Ingo Pietsch

Samstag Abend 19.55 Uhr

Vera setzte sich aufs Sofa und stellte ihre Tasse mit dampfendem Tee vor sich auf den 

Couchtisch.

Neben ihr im Fernsehsessel saß ihr Mann Günther, der seine Beine hochgelegt hatte.

Gleich begann ihr gemeinsames, wöchentliches Ritual: Das Anschauen der Ziehung der Lottozahlen.

Vera fand es allerdings nicht mehr sonderlich spannend. Trotzdem war diese Ziehung etwas besonderes. Tippten sie doch auf den Tag genau zwei Jahrzehnte schon. Günther würde sich aber kaum daran erinnern.

Der Fernseher lief schon den ganzen Nachmittag und er hatte sich nicht ein Stück aus seinem Sessel bewegt. Außer, um Mal aufs Klo zu gehen.

Vor zehn Jahren, als Günther Mitte vierzig war, zog er sich auf dem Bau einen Arbeitsunfall zu, der sein Bein stark in Mitleidenschaft gezogen hatte.

Seitdem war er berufsunfähig und sauer auf alles und jeden. Aber anstatt sich anderweitig eine Beschäftigung oder ein Hobby zu suchen, ließ er sich gehen.

Er bezog eine gute monatliche Rente und hatte sich von der Abfindung ein Wohnmobil gekauft, mit dem er zusammen mit Vera die Welt bereisen wollte. Ob sie wollte oder nicht. Die „Welt“ entpuppte sich aber bald als Mecklenburgische Seenplatte, da ihr Budget dann doch nicht weiter reichte.

Vera arbeitete in paar Tage die Woche in einem Supermarkt und verräumte Ware.

Sie ging dort völlig in sich auf und war froh, wenigstens für ein paar Stunden nicht Günthers Launen ausgesetzt zu sein.

Seit dem Unfall war er nicht mehr der, den sie damals geheiratet hatte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen – wie aus dem Bilderbuch. Er trug sie auf Händen und war jederzeit zur Stelle, wenn sie Not litt. Jedenfalls früher. Leider waren ihnen Kinder verwehrt geblieben, die sich beide so sehr gewünscht hatten.

Vera nippte genussvoll an ihrem Tee und Günther kaute lautstark Erdnüsse.

Die Ziehung begann.

Sie tippten schon immer die selben Zahlenfolge. Eine Mischung aus Geburtstagen, die Glück bringen sollte.

Die erste Kugel fiel klappernd in den Schacht. „Die 16“, sagte die Moderatorin.

Vera hörte, wie Günther sich an seinem Wochenbart kratzte. Nur gelegentlich rasierte er sich und dann auch ganz bestimmt nicht für sie. Vera konnte sich kaum darin erinnern, wann sie das letzte Mal intim gewesen waren. Sie lebte ihre Phantasie in Liebesromanen aus.

Günther rülpste.

Sie kochte, putzte und erledigte auch sonst alle Angelegenheiten. 

Warum zeigte er sich nicht wenigstens ein bisschen dankbar?

Dann wurde die 4 gezogen.

Günther rutschte in seinem Sessel hin und her und Vera trank noch einen Schluck. Ihre Brillengläser beschlugen im heißen Dampf. Sie lächelte stumm vor sich hin, da sie ahnte, was gleich passieren würde. 

Jetzt war die 7 an der Reihe.

„Drei Richtige“, murmelte er.

„Und jetzt die 9“, kommentierte die Frau im Fernsehen.

„Vera, Vera, 4 Richtige“, freute sich Günther.

Vera starrte in ihre Tasse hinein. Ihr war es eigentlich völlig egal, was da gerade vor sich ging. Sie hatte sich mit ihrem Schicksal abgefunden.

„Die 20 fehlt noch.“

Vera bemerkte im Augenwinkel, wie ihr Mann nach vorne ruckte, so, als würde er so mehr sehen können.

Und die 20 kam.

Er schlug sich mit der Hand auf den Oberschenkel.

„Das sind doch bestimmt ein paar tausend Euro!“, er lachte wie ein kleines Kind. „Von dem Gewinn können wir uns ein neues Vordach für das Wohnmobil kaufen!“

Das war das Allerletzte, was Vera sich von dem Geld kaufen würde. Sie glaubte auch nicht, dass er, obwohl er ihr Mann war, etwas davon teilen würde. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals, sie schwieg aber weiter vor sich hin.

„Los, die 1!“

Aber die 1 kam nicht.

„So ein Mist, wäre ja auch zu schön gewesen.“ 

Günther fuhr sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn durch die Haare und wischte sie sich in seinem speckigen Unterhemd ab.

„Warts einfach ab“, erwiderte Vera.

