Von Daniela Seitz

„Ich finde den Film wirklich beeindruckend. Die Alten opfern sich, damit das Dorf überleben kann! Und dann diese Einblendungen aus der Natur, wie Tiere jagen, singen und Leben gebären. Ich..“

„Ist das dein Ernst, Hiko-kun? Würdest du wirklich deine 70-jährige Oma zum Berg Narayama zum Sterben tragen, nur weil das Dorf so arm ist. Nur weil für die Allgemeinheit beschlossen wurde, dass alle mit 70 Jahren das Dorf verlassen und zum Sterben in die Berge gehen müssen? Wie herzlos bist du eigentlich?“

„Es ist eine Ehre, Miaka-chan! Außerdem würde ich meine Oma dann wohl eher nach Aokigahara schicken. Das ist viel näher!“

„Aokigahara?“

„Ja Miaka-chan, der Selbstmordwald. Er ist gleich am Fuße des Fuji. Wir haben dorthin Schulausflüge gemacht.“

„Na das habe ich gerne verpasst. Gut das ich gerade erst hierher gezogen bin. Da will ich keinesfalls hin!“

„Miaka-chan, Ubasute ist eine historische Tradition. Auch wenn sie nicht mehr praktiziert wird, sollten wir die Ballade noch mal anschauen. Das ist gut für deine Geschichtskenntnisse und deine Schulnote“, lacht Hiko und startet den Film von vorne.

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Miaka hatte das Haus verlassen. Hiko kannte sie von der Nachhilfe, die sie bei ihm in Anspruch genommen hatte und obwohl sie sich angefreundet hatten, konnte er es immer noch nicht lassen, eher Filme mit Anspruch auszuwählen. Sie bereiteten ihm einfach Freude. Auch wenn die Ballade von Narayma aus dem Jahr 1983 war.

Er kontrollierte sein Handy und antwortete auf mehrere Whatsapps. Dann lud er sein Telefon auf und ließ es im Wohnzimmer am Stromkabel. Ging unter die Dusche und genoss das Wasser auf seiner Haut. Er schamponierte seine Haare, machte den Mund weit auf und trank das Wasser. Verschluckte sich und prustete, als er sein Handy klingeln hörte.

Er stellte das Wasser ab, griff nach dem Handtuch und folgte dem Klingeln mit noch immer schamponierten Haaren. Es lag im Flur direkt vor dem Bad und forderte weiter Beachtung für eine unbekannte Nummer. Er ging ran.

„Hallo?“

„Mmm, mit schamponierten Haaren siehst du richtig niedlich aus“, meldete sich eine weibliche Stimme, die er nicht kannte.

„Wer sind Sie? Können Sie mich etwa sehen?“

Er sah sich hektisch um. Das Haus war still. Seine Eltern noch nicht zurück. Der Flur war dunkel. Nur das Licht aus dem Bad schien durch die offen gelassene Tür in den Flur.

„Ich beobachte dich schon sehr lange. Trenn dich von ihr oder du bereust es“, fordert die Stimme.

„Aber wir sind gar nicht…Hallo?“, unterbricht er sich, als er nur noch ein Tuten vernimmt.

Aufgelegt! Ohne zu überlegen griff er nach dem Fensteröffner im Bad, dessen langer Handgriff sich zur Verteidigung eignete. Dann suchte er das ganze Haus ab. Systematisch. Sie musste im Haus gewesen sein. Anders ließ sich nicht erklären, wie er das Handy überhaupt hatte klingeln hören können, dass eigentlich unhörbar im Wohnzimmer hätte liegen müssen. Ob sie ihn sogar beim Duschen beobachtet hatte? Oder noch schlimmer, ob sie Miaka-chan nun auch beobachten würde?

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Bei jedem Handyklingeln fragte er sich nun, ob es wieder die Unbekannte sein würde. Doch es passierte nichts weiter. Auch fiel ihm sonst nichts weiter auf, obwohl er sich nun selbst auf der Straße umsah, ob ihm jemand folgte. Im Haus hatte er niemanden finden können. Er hatte Miaka-chan informiert und sie gebeten auf sich aufzupassen. Doch sie nahm es nicht ernst, da auch bei ihr nichts weiter passierte. Also ging er ran, als Miaka-chan ihn anrief.

„Hallo Miaka-chan“

„Hiko-kun, kannst du mich abholen?“, fragte sie mit unnatürlicher Stimme.

„Klar, wo bist du denn?“

„In Aokigahara“

„Was machst du denn da. Ist das nicht der letzte Ort an dem du sein willst?“

„Heute ist es anders. Du weißt, dass ich keinen wirklichen Anschluss unter den Mädchen gefunden habe?“

„Na ja, schon, aber dir schien das nicht so viel auszumachen. Was ist heute passiert?“

„Die Mädchen neiden mir die Freundschaft zu dir und haben mich gemobbt. Heute in der Umkleide…“, begann sie, doch ihre Stimme bricht.

