Von Ursula Riedinger
Ich hatte damals die falsche Entscheidung getroffen und alles hatte seinen Lauf genommen. War es Zufall? Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich an jenem Abend nicht mit meinem amerikanischen Arbeitskollegen Mike auf eine Thanksgiving-Party im Konsulat gegangen wäre, sondern, wie ich vorgehabt hatte, zum Geburtstagsfest von Marie, einer Studienkollegin. Mike hatte gedrängt und ich war mit ihm gegangen. Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich an Maries Geburtstagsfest, sagen wir, Barbara kennengelernt hätte?
Die Thanksgivings-Party war nicht so spannend wie erwartet, lauter herausgeputzte Amerikaner, aber ich kam mit Eliza ins Gespräch, einer blonden Schönheit, und unterhielt mich mit ihr einen Abend lang glänzend. Wir plauderten über die Staaten, ich erzählte ihr von meinem Jus-Studium, sie mir von ihrem Job als Theater-Schauspielerin, eine mir unbekannte Welt, die mich faszinierte. Die USA interessierte mich wirklich sehr, aber ich fühlte mich auch geschmeichelt, dass Eliza, die ein Jahr älter war als ich, sich überhaupt für mich interessierte.
Wir tauschten unsere Mobile-Nummern aus, aber trafen uns nach Wochen zufällig wieder in der Stadt. Es war schön mit ihr und wir gingen danach gelegentlich miteinander ins Kino oder an eine Party. Mir gefiel, dass Eliza ernsthafte Pläne und einen Job hatte und nicht nur ans Ausgehen dachte. Eines Abends meinte Eliza, wir gingen jetzt schon so lange miteinander, wir könnten uns doch verloben. Auf diese Idee wäre ich niemals gekommen. Sie meinte, in Amerika sei das ganz normal. Gingen wir wirklich miteinander? Ich sagte schliesslich ja, was in mich gefahren war, weiss ich auch nicht mehr, denn ans Heiraten dachte ich überhaupt noch nicht. Mein Studium würde noch Jahre dauern und ich hatte vor, als angehender Jurist für angelsächsisches Recht in verschiedenen Ländern Erfahrungen zu sammeln, in Sydney, Hongkong, Dublin und in den USA.
Eliza faszinierte mich durch ihre reife Art. Später merkte ich, dass vieles daran gespielt war, das beherrschte sie. Im Sommer wollte sie mich unbedingt ihren Eltern in Massachusetts vorstellen. Ich hatte nichts gegen eine Reise nach Amerika, insbesondere da Eliza respektive ihre Eltern die Reise bezahlen wollten. Ein paar Wochen reservierte ich für meinen Sommerjob und zum Lernen, die anderen verbrachten wir bei Elizas Eltern. Wir hatten noch keinen Verlobungsring gekauft, darauf hatte Eliza nicht gedrängt, und ich fand das eigentlich nicht so wichtig. Aber jetzt musste einer beschafft werden. Ich fand im Internet ein Imitat für 37 Euro, der mir gefiel und etwas darstellte. Eliza akzeptierte ihn ohne Murren.
Elizas Eltern, Paul und Linda, waren von ausgesuchter Höflichkeit, befragten mich zu meinen Studien- und Berufsplänen und zu meinen Lebenszielen. Damit hatte ich keine Probleme, aber über meine eigenen Eltern musste ich ihnen etwas vorflunkern. Meine Eltern waren einfache Leute. Warm wurde ich nicht mit ihnen. Ich merkte bald, wie streng protestantisch und stockkonservativ sie waren und es eigentlich sogar missbilligten, dass ihre einzige Tochter in Europa als Schauspielerin tätig war. Da kam ein zukünftiger Ehemann wohl wie gerufen. Sicher gingen sie auch davon aus, dass es noch keinen Sex vor der Ehe gegeben hatte. Ich war froh, als wir wieder zurückflogen und ich wieder ich sein konnte.
