Von Raina Bodyk

Gedankenverloren lässt Rosa die Stricknadeln sinken. Sie arbeitet an einem Schal, der wahrscheinlich wie so viele seiner Vorgänger nie fertig werden wird. Sie schüttelt über sich selbst den Kopf und grinst ihren Mann schief an, der von einem Foto aus dem letzten gemeinsamen Urlaub herunterlacht.

„Mach dich ja nicht lustig! Ich weiß selbst, dass dieses grüne Teil nie seine Vollendung erleben wird. Aber ich muss mich irgendwie beschäftigen. Warum hast du mich auch verlassen. Mit vierzig stirbt man nicht! Ich vermisse dich!“

 

Erschreckt zuckt sie zusammen, als plötzlich das Telefon mitten ins einseitige Gespräch klingelt

„Hier Rosa Enders.“

„Kann ich bitte Stefan Enders sprechen?“

„Nein, das geht nicht. Wer sind Sie und was möchten Sie von meinem Mann?“

Im Hörer wird es kurz still. Plötzlich klingt die weibliche Stimme unsicher, sie stottert sogar ein wenig. 

„E-entschuldigen Sie bitte, ich b-bin Mila Neupert. Ich, ich … Ich glaube, er ist mein Vater.“

„Sind Sie verrückt? Was bilden Sie sich ein! Mein Mann hatte keine Kinder.“

„Warten Sie bitte. Nicht auflegen. Hören Sie mich erst an. Aber – wieso ‚hatte‘?“

„Das geht Sie eigentlich nichts an. Nun, wenn Sie es genau wissen wollen, er ist vor kurzem gestorben.“

„Oh!“ Damit hat die unbekannte Anruferin anscheinend nicht gerechnet. „Was mache ich denn jetzt?“

Rosa spürt trotz ihres Ärgers über die Hartnäckigkeit der anderen, dass deren Verwirrung und Verzagtheit echt sind. Sie fühlt fast ein wenig Mitleid.

„Kann ich Ihnen helfen? Worum geht es denn?“

„Ich wollte Herrn Enders etwas Wichtiges zeigen. Aber das ist ja nun zu spät.“

„Etwas Wichtiges? Soll ich es mir ansehen?“

„Oh, das wäre toll. Danke! Darf ich Sie besuchen kommen? Morgen Nachmittag? Ich bringe die Briefe mit.“

„Welche Briefe?“

Doch die Fremde hat schon aufgelegt, hat nicht einmal auf ihre Zustimmung gewartet. Merkwürdig, sie klang so aufgeregt! 

Stefans Tochter! Diese Mila hörte sich so überzeugt an. Aber … Nein! Das kann nicht sein. Wie sehr haben sie beide sich ein Kind gewünscht und doch hat es nie geklappt. Ob sie eine Trickbetrügerin ist?

 

Am nächsten Nachmittag steht eine attraktive Unbekannte, etwa achtzehn Jahre alt, vor der Tür. Sie wirkt recht sympathisch und ein wenig eingeschüchtert. Nervös umklammert sie einen kleinen Blumenstrauß. 

Rosa verlässt sich auf ihre Menschenkenntnis. „Na, dann kommen Sie mal rein.“

Am Esstisch hat sie Gelegenheit, Mila genauer unter die Lupe zu nehmen. Als diese lebhaft mit beiden Händen von sich erzählt, ist die Ähnlichkeit mit Stefan nicht zu verkennen. Das gleiche Mienenspiel, die gleichen Gebärden. Nur wie kann das sein? Er hätte ihr doch von einer Tochter und einer anderen Beziehung erzählt …

Andererseits – da war etwas, über das er nie reden wollte. Seine erste große Liebe hat ihn wohl sitzen lassen.

Aber jetzt ist Stefan tot. Sie spürt einen scharfen Schmerz in der Brust. Wie gern hätte sie ein Kind von ihm gehabt. Doch sie haben vergebens gehofft. Sie hat lange gebraucht, damit fertig zu werden.

Und jetzt sitzt ihr sein Ebenbild gegenüber. Das tut weh! Was erwartet das Mädchen von ihr?

„Wissen Sie, ich habe meine Mutter nie kennengelernt. Sie ist bei meiner Geburt gestorben. Ich bin bei meiner Oma aufgewachsen.“

Was wollen Sie von mir?“

„Ihn kennenlernen!“

Diese schlichte, ehrliche Antwort lässt Rosas innere Abwehr ein wenig bröckeln.

