Von Andrea Gebert

„Du hast eine schöne Stimme“, sagt der Pianist, nachdem sie sich vorgestellt hat.

„Das ist aber auch alles, was übrig geblieben ist.“

Seniorenkabarett. Der Probenraum in einem Begegnungszentrum für ältere Menschen, die Vorstellungen überwiegend in Seniorenheimen zur Kaffeezeit. Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie die Nase gerümpft, nun ist sie hier. Besser als nichts, Anna liebt die Bühne, deren Bretter ihre Welt waren und bleiben. Jahrzehntelang war sie bei den großen Theatern der Stadt als Statistin gelistet, auch beim Film hatte es kleinere Rollen gegeben. 1971 hatte sie in „Polizeiruf 110“ das erste Mal vor der Kamera gestanden und Blut geleckt. Zuletzt hatte sie es immerhin in „Bridge of spies“ mit Tom Hanks geschafft. Das ist nun leider Geschichte. Die Angebote waren immer spärlicher geworden, bis sie fast völlig ausblieben, und die wenigen Auftritte, die sie noch bekam, lohnten den weiten Weg ins Stadtzentrum nicht. Seitdem der Augenarzt grauen Star bei ihr diagnostiziert hatte, benutzte sie das Auto nur noch zum Einkaufen und spätabends mit den Öffentlichen zu fahren, wurde ihr, trotz Pfefferspray in der Handtasche, immer unheimlicher. 

Die Gruppe besteht aus sechs Frauen und vier Männern. Der Älteste ist siebenundachtzig, er schreibt alle Sketche selbst. Der Pianist, ein ehemaliger Tonmeister, komponiert die Musik dazu. Sie soll die Sketche von Hildegard, die vor einigen Wochen verstorben ist, übernehmen.

„Ich würde dich gern nach Hause bringen“, sagt der Pianist, als sie sich verabschiedet.

„Ich bin keine achtzehn mehr.“

Vor der nächsten Probe verbringt sie Ewigkeiten vorm Spiegel. Zieht die schwarze Hose wieder aus, probiert den dunkelblauen Kleiderrock, verwirft ihn schließlich und entscheidet sich für das knielange Karokleid. An den Haaren ist nichts zu retten. Die behalten zwar  seltsamerweise ihre Ursprungsfarbe, ein Straßenköterblond und verweigern standhaft das Grauwerden, dafür werden sie von Jahr zu Jahr weniger und dünner. Ihre ohnehin hohe Stirn wirkt dadurch noch größer. Dem Faltenkranz, der sich um ihre Lippen zieht, ist auch mit dem Modellierstift nicht beizukommen. Immerhin sind ihre Lider noch so gut erhalten, dass sie sie bemalen kann. Anna liebt Lidschatten. Zeit ihres Lebens hat sie alle Farben besessen, um ihre Lider, passend zur Garderobe, zu färben.

Als sie den Probenraum betritt, ist sie tatsächlich ein bisschen aufgeregt.

„Wir müssen heute leider ohne musikalische Begleitung proben. Herbert hatte wieder einmal einen kleinen Unfall.“ erklärt Liane.

„Was ist passiert?“ Anna erschrickt.

„Es ist immer das Gleiche. Er benutzt zu Hause seinen Stock nicht, weil er schwört, dass er die Wohnung wie seine Westentasche kennt.“

„Ich hatte nicht den Eindruck, dass er besonders hinfällig ist.“

„Ist er auch nicht, nur blind.“

„Ah“. Sie nickt und läßt sich seine Telefonnummer geben. Am Abend wählt sie die Nummer. Eine weibliche Stimme meldet sich am anderen Ende. Sie legt auf.

Bei der nächsten Probe sitzt Herbert wieder am Klavier, den linken Ellbogen bandagiert und auf der Stirn ein großes Pflaster.

„Wie geht es dir?“

„In diesem Augenblick großartig.“

Er spielt größtenteils einhändig. Sie kann sich nicht konzentrieren. Immer wieder fällt ihr Blick auf den blinden Mann und sie fragt sich, wie er es schafft, die richtigen Tasten zu treffen. 

Am Sonntag darauf klingelt ein Fleurop-Bote bei ihr und überreicht einen Strauß blassgelber Rosen mit einer Karte.

Für die Frau mit der wunderbaren Stimme.“

Es ist viele Jahre her, dass sie von einem Mann Blumen bekommen hat. Zärtlich berührt sie die Blütenköpfe und saugt den zarten Duft in sich ein. Die Tage bis zur nächsten Probe werden ihr lang und sie denkt mehr an ihn, als ihr gut tut. 

„Dein Strauß ist sehr schön.“

„Genauso wie die Empfängerin.“

„Wenn du wüsstest…“

„Ich weiß, dazu muß ich nicht sehen können.“

„Du bist ein Charmeur.“

„Mit beinahe achtzig ist das ein riesiges Kompliment.“

„Ich möchte dich etwas fragen.“

Sie nickt, bis ihr einfällt, dass er das nicht sehen kann.

„Ja, bitte?“

„Würdest du mich zu einem  Konzert begleiten? Meine Frau mag keine klassische Musik.“

Es wird ein wundervoller Abend. Er hat sie mit einem Taxi abgeholt und bringt sie auch wieder nach Hause. Sie haben die 5. Sinfonie von Bruckner gehört und ein Klavierkonzert von Mozart. In der Pause hat sie ihn untergehakt. Sie sind die Treppen zum Foyer hinabgestiegen und haben Sekt getrunken, dazu haben sie sich eine Butterbrezel geteilt. Als sie ihn gefragt hat, ob seine Frau auch wirklich nichts dagegen hat, wenn er mit ihr ins Konzert geht, hat er nicht geantwortet.

Eine Spielzeit lang besuchen sie gemeinsam die Konzerte  der Reihe E in der Philharmonie, für das er mit seiner Frau ein Abonnement hat.

Im Sommer fährt Anna zu ihrem Sohn und dessen Familie nach München. Nach einem Freiluftkonzert im Englischen Garten hält sie es nicht länger aus und wählt Herberts Nummer. Es nimmt niemand ab.

Als sie zurückkommt, ist eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter.

„Mein Mann hatte einen Schlaganfall. Er liegt im St. Gertrauden-Krankenhaus, Station 8,

Zimmer 11. Bitte besuchen Sie ihn, er wartet!“ 

 

V2