„Okay, okay, aber du hast doch nicht ernsthaft vor…?“, fragt er und hat Angst vor dem Ende des Satzes.

„Ich wollte, aber… aber…kannst du mich bitte einfach holen kommen?“, weinte sie ins Telefon.

„Ich bin schon unterwegs. Wo im Wald treffen wir uns? Kannst du zum Parkplatz rauskommen?“

„…ja, ich gehe zurück zum Parkplatz…“, sagt sie leise und legt auf.

Hiko machte sich auf dem Weg zum Selbstmord-Wald. Er brauchte eine halbe Stunde, in der er immer wieder versuchte Miaka anzurufen, doch sie ging nicht mehr ans Handy. Er hoffte, dass sie sich nicht verirrte und am Parkplatz auf ihn warten würde. Das sie vielleicht doch das Undenkbare tun könnte, weil er zu lange brauchte, war ihm unerträglich.

Doch auf dem Parkplatz war niemand zu sehen. Er würde sie also im Wald suchen müssen. Er schaute auf die Uhr. Noch drei Stunden bis Sonnenuntergang.

„Mach keinen Unsinn, Miaka-chan, bitte“, flüsterte er, als er sich in den Wald hineinwagte.

Er suchte nun schon seit zwei Stunden und hatte sich so tief hineingewagt, dass er selbst wenn er jetzt umkehren würde, den Rückweg im Dunkeln zurücklegen würde. Hiko dachte an die Geschichten, die sich über den Wald erzählt wurden. All die Seelen der Alten und Kranken, die in diesem Wald zurückgelassen worden waren und nun den Wald durchstreiften auf der Suche nach Unwissenden, die die Wege verließen. Um sie in den Selbstmord zu treiben.

War das mit Miaka-chan passiert, nachdem sie ihn angerufen hatte? War sie vom Weg abgekommen und von diesen Seelen gefunden worden? Sie hatte zum Parkplatz zurückkommen wollen. Und nun suchte er sie schon viel zu lange. Hatten sie sich nur verfehlt und war sie nun beim Parkplatz? Glaubte Miaka-chan vielleicht sogar, dass er sie nicht abholte?

Er verließ den Weg. Seelen hin oder her, das waren nur Legenden. Hiko musste Miaka-chan finden. In diesem Wald war sie wohl die größte Bedrohung für sich selbst. Ihn selbst konnte vermutlich rein gar nichts passieren, außer, dass er sich im Dunkeln versehentlich die Knochen brechen konnte. Gut das sein Handy voll aufgeladen war und eine Taschenlampenfunktion hatte.

„Miakaaa-chaaaan!“, fing er an nach ihr zu rufen.

Zur Antwort hörte er einen weiblichen Schrei. Weit entfernt, doch er begann zu rennen. Sprang über Wurzeln, die ihm eine Stolperfalle hätten werden können und ignorierte die Zweige, die ihm ins Gesicht peitschten.

„Miiiiiakaaaa-chaaaan!“, schrie er immer wieder, in der Hoffnung, dass ihre Stimme ihn weiter lotsen würde.

Und er fand sie. Zu spät. Ein Bild des Grauens, das sich ihm im letzten Dämmerlicht auf einer kleinen Lichtung präsentierte. An einem Baum. Leblos. Wie eine Puppe, die von einem Puppenspieler in den Tod geschickt worden war. Eindeutig erhängt. Doch gleichzeitig an Händen und Füßen von Puppenspielerseilen gehalten.

„Neeeeeeeeiiiiiin! Miiiiiiaaaakaaaachaaaan!“, brüllte Hiko.

Sie war zu weit oben. Er suchte nach einem Weg sie von den Seilen zu befreien. Als sein Handy klingelte. Eine unbekannte Nummer.

„Was?“, wütet er ins Handy.

„Ich hatte dich gewarnt!“, erklingt süffisant die weibliche Stimme vom Hausvorfall.

„Und deshalb bringst du sie um?“, ereifert er sich.

„Wer sagt denn, dass sie das Ziel ist?“, fragt seine Stalkerin gefährlich ruhig.

„Schön dann zeig dich! Komm her und versteck dich nicht hinter dem Telefon“, brüllt Hiko.

„Wo bleibt denn da der Spaß? Genieße deine Nacht in Aokigahara. Den Weg findest du im Dunkeln sowieso nicht mehr zurück.“

„Ich habe keine Angst vor dir!“

„Aber vielleicht vor den Seelen, die in diesem Wald leben! Gute Nacht!“, lacht die Stimme ein böses Mädchenlachen und legt auf.

Hiko hörte nur noch das Tuten der unterbrochenen Verbindung in einem stockdunklen Wald nach Sonnenuntergang, in dem er die Orientierung verloren hatte.

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