Cora Wolf

Es war der erste Freitag im neuen Jahr, und Balthasar Murrig verließ sein Büro wie üblich um 18.00 Uhr. Eigentlich endete seine Arbeitszeit bereits um 17.00 Uhr, aber er sah keine Veranlassung, schon früher in die triste Eintönigkeit seiner Wohnung zurückzukehren. Besonders freitags nicht, denn dann lag ein ebenso tristes, eintöniges Wochenende vor ihm, nur unterbrochen von der akribischen Routine, mit der er die Wohnung putzte, seine gewaschene Wäsche penibel in den Schrank sortierte und stundenlang seine Münzsammlung polierte.

Auf der Heimfahrt regnete es, aber das war ihm nur recht, wenn sein Leben schon so freudlos und grau war, warum sollte es draußen anders sein?

Er las im Bus die Zeitung, schüttelte den Kopf über die Auswüchse der modernen Gesellschaft und die Eskapaden prominenter Persönlichkeiten, während er sich gleichzeitig im Stillen darüber echauffierte, dass jemand zwei Reihen vor ihm laut Musik auf dem Handy hörte.

In seiner Wohnung angekommen, bereitete er sich wie gewöhnlich eine einfache Mahlzeit zu. Er kaufte jeden Montag dieselben Lebensmittel ein, die genau eine Woche reichten. Für verschwenderische Schlemmereien sah er keinen Anlass, nur zu Weihnachten gönnte er sich einen Schokopudding als Nachtisch. Nach dem Essen spülte er das Geschirr ab, räumte auf und ließ das Fernsehprogramm an sich vorbeirieseln. Um 23.00 Uhr machte er den Fernseher aus, wie jeden Abend, und ging ins Bett.

Er knipste das Licht aus, legte sich hin und wartete auf den Schlaf. Plötzlich schreckte er hoch – hatte sich da eben etwas an seinem Bett bewegt? Im Licht der Straßenlaterne, das von draußen hereinfiel, zeichnete sich eine Silhouette am Fußende der Matratze ab. Erschrocken knipste Balthasar die Nachttischlampe an und sah einen alten Mann auf seinem Bett sitzen.

„Wer sind Sie? Wie sind Sie hier hereingekommen?“ fragte er, zu verwirrt, um panisch zu sein. Wie ein Krimineller sah der Alte nicht aus. Im Gegenteil, er wirkte äußerst freundlich. Auch kam der Eindringling Balthasar seltsam vertraut vor.

„Erkennst du mich nicht?“ fragte der alte Mann zurück und lächelte liebenswürdig.

„Keineswegs“, erwiderte Balthasar, obwohl das Gefühl, das das nicht stimmte, stärker wurde. Aber er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wo er den Alten schon mal gesehen hatte.

„Jedenfalls, wenn sie mir nicht augenblicklich sagen, warum Sie in meine Wohnung eingedrungen sind, rufe ich die Polizei!“ Seine Hand griff energisch nach dem Telefonhörer.

„Ich bin du.“

„W-wie bitte?“ Verdutzt ließ Balthasar den Hörer fallen. „Sie ticken wohl nicht ganz richtig!“

Der Alte kicherte.

„Erinnerst du dich an den Liebesbrief an Stefanie Kasulke, den du ihr in der achten Klasse geschrieben hast? Du hast ihn nie abgeschickt, du elender Feigling. Du bewahrst ihn immer noch in dem alten, kaputten Koffer auf, mit dem du damals auf Weltreise gehen wolltest, aber auch dafür warst du zu feige.“ Trotz seiner harten Worte lächelte der Eindringling immer noch, doch nun lag ein Hauch von Wehmut darin. Balthasar war knallrot angelaufen.

„Und im zweiten Lehrjahr hast du Hansi Köppers verpetzt, weil er eine Beule ins Auto des Chefs gefahren hat.“

„Eh-“ Der wütende Herr Klapprich hatte Hansi damals die Lehrstelle gekündigt. Balthasars Gesicht glühte wie ein Hochofen. Auch wenn er es tausendmal vor sich selbst rechtfertigt hatte, er schämte sich insgeheim immer noch dafür.

„In den Sommerferien nach der 2. Klasse, als du mit deinen Eltern auf Sylt warst, erinnerst du dich an die Muschel, die du gefunden hast? Wie es darin rauschte, wenn du sie an dein Ohr hielst? Du hast dir immer vorgestellt, dass es der Ozean einer anderen Welt ist. Selbst heute denkst du manchmal noch daran, wenn deine unterdrückten Sehnsüchte sich kaum noch beherrschen lassen.“

Balthasar starrte sein Gegenüber an. Es kam ihm absurd vor, dass dies sein älteres Ich sein sollte, doch wie konnte er seine geheimsten Gedanken wissen?

