Ulli Lenz

Abrupt fahre ich aus meinem frühmorgendlichen Schlaf hoch. Durch die halboffene Schlafzimmertür vernehme ich die erhobene Stimme meines Mannes aus dem Erdgeschoss und vermute darin die Ursache für mein ungewolltes Erwachen.

Nach dem Stillen ist Jakob auf mir eingeschlafen. Endlich! Über zwei Stunden hat ihn sein erster Eckzahn in der Nacht geplagt und ich ihn daher schlaflos im Zimmer auf- und abgetragen.

Vorsichtig richte ich mich aus der ohnehin halb sitzenden Position von meinen Kissen auf und lege den Säugling in sein Gitterbett. Zärtlich streiche ich dem Kleinen über das Köpfchen und tupfe noch einen Tropfen Milch aus seinem Mundwinkel. Durch die leichte Berührung verzieht er im Schlaf den Mund zu einem entzückenden, einseitigen Lächeln. Hingerissen betrachte ich meinen Sohn. Momente wie diese lassen mich so manche Unannehmlichkeit wieder vergessen – wie zum Beispiel die heutige zerrissene Nachtruhe.

Von unten sind immer noch aufgeregte Stimmen zu hören. Wahrscheinlich hat mein Erstgeborener wieder einmal seine Kreativität spielen lassen und fordert damit die Nerven seines Erzeugers. Egal, heute ist Samstag, da darf ruhig einmal der Papa das Vergnügen haben.

Mit diesem Gedanken lege ich mich noch einmal unter die warme Decke, fühle mich dabei fast etwas verwegen und genieße dann, mich frei ausstrecken zu können und den Rücken zu entspannen.

An Schlaf ist aber nicht mehr zu denken. Die Stimmen von unten werden zunehmend lauter und als einzelne Gesprächsfetzen wie „Welcher Topf!?“ und „Klara, wo hast du ihn hingegeben?“ deutlich zu mir durchdringen, wird mir schnell klar, dass mein überarbeiteter Mann kurz davor ist, die Grenze zur Explosion zu überschreiten. Seufzend schäle ich mich wieder aus meiner Decke und mit einem letzten sehnsüchtigen Blick auf mein Bett schließe ich die Schlafzimmertür hinter mir, um ein Stockwerk tiefer für Deeskalation zu sorgen.

Im Wohnzimmer finde ich eine kleinlaute Klara vor. Daneben hockt der große Bruder, der irgendetwas von einem Loch im Nachttopf philosophiert, während der sichtlich verärgerte Papa hektisch die Couch mit einem nassen Tuch bearbeitet.
„Peter, was ist denn hier los?“, frage ich meinen ansonsten nicht so leicht reizbaren Ehemann.

„Was hier los ist, willst du wissen?“, stößt Peter hervor, noch immer heftig die Couch reibend. „Frag‘ mal lieber deine Tochter!“

Mit einem Handzeichen, dass so etwas wie „Ruhe bewahren“ heißen soll, gebe ich ihm zu verstehen, dass ich die Sache übernehme und überlasse ihm die Bank.

Dank meiner schon oftmals geprüften Geduld finde ich schließlich ziemlich gelassen und zügig heraus, dass Klara eine große Badesalzdose als Nachttopf missbraucht hat. Das von meinem Ältesten erwähnte „Loch im Nachttopf“ entpuppt sich als „Es ist mir nur ein bisschen umgekippt“.
Dass das „ein bisschen umgekippt“ auf der Couch stattgefunden hat, erklärt sich fast von selbst.

„Hast du den Nachttopf auf der Couch verwendet, Klara?“, versuche ich noch die letzten offenen Fragen für mich zu klären.
„Nein!“, entrüstet sich die Vierjährige. „Ein Nachttopf gehört doch nicht auf die Couch, Mama“, belehrt sie mich anschließend. „Die Uroma hat gesagt, dass alle früher einen Nachttopf unter dem Bett hatten, weil es im Haus kein Klo gab! Die hatten nur so ein stinkiges Klo im Garten, so eines wie auf der Autobahnstation!“ Entrüstet rümpft sie die Nase und wischt sich fahrig die vom Schlafen verstrubbelten blonden Haare aus dem Gesicht.