„Und die Superzahl lautet: 30.“

„Jawoll!“, Günther sprang auf und musste sich sogleich abstützen. „Lass dich umarmen Frau. 

Heute ist unser Glückstag.“

Vera sah die bemitleidenswerte Kreatur an, die ihr Leben zur Hölle machte. Sie immer an der kurzen Leine hielt.

Er stand mit offenen Armen vor ihr und hatte ein Leuchten in den Augen, wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr.

Sie zögerte einen Moment, erhob sich schließlich und begab sich in seine Umarmung, die sie aber nicht erwiderte.

Sie konnte ihm einfach nicht in die Augen schauen. Wenn sie mit einander redeten –  meist schrie er sie an – hatte sie sich angewöhnt auf den Boden zu blicken.

Er verwaltete das ganze Geld, auch das, was sie verdiente. Kam sie gelegentlich fünf Minuten später nach hause, weil sie sich noch mit einer Arbeitskollegin unterhielt, rief er gleich auf ihrem Handy an. Und ständig musste sie um ein Taschengeld betteln, wenn sie dringend benötigte Sachen kaufen wollte.

„Was ist los mit dir, du freust dich ja gar nicht!“ Er schien wirklich überrascht zu sein und hielt sie ein Stück von sich weg, an den Schultern fest.

Stotternd sagte Vera: „Ich habe vergessen, den Schein abzugeben.“

Günthers Gesicht wurde aschfahl. Sein Lächeln verschwand und der Glanz in seinen Augen erlosch.

Einen kurzen Augenblick zögerte er und sie konnte ganz genau sehen, wie es in seinem Gesicht arbeitete.

Dann holte er unerwartet mit der Linken aus, die Vera reflexartig mit ihrem Arm abwehrte. Doch gleich folgte seine Rechte und er schlug Vera seiner flachen Handwerkerhand ins Gesicht.

Der Schlag hallte durchs Wohnzimmer, gefolgt von einem Kieferknacken.

Vera stürzte zu Boden.

Langsam setzte sie sich auf und tastete nach ihrer Brille, die sie auch fand. Das Gestell war halb verbogen. Blut lief aus ihrer Nase.

Günther starrte auf sie hinunter.

Sie spürte keine Schmerzen, obwohl ihr Gesicht dunkelrot war und sich wahrscheinlich bald ins grün-blau verfärben würde. Eine lange Strieme verlief blutend von ihrem Nasenbein über die Wange.

Vera wimmerte, aber nicht aus Angst, sondern vor Wut sich nicht schon längst gewehrt zu haben.

„Das, das …“, stammelte er. Er wollte ihr aufhelfen, doch sie drückte seine Hand mit einem Schnauben und ohne Worte zur Seite. Sie zitterte am ganzen Körper, darauf gefasst, noch mehr Prügel einstecken zu müssen.

Vera zog sich am Sofa hoch und atmete schnell und laut durch die Nase.

Mit festen Schritten ging sie ins Schlafzimmer und packte das Nötigste in einen Koffer.

Günther war ihr gefolgt und redete beschwichtigend auf sie ein: „Das war ein Versehen. Kommt auch nie wieder vor!“

Vera dachte darüber nach. Egal wie gemein er zu ihr gewesen war, er hatte nie Gewalt angewendet.

Sie hielt tatsächlich inne. Würde er sich ändern können? Sie schüttelte den Kopf, durchwühlte ihren Nachttisch und stopfte ein paar Dinge in eine weitere Tasche.

Als sie fertig war, sagte sie: „Weißt du was, ich habe deine Ausreden und Versprechungen endgültig satt. Jahrelang habe ich dich unterstützt und wenn ich mit dir reden wollte, hast du immer darauf hingewiesen, was dir widerfahren ist und wie schlecht es dir geht. Aber damit ist jetzt Schluss!“

Sie befühlte ihre geschwollene Wange und ging Richtung Haustür, kehrte aber noch einmal um. Vera war so voller Adrenalin, dass sie seinen ängstlichen Blick, verlassen zu werden, und die echten Tränen, die über sein Gesicht liefen, völlig ignorierte.

„Das ist für dich, vielleicht tröstet es dich ein wenig!“ Sie warf ihm die Quittung für den abgegebenen Lottoschein an die Brust.

Dieser segelte ohne Beachtung zu Boden.

Vera hatte die Lottozahlen schon im Internet bei der Live-Ziehung gesehen und wusste daher, dass sie gewonnen hatten und Günther auf die Probe gestellt.

Sie drehte sich um und knallte beim Rausgehen die Tür hinter sich zu.

Und was Günther noch nicht wusste: Viele Tausend andere Spieler hatten die selben Zahlen getippt und der Schein nur noch das Papier wert war, auf dem die Zahlen standen.