 

Mila holt einen kleinen Stapel vergilbter Briefe aus ihrem Rucksack und legt sie ihrem Gegenüber hin.

„Das ist Stefans Schrift!“ Die Witwe dreht überrascht ein Kuvert um.  

„Der Absender! Deshalb konnten Sie uns – das heißt, mich – finden. Wir sind ja nie aus seinem Elternhaus weggezogen. Und Dorothee, an die die Briefe gerichtet sind, ist Ihre …?“

„Ja, meine Mutter.“ 

„Und wie passt mein Mann in Ihre Geschichte?“

„Das ist so: Oma kann einfach nichts wegwerfen. Allein mit ihrer Bettwäsche könnte sie ein komplettes Hotel ausstatten.“

Rosa muss lachen. Das junge Mädchen erzählt so lebendig, zieht vielsagende Grimassen dazu.

„Oh je!“

„Stimmt! Überall stehen Schalen, Vasen, Figürchen. Ich habe dauernd Angst, etwas runterzuwerfen. Da hat das Schicksal eingegriffen. Die Grippe hat sie mit Fieber und einer Kehlkopfentzündung erwischt. Das war die Gelegenheit für mich, mal ordentlich auszumisten, ohne dass sie dazwischenfunkt.“

„Ich verstehe! Sie muss das Bett hüten und sprechen kann sie auch nicht …“ 

„Genau! Ist das nicht praktisch? Sie kriegt bloß krächzende Töne heraus, die keiner versteht! Eigentlich will sie ja ausmisten, aber bei jedem einzelnen Stück, sogar bei den grässlichen Gartenzwergen, diskutiert sie stundenlang.“

Rosa muss schon wieder kichern. Sie kann sich das nur zu gut vorstellen. Die junge Dame scheint ein echter Wirbelwind zu sein. 

„Das ist ja alles sehr amüsant, doch verstehe ich immer noch nicht, was das für Briefe sind und was ich damit zu tun habe.“

„Richtig! Oma sagt dauernd, ich rede zu viel. Womit sie natürlich recht hat. Nur wer nicht redet, erfährt auch nichts. Also – ich habe diesen Stapel Briefe im Wäscheschrank ganz hinten unter den Bettlaken gefunden.“

„Und Sie haben sie gelesen?“

„Natürlich! Sie sind doch an meine Mutter. Oma hat stets erzählt, sie wüsste nicht, wer mein Vater ist. Das habe ich ihr nie geglaubt und habe sie immer wieder bekniet. Aber sie wollte partout nichts verraten. Doro und Stefan, das war die ganz große Liebe!  Wenn ich mich mal so richtig verliebe, wird es für mich auch nur den einen geben.“

Rosa weiß nicht, ob sie über so viel kindliche Naivität lachen soll oder den Kopf schütteln. Wahrscheinlich ist sie bei der Großmutter viel zu behütet und verwöhnt aufgewachsen. Vorsichtig bringt sie Mila zurück zum Thema.

„Ach ja, die Briefe. Darin steht, dass Stefan und meine Mama ein Paar waren. Sie waren total verknallt! Hören Sie zu:

 

‚Liebste Doro,

mein Herz denkt Tag und Nacht an dich. Ich habe solche Sehnsucht nach dir. Wann kommst du endlich zurück? Du pflegst deine Tante schon seit vier Wochen. So ein Beinbruch kann doch nicht ewig dauern. Ich möchte deine Küsse wieder spüren, deine Haut an meiner Haut, durch deine seidigen Haare streichen. Ohne dich mag ich nicht mehr sein. Du bist die eine, auf die ich immer gewartet habe!‘

 

Ist das nicht wundervoll romantisch?! Sie müssen mir alles über ihn erzählen.“

 

Mila strahlt sie an. Ihr ist gar nicht bewusst, was diese zärtlichen Worte in der Witwe anrichten. 

Das soll ihr Stefan geschrieben haben? Er hat doch sie geliebt! Wie oft hat er ihr das gesagt. Nie eine ‚Doro‘ erwähnt. Rosa fühlt sich, als hätte es ihr den Boden unter den Füßen weggerissen. In ihr tobt eine Mischung aus Eifersucht, Trauer, rasendem Schmerz und völligem Nichtverstehen. 

Sie muss hier raus! Sie fährt von ihrem Stuhl hoch, der krachend umstürzt, und läuft wie gehetzt an Mila vorbei aus dem Raum. Eine Hand hält sie abwehrend hoch. Nur jetzt keine Fragen! Mit letzter Kraft schafft sie es, ihre Tränen zurückzuhalten, bis sie die Schlafzimmertür hinter sich geschlossen hat. 