„Aha. Dann zeig mir mal, wo du Pipi in den Nachttopf gemacht hast“, fordere ich meine Tochter auf, und gemeinsam machen wir uns an den Aufstieg zum Tatort Kinderzimmer.

Die Pfütze auf dem Holzboden vor Klaras Bett zeigt mir, dass auf der Wohnzimmercouch nicht allzu viel gelandet sein kann. „Immerhin etwas“, denke ich und hole alle notwendigen Utensilien aus dem Abstellraum. Danach mache ich mich ans Beseitigen aller Spuren, bevor die Harnsäure das schöne, geölte Parkett ruiniert.

Während ich den Boden schrubbe, hole ich zu einer Strafpredigt aus, die sich Klara mit unergründlicher Miene anhört.
„Woher soll ich denn wissen, dass ein Nachttopf so empfindlich ist!“, kommentiert sie meine strengen Worte schließlich niedergeschlagen
Ich atme tief ein und klopfe mir dabei innerlich auf die Schulter, weil es mir nach wie vor gelingt, ruhig zu bleiben. Zu einer Antwort von mir kommt es aber nicht mehr, da sich meiner Großer in den Konflikt einbaut.

„Ich habe ihr gleich gesagt, dass das eine blöde Idee ist“, meint Jonas großspurig, der die Zurechtweisungen seiner Schwester genau mitverfolgt hat. Die selbstgefällige Miene, welche unzweifelhaft daher rührt, dass ausnahmsweise einmal nicht er im Zentrum eines Vergehens steht, wird von Klara mit den lapidaren Worten „Aber der Jonas hat eine Klopapierrolle im Klo runtergespült!“ weggewischt.

Diesmal bin ich es, die unschön laut wird, denn auf die Gefahr einer Verstopfung habe ich Jonas bereits ausführlich bei diversen diesbezüglichen Zwischenfällen hingewiesen. Von meinem Mann, der im Türrahmen aufgetaucht ist, ernte ich daher einen Blick der wohl so etwas wie „Na, deine Gelassenheit auch schon verloren?“ bedeuten soll.

Die Verteidigung von Jonas fällt mit „Aber Klara hat gesagt, dass ich es machen soll!“ ungewöhnlich lahm aus. Laut schnaubend gebe ich Peter zu verstehen, dass er nun das Ruder wieder übernehmen darf und mache mich auf den Weg ins Badezimmer, um die Toilette in Augenschein zu nehmen. Erleichtert registriere ich, dass es sich erstens um eine leere Klopapierrolle gehandelt hat, und zweitens der Spülvorgang nicht erfolgreich genug war, denn ich kann noch ein Stück des Kartons am Grund des Klosetts erkennen. Mit Gummihandschuh ausgestattet tauche ich meinen Arm quasi bis zum Ellbogen in die Schüssel, um die zur Spirale aufgelöste Kartonrolle aus der Biegung zu fischen.

Minuten später versorgt Peter die beiden Großen in der Küche mit Müsli. Gleichzeitig steige ich aufatmend unter die heiße Dusche und spüle die ersten Schweißausbrüche des Morgens weg. Herrlich, duschen ohne Aufsichtspflicht!

Mein „Wellnessprogramm“ hält nur wenige Sekunden an, denn das schrille Quieken im Nebenzimmer verrät mir, dass das Baby aufgewacht und mit irgendetwas ganz und gar nicht glücklich ist. Nur grob abgetrocknet und mit einem Handtuch auf dem Kopf stürme ich ins Schlafzimmer, um Jakob zu befreien, der halb umgedreht mit den Beinen zwischen den Gitterstäben des Bettes feststeckt.