„Komm mal mit.“ Widerstrebend ließ sich Balthasar von seinem angeblichen Alter Ego zum Spiegel führen. Als er davor stand, konnte er nicht leugnen, dass ihm aus der reflektierenden Scheibe eine ältere Ausgabe seines eigenen Gesichtes entgegenstarrte. Dasselbe schmale Gesicht, die scharfkantige Nase, auch der hagere Körper glich seinem eigenen in allen Merkmalen. Selbst das Muttermal rechts neben dem Kehlkopf befand sich genau an der selben Stelle.

„Na gut“, sagte Balthasar, um Fassung ringend. „Na gut. Nehmen wir an, du bist ich.

Wie bist du hierher gekommen? Und was willst du überhaupt?“

„Nun, wie du dir sicher denken kannst, komme ich aus der Zukunft. Deiner Zukunft. Ich will dich vor einem schrecklichen Fehler bewahren!“

Balthasar erschrak. Der Alte war plötzlich todernst geworden.

„Was für ein Fehler? Wann werde ich ihn begehen?“

„Du tust es die ganze Zeit schon!“

„Was?“ Das Erschrecken wurde zu einem Anflug von Panik.

„Die Art, wie du dein Leben lebst! Oder besser gesagt, nicht lebst! Du funktionierst nur, wie eine gut geölte Maschine, und das schon seit Jahren! Was ist aus all deinen Träumen und Wünschen geworden? All deine Sehnsüchte hast du begraben, das Feuer deiner Leidenschaft ist lang erkaltet.“

„Träume… Sehnsüchte…“ Balthasar spuckte die Worte beinahe aus. Er hatte sich über all die Jahre erfolgreich hinter seiner täglichen Routine versteckt. „Träume sind für Kinder, Sehnsüchte für Narren. Ich bin erwachsen geworden.“

„Erwachsen, dass ich nicht lache! Du bist innerlich tot und verdorrt! Du versteckst dich tief in dir drin!“

„Ach, und wovor verstecke ich mich?“

„Vor dem Schmerz!“

Das saß. Plötzlich kamen sie aus den tiefsten Winkeln seines Unterbewußtseins hervor, all die negativen Gefühle, Trauer, Wut und Enttäuschung, die er über viele Jahre hinweg in sich begraben hatte. Die Weltreise, die er nach dem Abitur machen wollte, war ihm von seinen überfürsorglichen Eltern ausgeredet worden. Der Traum vom Kunststudium, der nach sieben Absagen wie eine Seifenblase geplatzt war. Die dröge Lehre bei der Versicherung, zu der ihn seine Eltern schließlich überredet hatten. Stefanie Kasulke, die Schulfreundin, der er seine Liebe nie gestanden hatte, war schließlich ohne ihn mit dem Rucksack durch die Welt gezogen und lebte heute in Kanada, wo sie mit ihrem Mann eine Reiseagentur leitete. Nach der Lehre hatte er sich bei internationalen Unternehmen beworben, hatte gehofft, vielleicht in andere Länder entsendet zu werden. Aber es hatte immer einen Mitbewerber gegeben, der sich besser verkaufte als er, und so war er schließlich bei der Kreissparkasse Bitburg-Prüm gelandet.

„Von meinen Träumen ist kein einziger wahr geworden!“ Die Erkenntnis traf ihn mit unbarmherziger Wucht.

„Weil du aufgehört hast, zu träumen!“

Balthasar starrte zu Boden und sagte nichts mehr. Seine Wohnung, sein ganzes Leben kamen ihm plötzlich wie ein Gefängnis vor. Wofür lebte er überhaupt?

Er sprach es aus, und seine ältere Version nickte.

„Deshalb bin ich hier. Weil ich alt und einsam gestorben bin und weil mir auf meinem Totenbett klar geworden ist, was für eine Verschwendung mein Leben war. Lass es nicht soweit kommen. Rette dich. Rette uns beide!“

Der Alte umarmte ihn. Balthasar spürte eine Träne seine Wange hinunterrollen. Schon seit Ewigkeiten hatte ihn niemand mehr umarmt.

„Du hast noch viele Jahre vor dir. Nutze sie! Lebe! Sonst wirst du innerlich tot sein, lange bevor dein Körper stirbt.“

Der ältere Balthasar löste sich aus der Umarmung.

„Ich gehe nun. Ich wünsche dir ein glücklicheres Leben, als ich es hatte.“

Er lächelte ein letztes Mal, winkte seinem jüngeren Selbst und schien dabei immer heller zu werden. Balthasar schloß geblendet die Augen. Dann war er allein.

Er starrte noch eine Weile in die Dunkelheit. Hatte er geträumt? Er wollte sich wieder hinlegen, doch an Schlaf war jetzt nicht zu denken. Er kramte den alten Brief an Stefanie Kasulke aus dem lädierten Koffer, setzte sich in den Sessel und starrte auf die Handschrift des hoffnungsvollen Teenagers, der er einmal gewesen war, bis draußen die Sonne aufging. Dann zog er sich an und fuhr in die Stadt, um sich einen neuen Koffer zu kaufen. Es wurde Zeit, auf Weltreise zu gehen.