Trotz allem – wir heirateten im folgenden Herbst in Deutschland in der lutherischen Kirche unserer Stadt und luden dann zu einem kleinen Fest im engsten Freundes- und Familienkreis. Meine Eltern schienen fasziniert von Eliza zu sein, aber zwischen ihnen gab es kaum Gesprächsstoff. Eine grössere Feier wurde im folgenden Jahr in Massachusetts organisiert, eine elegante Gartenparty für wohl an die 100 Leute, welche ganz nach Elizas Wünschen realisiert worden war.
Eins ergab das andere. Eliza verlor ihre fixe Stelle am Theater. Kurz darauf eröffnete sie mir, dass sie schwanger war. Das war ganz und gar noch nicht geplant gewesen und ich war nicht glücklich darüber. Natürlich freute ich mich mit ihr auf unser Kind, aber es brachte alle unsere Pläne durcheinander. Da sie zunehmend unter schlechter Laune litt, sie nannte es Heimweh, wollte sie unbedingt nach Amerika zurückkehren.
Wir gaben alles auf und liessen uns in Massachusetts nieder, in einem Haus, das Elizas Eltern uns besorgt hatten. Ich musste mir einen Job besorgen und mein Studium einstweilen aufschieben. Catherine kam zur Welt und im Jahr darauf Thomas. Eliza ging ganz auf im Mutter- und Hausfrausein. Ich liebte meine beiden hübschen gesunden Kinder über alles, aber zwischendurch hatte ich immer wieder mal das Gefühl, dass dies eigentlich nicht mein eigenes Leben sei. Ich wischte es immer wieder zur Seite, schliesslich hatte ich allem zugestimmt. Vielleicht war es mit dem Erwachsensein so, dass man dauernd Entscheidungen treffen musste, die wiederum andere Entscheidungen nach sich zogen. Meine Beziehung zu Eliza hatte sich verändert, wir lebten friedlich zusammen, aber in Wirklichkeit hatten wir keine ernsthaften Themen mehr, die sich nicht um die beiden Kleinen drehten.
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Nun stand ich am Gate im Flughafen von Boston und flog zurück nach Deutschland. Thomas und Catherine hatten mich an den Flughafen begleitet. Sie würden in den Staaten bleiben, sie hatten hier ihr Leben, Catherine war ausgebildete Gesprächs-Therapeutin, Thomas studierte Mathematik. Dazu kam, dass sie trotz meiner Bemühungen beide nicht besonders gut Deutsch sprachen. Es tat mir wirklich weh, dass ich sie nun nicht mehr so oft sehen würde, aber ich wusste, meine Entscheidung war richtig.
Nach Elizas Autounfall überlegte ich lange, was ich tun sollte. Es war ein grosser Schock, mit dem ich und die Kinder fertig werden mussten. Schliesslich wurde mir klar, dass ich zurück nach Deutschland wollte. Meine Eltern waren alt, aber ich wollte auch an mein früheres Leben anknüpfen. Meine früheren Freunde waren verstreut in alle Welt, aber ein kleiner Teil lebte nach wie vor in derselben Stadt. Ich war entschlossen, mir mit viel Geduld und Engagement ein neues Leben zuhause aufzubauen.
Eine der Personen, mit denen ich wieder Kontakt aufgenommen hatte, war Marie, meine damalige Studienkollegin. Sie bot mir an, dass ich am Anfang bei ihrer Familie wohnen könnte. Sie hatte ein grosses Haus in dem ihre vier fast erwachsenen Kinder ein- und ausgingen. An der Geburtstagsfeier ihres jüngsten Sohnes kam ich ins Gespräch mit Barbara. Die lebhafte Barbara war viel gereist, hatte die halbe Welt gesehen, hatte verschiedene längere Beziehungen gehabt, aber selbst keine Kinder. Nun war sie wieder allein, aber voller Ideen für die Zukunft.
Ich fühlte mich sehr wohl mit Barbara und überlegte, was ich sagen sollte, um sie wiederzusehen. Ich erzählte ihr auch, wie es kam, dass ich vor 26 Jahren, nicht an Maries Geburtstagsfest gegangen war, sondern auf eine Thanksgiving-Party. So erfuhr ich von ihr, dass sie damals an Maries Fest dabei gewesen war.
Dabei zwinkerte sie mir zu: «Wie lustig, wir hätten uns schon dann kennenlernen können.»
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