Wahllos hüpfe ich anschließend in irgendwelche Alltagsklamotten und packe dann meinen Jüngsten, um ihn im Badezimmer – aus Sicherheitsgründen auf dem Teppich – zu wickeln. Jakob windet sich unter meinen Händen und versucht zum wiederholten Male, in die eigenen Verdauungsprodukte zu langen, als ich wegen der geöffneten Badezimmertür und unseres offenen Treppenaufganges von unten allzu deutlich schlabbernde Geräusche vernehme. Auch ohne nachzusehen weiß ich, dass Peter wieder einmal vergessen hat, die Müslischüssel mit meinem Frühstück vom Tisch abzuräumen und der Kater nun wohl am Tisch sitzt, um die Milch samt Haferflocken rund um die Apfel- und Bananenstücke herum wegzuschlecken. Toll, es läuft großartig!

Seufzend schließe ich die Windel und lasse es zu, dass Jakob sich wegrollt. „Schade, dass die Kinder nicht ewig so pflegeleicht bleiben“, denke ich bei mir.
Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass es noch nicht einmal sieben Uhr morgens ist. Der Tag dauert also noch richtig, richtig lange…

 

Zwölf Stunden und 10 Minuten später lasse ich mich müde auf die von Klara markierte Couch sinken. Hinter mir türmt sich noch das Geschirr vom Abendessen auf dem Tisch, aber das kann mich heute nicht mehr stören.

Gleich darauf kommt Peter nach erfolgreichem zu Bett Bringen der Großen ins Zimmer. Er fährt sich erschöpft durch die zerzausten Haare. „Weißt du, was ich meinen Kollegen letztens gesagt habe? Dass ich glaube, dass dein Job zu Hause anstrengender ist als der ganze Zirkus bei uns in der Firma!“
Ich würde ihm ja um den Hals fallen für diese Bemerkung, wenn ich nicht so kampfunfähig vom heutigen Tag wäre. Also grinse ich nur etwas schief zurück, bevor er plötzlich mit drei Schritten in die gegenüberliegende Zimmerecke hechtet und laut zu Fluchen beginnt.

Alarmiert setze ich mich auf, um zu sehen, was Peter so aufregt. Als Peter das Duplohaus auf die Seite schiebt, erkenn ich, dass der Spielzeugtraktor von Jonas mit seinem Kipper einen großen Berg Badesalz hinter dem Duplohaus abgeladen hat. (Und ich hatte mich schon gewundert, dass der Badesalz-Nachttopf leer war.) 

„Da haben wir uns ganz schön was aufgehalst, mit diesen drei Satansbraten! Erholung war das heute jedenfalls keine“ sagt er. Seufzend lässt er sich wie ein nasser Sack neben mir auf die Eckbank plumpsen. „Das war eine Fehlentscheidung“, murmelt er schließlich.

Wie von der Tarantel gestochen hüpfe ich auf, meine Müdigkeit ist plötzlich wie weggeblasen. „Wie… Wie meinst du das, es war eine Fehlentscheidung?“, stammle ich. Verwirrt streiche ich mir übers Gesicht, bevor ich weiterrede. „Ich weiß, es war heute ein besonders anstrengender Tag, aber das ist doch nicht die Norm. Außerdem dachte ich, wir hätten uns gemeinsam für die Schwangerschaft entschieden.“ Merkwürdige Panik macht sich in mir breit.

„Tanja…“, versucht Peter mich zu unterbrechen, aber ich lasse ihn nicht zu Wort kommen und rede mich in Fahrt „Hast du nicht immer behauptet, dass die Schwangerschaft das Beste war, was uns je passiert ist?
Was soll das jetzt also heißen, das war eine Fehlentscheidung. Ist es nicht etwas zu spät dafür?! Immerhin haben wir mittlerweile DREI Kinder, und nicht nur eines!“ Ich funkle ihn, jetzt wütend geworden, an. 

„Tanja!“ Peter versucht noch einmal, diesmal relativ laut, sich Gehör zu verschaffen. Da ich zu Atem kommen muss, gelingt es ihm auch.
„Ich rede nicht von den Kindern.“ Beschwichtigend hebt er die Hände.
„Ich rede von der Farbe.“ Er deutet auf den dunkel umrandeten Fleck neben seinem Allerwertesten. „Wir hätten doch den graumelierten Stoff nehmen sollen!“

 

Version 2