.

Der Streetworker legte sich hinter sie und fasste unter ihrem T-Shirt an ihre Brust und presste sich dann an sie. Ihm entfuhr ein Stöhnen.

Julia hatte sich noch nie gewehrt, in diesen Situationen. Sie empfand noch nicht einmal Wut. Männer waren so, das hatte sie schon früh erfahren.

Zehn Minuten später schliefen beide ein. Frank war zufrieden, jede Anspannung war er losgeworden und Julia erlag ihrem Alkoholrausch.

Wutbürger sind ja so weit weg, dachte Frank, bevor ihn seine Traumwelt mitnahm in eigene Geschichten. Morgen würde er sich mit den anderen austauschen über die Lage der Nation.

 

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