Von Agnes Decker

„Was hätte ich denn tun sollen?“ Die Augen der jungen Frau sind weit aufgerissen. Ihr Gesicht ist nass von Schweiß. Eine dunkle Locke fällt ihr über die Augen. Sie streicht das Haar mit einer fahrigen Handbewegung aus dem Gesicht, mit dem Erfolg, dass es sogleich wieder nach vorne fällt. Unermüdlich streicht sie die Locke zurück, bis sie endlich, aber nur für kurze Zeit an ihrem Platz bleibt.

„Sie haben ihn erschossen. Warum sind Sie nicht zur Polizei gegangen?“ Die Polizistin, die ungefähr im gleichen Alter ist wie die Verhörte und ihr direkt gegenübersitzt, schießt Wort für Wort über den Tisch.

Wie Pfeile, denkt die junge Frau und sagt „Was hätten Sie denn getan an meiner Stelle? Sehen Sie, jetzt sagen Sie nichts mehr.“ Ihre Augen blitzen und ihr Gesicht verzerrt sich vor Zorn. „Sie haben keine Ahnung. Sie wissen überhaupt nicht, wie das ist.“ Sie schluckt und schaukelt auf ihrem Stuhl hin und her. „Direkt vor unserer Wohnungstür lag ein zerfetzter Rosenstrauß. Da haben wir noch über den enttäuschten Verehrer gelacht. Am nächsten Tag war es ein Briefumschlag. Mit Fotos. Alle von mir. Ich, am Küchenfenster, wie ich das Haus verlasse, vor meiner Arbeitsstelle, am Haus meiner Eltern, Ann-Kathrin und ich in einem Cafe und so weiter, alle Fotos zeigten mich.“ Die junge Frau schaut die Polizistin an, schaut ihr in die Augen. „Hatten Sie schon einmal Todesangst?“

„Vielleicht erzählen Sie uns einfach die ganze Geschichte.“ Die dunkle, weiche Stimme stammt von dem Polizisten, der neben seiner jungen Kollegin sitzt und bisher geschwiegen hat.

Die Frau hat aufgehört zu schaukeln und schaut nun ihn an. Jetzt sieht man, dass sie schöne Augen hat, grün mit einem dunklen Rand. Aus diesen Augen fixiert sie ihn.

„Helfen Sie uns. Je eher wir die Zusammenhänge verstehen, desto schneller lassen wir Sie in Ruhe.“ Der Mann hat sich über den Tisch gebeugt und erwidert den Blick. Er sieht die Verzweiflung in den Augen der Frau, ihre Traurigkeit und ihre Wut. „Fangen Sie an.“ Er trommelt mit den Fingern auf den Tisch. Dann nimmt er seine Hände und legt sie behutsam zusammen, so als müsse er sie festhalten.

Die junge Frau räuspert sich. Ihre Stimme klingt belegt. „In einem Club“, würgt sie heraus. „Da hat er mich angesprochen.“

„Aha, Sie kannten ihn also schon?“, wirft die Polizistin ein.

„Ja, nein, verdammt, jetzt habe ich den Faden verloren.“ Die junge Frau wirkt verwirrt.

 „Jetzt beruhigen Sie sich erst mal. Soll ich Ihnen etwas bringen lassen, Kaffee oder Tee, ein Glas Wasser? Was möchten Sie?“ Der Polizist hat sich wieder nach vorne gebeugt. In seiner Stimme klingt Besorgnis. Als die Frau ihm gegenüber nicht antwortet, steht er auf, öffnet die Tür und ruft „Frau Müller, bringen Sie uns bitte Kaffee, Wasser und Kekse. Danke.“ Dann setzt er sich wieder an den Tisch. „Lassen Sie sich Zeit“, sagt er und handelt sich dafür einen bösen Seitenblick seiner Kollegin ein.