Mila ist so bestürzt über diese heftige Reaktion, dass ihr auch die Tränen kommen. Nie hat sie daran gedacht, wie solche Sätze auf die andere wirken könnten. Langsam dämmert ihr, was sie angerichtet hat. Sie wollte doch nur etwas über ihren Vater erfahren!

 

Es dauert lange, bis Rosa sich beruhigt. Als ihr Atem endlich ruhiger geht, beginnt sie langsam, wieder klar zu denken. Stefan hat sie geliebt! Sie weiß das! Das andere hat nichts mit ihr zu tun, war vor ihrer Zeit. Sie weigert sich, an ihrer Zuneigung und ihrer Ehe zu zweifeln. Sie sind so glücklich gewesen und haben so viel gemeinsam gelacht, erlebt, durchgestanden. Diese Doro war nur eine Jugendliebe!

Aber was ist mit Mila? Sie muss zurück zu ihr und auch noch den Rest hören. Hoffentlich ist sie nicht weggelaufen. Nein, da sitzt sie, als hätte sie sich die ganze Zeit nicht bewegt und starrt sie mit erschrecktem Gesicht an, auf dem noch Tränenspuren glänzen.

„Entschuldigen Sie, das war im Moment zu viel für mich!“

„Ich hätte Sie nicht so überfallen sollen. Ich habe gar nicht daran gedacht, wie Sie sich dabei fühlen müssen. Für mich war es einfach eine glückliche Fügung des Schicksals, dass ich diese Briefe gefunden habe. Endlich weiß ich, wer mein Vater ist.“

„Wenn es Stefan ist, wieso sind Sie nicht bei ihm aufgewachsen? Wieso hat er mir nichts davon erzählt?“

„Ich glaube, er hat von der Schwangerschaft gar nichts gewusst. Meine Oma hat seine Briefe an meine Mutter unterschlagen. Sie hat sie bestimmt gezwungen, das Baby, also mich, bei der Tante auszutragen, damit es kein Getratsche gibt. Von wegen Bein gebrochen! Außerdem waren die beiden doch noch so jung, vielleicht wollte Oma nicht, dass ihre Tochter so früh heiratet.“ 

„Hmm, möglich.“

 

„Hier, lesen Sie:

 

‚Doro, mein Schatz, 

melde dich bitte. Ich habe dir so oft geschrieben und von dir kein Wort. Liebst du mich nicht mehr oder bist du krank? Hast du einen anderen? Bitte antworte doch, ich mache mir solche Sorgen. Ohne dich ist mein Leben sinnlos.‘“

 

Sinnlos …! Rosa holt noch einmal tief Luft, will mit der unerwarteten Situation fertigwerden. Es geht nicht.

„Es tut mir leid. Das ist einfach zu viel für mich: vor drei Monaten habe ich meinen Mann nach fünfzehn glücklichen Jahren beerdigt, nun Sie, diese Liebesbriefe.“

 

Seit sie die sehr enttäuschte Mila weggeschickt hat, schaut Rosa immer wieder anklagend auf das Bild ihres Mannes. „Schau mich nicht so vorwurfsvoll an, ich kann das nicht! Und ja, ich weiß, dass Mila ein Recht darauf hat, mehr über ihren Vater zu erfahren. Aber …“ 

Seine anklagenden Blicke scheinen sie zu verfolgen.

 

Als sie das nach einigen Tagen nicht mehr erträgt, zumal ihr das lebhafte Mädchen selbst nicht aus dem Kopf geht, greift sie zum Telefon, ehe sie es sich anders überlegt.

„Hallo Mila. Können Sie gleich vorbeikommen? Ich möchte, dass Sie Ihren Vater kennenlernen.“

 

Ein strahlendes Mädchen blättert die alten Fotoalben durch.

„Sieh hier, dein Vater auf seiner ersten Vespa. Mit achtzehn. Wie stolz er sich in die Brust wirft!“

„Gleich platzt er!“

Kichernd senken sich die beiden Köpfe über die bunten Fotos, lachen, fragen und erzählen. 

 

Plötzlich richtet Mila sich kerzengerade auf. „Eigentlich bist du doch jetzt sowas wie meine Stiefmutter, oder?“ 

Der Gedanke gefällt Rosa. Ihre Augen suchen Stefans Foto: ‚Danke.‘

 

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