Daniel Magar
Mehr als alles andere war er genervt, als sie plötzlich im Türrahmen auftauchte.
“Komm schon”, seufzte er, “das ist weder die richtige Zeit noch der richtige Ort.”
Sie sagte nichts und lächelte ihn an. Sie trug wieder das elfenbeinfarbene Kleid, das sie auch damals getragen hatte. Nicht nur das Kleid, sondern auch sie selbst schienen beinahe durchsichtig zu sein.
“Es ist mein verdammter Hochzeitstag! Ich könnte gerade echt ein bisschen Ruhe vertragen. Und was ist, wenn irgendjemand dich hier sieht? Was macht das denn für einen Eindruck?”
“Niemand wird mich sehen”, sagte sie leise. “Das weißt du doch.”
“Ja ja, was auch immer … Was machst du hier?”
“Das fragst du mich? Ich bin doch wegen dir hier.”
“Als ob. Ich habe gerade genug damit zu tun, mich auf die Trauung vorzubereiten.”
“Und in Panik zu geraten.”
Er lächelte. Manchmal hatte er das Gefühl, dass sie ihn lesen konnte wie ein Buch. Er wusste, dass das Unsinn war, schließlich hatten sie nur etwas mehr als zwölf Stunden zusammen verbracht, aber trotzdem …
“Dann lass mal hören”, sagte sie und trat einen Schritt in dem Raum.
Er beobachtete den Stoff ihres Kleides, der über ihre weichen Oberschenkel glitt, als sie ihr Bein nach vorne setzte.
“Was denn?”, fragte er, obwohl er wusste, was sie meinte.
Sie strich sich schweigend eine Haarsträhne hinters Ohr.
Er seufzte wieder und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. “Ich frage mich, ob ich einen Fehler mache.”
“Wie es vermutlich jeder tut, der heiratet.”
“Kann sein. Hilft mir aber auch nicht.”
“Was lässt dich zweifeln?”
Er schaute sie entgeistert an. “Oh, lass mich mal überlegen. Wie wäre es zum Beispiel damit, dass es mittlerweile vier Monate her ist, dass wir uns gesehen haben und es seit dem keinen Tag gab, an dem ich nicht daran gedacht habe? Egal wo ich bin, du bist auch dabei. Wenn ich vor dem Rechner sitze und Code schreibe, wenn ich Fußball spiele, wenn ich mit meiner Freundin im Bett bin. Immer.”
“Tut mir leid.”
“Nein, tut es dir nicht.”
“Stimmt. Ich kann ja auch nichts dagegen tun. Das ist dein Problem.”
“Ja … Danke für die Erinnerung.”
“Und was denkst du, warum das so ist?”
“Warum ich ständig an dich denke?”
“Ja.”
“Ist das nicht offensichtlich?”
“Sag’s mir.”
Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dann schüttelte er den Kopf und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. Schließlich zuckte er mit den Schultern. “Ich hab mich in dich verliebt?”
“Falsch.”
“Wie falsch denn?”
“Schon sehr falsch.”
“Okay …”
Für einige Momente herrschte Schweigen. Sie setzte sich auf den anderen freien Stuhl und schlug die Beine übereinander.
“Sagst du mir auch, warum das falsch ist, oder …?”
“Wie willst du dich in mich verlieben, wenn du mich nicht mal richtig kennst. Wir haben uns einen Abend lang gesehen und waren beide betrunken.”
“Weiß ich doch nicht. Ist halt passiert.”
“Nein.”
“Ich habe es meinem Kumpel erzählt. Das mit uns, meine ich.”
Er hatte erwartet, dass sie diese Information überraschen würde, aber sie sah ihn weiter stoisch an. “Da bin ich aber mal gespannt, was dein Kumpel dazu zu sagen hat.”
“Er meinte, das Beste, was ich tun könnte, ist, dich zu treffen und mit dir zu schlafen. Er ist überzeugt davon, dass das helfen würde, dich zu vergessen.”
“Ist das der Grund, warum ich heute hier bin?”
Er schaute zu Boden. “Nein, natürlich nicht.”
“Sicher?”
Als er wieder hochschaute, hatte sie ihre Beine nebeneinander gestellt und begann langsam ihre Oberschenkel zu öffnen. Der Saum ihres Kleides kroch nach oben und gab den Blick auf weiße Spitzen frei.
“So viel dazu”, sagte sie, bevor sie ihre Beine wieder überschlug und ihr Kleid glattstrich. Sie senkte den Blick. “Vielleicht solltest du vor der Trauung noch einmal kalt duschen.”
