Von Hanne Laudan

Heute ist ihr Glückstag. Marie findet eine Parklücke direkt vor der Haustür. Routiniert platziert sie ihr Auto dicht neben der Bordsteinkante. Toni ist sicher schon zu Hause, sein Arbeitstag endet am frühen Nachmittag. Sie kann es sich leisten, ihren Mann halbtags arbeiten zu lassen.
Vor dem Aussteigen noch schnell einen Blick in den Spiegel. Sitzt die Frisur? Lippenstift akkurat? Kein verräterischer Fleck? Nein, alles fein. Er darf nicht wissen, womit sie die letzte Stunde zugebracht hat.

Es gibt so Tage, da muss sie einfach Dampf ablassen, wie sie es nennt. Das hat nichts mit Liebe zu tun, für sie ist Sex ein ganz normales Bedürfnis, so wie Essen oder Schlafen.

Gut gelaunt schließt Marie die Wohnungstür auf. Ruft ihm einen fröhlichen Gruß zu. „Hallo Schatz, ich bin wieder da.“
Sie findet ihn in der Küche. Es duftet köstlich – er hat Bolognese à la Toni gezaubert. „Hmm, lecker?“ Im Überschwang gibt sie ihm einen Kuss. Ein wenig unwirsch dreht er sich weg. Ja, sie hätte es wissen müssen. Beim Kochen wird nicht geturtelt, das ist eine ernste Sache. Solche Dinge nimmt er sehr genau.
Er brummelt irgendwas von einem gemütlichen Abend. Dagegen hat sie nichts einzuwenden.

Wenn Marie ihn necken will, sagt sie, dass sie ihn nur wegen seiner Kochkünste geheiratet hat. Ein Körnchen Wahrheit ist da auch drin. Toni ist ein begnadeter Koch. Erstaunlich für einen Bankfuzzi. Sie lässt sich gerne von ihm bekochen.

Der Blick ins Wohnzimmer lässt ihr Herz aufgehen. Ein liebevoll gedeckter Tisch, Kerzen und ihre Lieblingsmusik. Toni weiß, wie sehr sie Mozart liebt.
Er ist ein Schatz und ihre Freundinnen beneiden sie. Sie kennt keinen anderen Mann, der diesen Blick für Details hat. Selbst an Rosen hat er gedacht.
Sie setzt sich schon mal an den Tisch. Beobachtet, wie Toni den Topf mit Bolognese hereinbringt und mit zwei Weingläsern aus dem Wohnzimmerschrank in die Küche zurückgeht. Täuscht sie sich oder ist er anders als sonst. So schweigsam kennt sie ihren Mann nicht. Ob er etwas ahnt? Sie weist diesen Gedanken von sich. Sie war bisher immer vorsichtig. Er hat noch nie danach gefragt.

Toni trägt sie auf Händen. Naja, hat sie sich auch verdient, immerhin verdient sie das Geld. Außerdem, während er in seinem Job nur Papier von einer Seite des Schreibtisches auf die andere verschiebt, hat sie auf Arbeit richtig Verantwortung.


Tonis Stärken liegen mehr im häuslichen Bereich. Er ist ein aufmerksamer und fürsorglicher Ehemann. Mit wunderbar zärtlichen Händen. Sex mit ihm ist wie ein langes genussvolles Menu, mit Appetithappen, Vorspeise, Hauptgang und Dessert, zum Abschluss noch ein Cappucchino. Freilich nichts zum Abreagieren. Aber dafür findet sich immer wer, sie ist schließlich attraktiv.

Apropos Menu. Sie hat Lust. Auf sinnliche Genüsse. Warum nicht mal wieder für Synergieeffekte sorgen. Ein sexy Dinner hatten sie lange nicht mehr. Nach der schnellen Nummer am Nachmittag wird sie sich jetzt ausgiebig verwöhnen lassen. Geschmeidig gleitet sie vom Stuhl.

Toni kennt die zügellose Seite ihres Lebens nicht und das wird auch so bleiben. Wahrscheinlich würde es ihn verletzen oder sie müsste ihm immer wieder Erklärungen liefern. Auf dem Weg zu ihm knöpft sie die oberen drei Knöpfe ihrer eng geschnittenen Bluse auf.
In der Küche hat Toni bereits kühlen Weißwein eingeschenkt und ist dabei, zwei weitere Gläser neben eine Karaffe mit Rotwein auf den Tisch zu stellen. Marie denkt sich nichts dabei. Sie setzt ein verführerisches Lächeln auf, beugt sich zu ihm hinüber und gewährt ihm einen tiefen Einblick in ihr Dekolleté. „Schatz, wollen wir nicht den Nachtisch ein bisschen vorziehen?“ Dabei nimmt sie das ihr am nächsten stehende Glas und trinkt es in einem Zuge leer.

Sie sieht Erschrecken in Tonis Augen, Verzweiflung. Und Wissen.   Schwindel erfasst sie. Wie in Zeitlupe nimmt sie wahr, dass Toni eine kleine gläserne Ampulle auf dem Tisch abstellt. Als ob er mit etwas abschließe. Ohne, dass ihr Mann es aussprechen müsste, begreift Marie in diesem Augenblick, dass er um ihr Geheimnis weiß.
Heftige Krämpfe zwingen sie zu Boden, sie kann kaum noch atmen. Fast nebenbei registriert sie einen auffälligen Geruch. ‚Bittermandel‘, denkt sie, danach verliert sie das Bewusstsein.