„Ich kannte ihn nicht.“ Ganz leise spricht die junge Frau jetzt, so als würde sie mit sich selber reden. „Ich, ich war schon lange nicht mehr in einem Club. Wissen Sie, ich bin nicht so eine Feiermaus. Dazu bin ich zu schüchtern. Aber meine Freundinnen haben nicht locker gelassen. Du musst mal unter Menschen, haben sie gesagt. Du musst mal raus, damit du endlich jemanden kennenlernst. Und so ging das immer weiter, bis ich ja gesagt habe, was ich im gleichen Moment aber auch schon wieder bereut habe. Glauben Sie mir. Ann-Kathrin hat Kleidungsstücke aufs Bett geworfen. Die hat sie aus ihrem Schrank gezerrt. Dann haben alle mich gedrängt, ich solle etwas anprobieren, denn so, wie ich rumlaufe, würde mich keiner anschauen. Ich habe es dann auch getan. Die Mädchen waren so begeistert und sagten alle, wie gut ich aussehen würde. Ich kam mir selber fremd vor, da ich sonst nur Jeans und Pullis trage.  Die Sachen waren kurz, gerade bis über den Oberschenkel. Dann habe ich mich für ein geblümtes Kleidchen entschieden. Das war ziemlich hochgeschlossen, mit einem weiten, schwingenden Rock und Seitentaschen. Eigentlich war es sehr schön.“

„Aber sehr kurz, sagten Sie“, unterbricht die Polizistin. Sie will wohl noch mehr sagen, aber das Klopfen an der Tür hält sie davon ab. „Kaffee, Kekse und Wasser“, die Sekretärin tritt ein und stellt ein Tablett auf den Tisch. „Danke, Frau Müller.“ Der Polizist schiebt das Tablett über den Tisch. „Nehmen Sie“, fordert er die junge Frau auf. Diese nimmt ein Glas und gießt sich Wasser ein. Dann trinkt sie mit gierigen Schlucken.

„Also?“ Die Polizistin sitzt hochaufgerichtet auf ihrem Stuhl und dreht einen Kugelschreiber zwischen ihren Fingern.

Die junge Frau räuspert sich erneut. „Ich weiß gar nicht mehr… Ach, jetzt… Das Kleid… wo war ich?“ Sie kneift ihre Augen zusammen und runzelt die Stirn. Dann beginnt sie wieder vor sich hin zusprechen. „Plötzlich stand er vor mir, dieser Kerl. Was willst du trinken?‘, hat er gesagt. Nur das, nichts anderes, nur, was ich trinken will. Sein Gesicht war rot und verschwitzt und seine Augen sahen glasig aus. Von oben bis unten hat er mich angeschaut und dann gegrinst. ‚Nichts, danke‘, habe ich geantwortet und da hat sich sein Gesicht verzerrt. ‚Wenn ich mit einem Mädchen etwas trinken will, dann tue ich es auch‘, hat er gesagt und mir dabei seinen nach Bier stinkenden Atem ins Gesicht geblasen. Dann nahm er meinen Arm und fing an, mich zur Bar zu ziehen. In dem Moment kam Ann-Kathrin dazu. Bevor er mich losließ, hat er mir noch zugeflüstert, dass er das, was er will, immer bekomme, immer.

Ann-Kathrin wollte wissen, wer das war. Ich habe ihr alles erzählt und gesagt, dass ich nach Hause will. ‘Aber nicht alleine, stell dir vor, er geht hinter dir her‘, meinte sie, und schlug mir vor, dass wir in spätestens einer Stunde gemeinsam gehen könnten, länger wolle sie auch nicht bleiben. Und so haben wir es auch gemacht.“

Die junge Frau holt tief Luft, dann redet sie weiter, schnell und hastig, so als wäre sie froh, wenn alles gesagt ist. „Ich habe es zuerst gar nicht bemerkt. Ann-Kathrin hat mich darauf aufmerksam gemacht. Der sieht aus, wie dein Verehrer aus der Disco, hat sie gesagt. Und tatsächlich, er saß in seinem weißen BMW und schaute nach oben. Wir wohnen im ersten Stock und unser Küchenfenster geht zur Straße raus. Er hat mich gesehen und mir zugewinkt. Jedes Mal an diesem Tag, wenn ich aus dem Fenster sah, war er da und winkte. ‚Mal schauen, wie lange er das durchhält‘, meinte Ann-Kathrin, irgendwann muss er ja mal schlafen oder arbeiten oder zumindest mal was essen oder aufs Klo‘.