“Sorry”, sagte er und überschlug seinerseits die Beine. “Ich wäre einfach froh, der Abend wäre nie passiert.”
“Und du denkst, das hätte alles besser gemacht? Dass das alles bloß ein unglücklicher Zufall war?”
“Offensichtlich. Wenn ich dich nie getroffen hätte, würden wir jetzt nicht hier sitzen.”
“Ich vielleicht nicht, aber wahrscheinlich du mit irgendeiner anderen Frau. Und wenn nicht heute, dann in ein paar Monaten oder Jahren.”
“Nein. Das wäre mir mit keiner anderen Frau passiert.”
“Ach, und warum nicht?”
“Weil ich noch nie eine Frau kennengelernt habe, die so ist wie du.”
“Wie bin ich denn?”
“Du bist …” Er überlegte kurz. “Du bist voller Energie… Und du bist lustig und schlagfertig. Du willst was erleben und hast keine Angst, dafür Risiken einzugehen. Du bist irgendwie … frei.”
“Tja, was soll ich sagen. Kokain ist eine … interessante Droge.”
“Was?”
“Ja. Und was meine Abenteuerlust angeht: Ich wohne seit zehn Jahren in einer dreißig Quadratmeter großen Bude im Dorf, wo ich geboren wurde. Ich habe das Studium nach einem halben Semester abgebrochen und halte mich seitdem mit allen möglichen Gelegenheitsjobs über Wasser. Auf der Innenseite meiner Oberschenkel habe ich frische Schnittnarben, und nachts kann ich nicht schlafen, weil die Gedanken in meinem Kopf nicht aufhören zu rasen vor lauter Zukunftsangst.”
Er schaute sie schweigend an. Dann fragte er leise: “Stimmt das alles?”
Sie zuckte mit den Schultern. “Kann sein, kann auch nicht sein. Keine Ahnung. Der Punkt ist, dass du es auch nicht weißt, weil, und jetzt hör mir genau zu: Du. Mich. Nicht. Kennst.”
Er spürte, wie der Frust in ihm aufstieg. “Und was ist deiner Meinung nach der Grund dafür, dass ich dich nicht aus dem Kopf kriege?”
“Ich weiß es nicht, aber es ist ganz offensichtlich, dass du dich, wenn überhaupt, nur in deine Idee von mir verliebt hast. Du scheinst zu denken, dass mein Charakter sich auf dich übertragen würde, wenn du mit mir schlafen würdest. Dass es dich zu einem anderen Menschen machen würde und mit einem Mal all deine Probleme gelöst wären. Dass es dich auf magische Weise aus deinem imaginären Käfig befreit.”
Er konnte plötzlich nicht mehr länger auf seinem Stuhl sitzen und sprang auf. “So ein Quatsch.”
“Du kannst es dir immer noch nicht eingestehen, dass es ein Fehler ist”, sagte sie und schüttelte langsam den Kopf.
“Den einzigen Fehler, den ich gemacht habe, ist, dass ich auf diese Party gegangen bin. Wenn ich dich nie getroffen hätte, wäre es nie zu dieser kurzzeitigen Verwirrung gekommen. Und mehr war es nicht, bitte bilde dir nichts anderes ein.”
“Was? Du verstehst gar nicht, was ich dir sage!”
“Es ist mir egal, was du sagst! Ich sage, dass ich nichts anderes will als das hier! Das ist mir jetzt endgültig klargeworden. Ich will heute heiraten. Ich will Kinder kriegen.”
“Du redest dir ein, dass du das willst, weil es das ist, was deine Freunde machen!”
“Nein. Ich will es. Ich kann nicht ewig davor wegrennen. Ich bin jetzt in einem Alter, wo man auch einfach mal eine Entscheidung treffen und die Sache dann durchziehen muss. Und das habe ich und das werde ich.”
“Du …”
“Nein! Ich will nichts mehr von dir hören. Lass mich einfach in Ruhe.” Er wandte sich von ihr ab und betrachtete sich selbst im Spiegel. Überrascht stellte er fest, dass seine Wangen feucht waren.
Er hörte, wie die Tür sich öffnete und jemand sachte gegen den Rahmen klopfte.
“Alles in Ordnung bei dir?”, fragte eine Männerstimme.
“Ja, alles gut.” Er atmete durch und wischte sich mit dem Ärmel seiner Jacke durch Gesicht.
“Alles klar. Es kann dann losgehen.”