Ann-Kathrin hat mich am nächsten Morgen zur Arbeit gefahren und wieder abgeholt. Als er abends wieder vor unserem Haus stand, ist sie hingegangen und hat an die Scheibe geklopft. Was er wolle, rief sie und dass er abhauen solle, sonst holen wir die Polizei. Er hat sich weggedreht und mit seinem Handy beschäftigt. Nach drei Tagen sind wir dann wirklich zur Polizei gegangen. Solange der Mann keine Straftat begeht, können sie nichts tun, haben sie gesagt. Jeder darf in unserem Land in seinem Auto sitzen, wo und solange er will. Da sind wir wieder gegangen.

Aber es hörte nicht auf, überall, wo ich war, tauchte er auf. Ich konnte nicht mehr schlafen, nichts mehr essen. Nach vier Monaten war ich körperlich und seelisch ein Wrack. Da fingen die Drohungen an. Jeden Tag fand ich Zettel auf der Fußmatte. Ich bringe dich um, du Schlampe, war noch eine der harmloseren. Große schwarze fette Buchstaben bestimmten ab diesem Zeitpunkt mein Leben. Ich traute mich kaum noch, das Haus zu verlassen.

‚So geht das nicht weiter‘, sagte Ann-Kathrin, ‚wir müssen selber aktiv werden, wenn die Polizei schon nichts tut. Wir können nicht warten, bis er dich tatsächlich umbringt‘. Lange saßen wir in dieser Nacht zusammen. Zwei Tage später kam das Paket. Als ich sie in den Händen hatte, war meine Angst plötzlich weg. Mit ihr auch meine Hilflosigkeit und Ohnmacht. Ich spürte, wie mein Rücken sich streckte und mein Kopf eine aufrechte Position einnahm. „Du siehst aus wie eine Kriegerin“, flüsterte Ann-Kathrin und genauso fühlte ich mich auch. Die Pistole legte ich auf meinen Nachttisch und schlief zum ersten Mal wieder eine ganze Nacht durch. Wissen Sie, was das für ein Gefühl war?“ Die junge Frau, die bisher vor sich auf ihre Hände geschaut hatte, richtete sich auf.

„Ich fühlte mich stark“, fuhr sie fort, „ stark und frei und endlich wieder in der Lage, alleine das Haus zu verlassen. Es war ein sonniger Frühlingsmorgen, ich genoss die Wärme auf meiner Haut, das pralle Leben auf der Straße. Als ich zurückkam, erwartete ich den nächsten Zettel auf der Fußmatte. Aber dort war nichts. Nichts. Zum ersten Mal seit Wochen. Ich schloss die Haustüre auf und zuckte zusammen. Mitten im Flur lag ein weißes Blatt Papier. Die schwarzen Buchstaben schauten mich höhnisch an. ‚Bald hole ich dich‘, stand dort und plötzlich fingen meine Beine wieder an zu zittern. Das hat mich total wütend gemacht. Da nahm ich meine Handtasche mit der Pistole. Schon an der Haustür sah ich ihn. Er schaute mich an und winkte. Da nahm ich die Pistole. Den Rest kennen Sie.“

„Hat er sie bedroht?“ Der Polizist mit der sanften Stimme schaut sie eindringlich an.

Die junge Frau schüttelt den Kopf.

„ Hätte es nicht auch ein Pfefferspray getan?“ Die Polizistin ist aufgestanden und schlägt mit der Hand auf den Tisch. „Jetzt haben Sie zwei Leben auf dem Gewissen, das des Mannes und Ihr eigenes haben Sie auch versaut.“

Die junge Frau sitzt jetzt kerzengerade. Es scheint, als wäre sie gewachsen. „Das hätte nicht gereicht.“, sagt sie. „ Es musste aufhören, endgültig.“ Sie schaut die Polizistin an und lächelt.

Diese lächelt nicht. „Sie wissen, dass Sie sich damit belasten. Sie haben den Mann vorsätzlich erschossen.“

„Ich weiß“, die junge Frau lächelt immer noch und streicht sich zum wiederholten Male die Locke aus dem Gesicht. „Ich hätte auf mein Bauchgefühl hören sollen.“ Sie stellt das Wasserglas auf das Tablett zurück. „Wäre ich doch an dem Abend zu Hause geblieben.“

 

Version 3