Von Agnes Decker

„Schatz, hast du mich gerufen?“ Die Stimme meiner Frau klingt unangenehm schrill in meinen Ohren.

Nein, ich habe ein Gedicht rezitiert, beziehungsweise ich hatte gerade damit angefangen, könnte ich antworten, und dabei hast du mich unterbrochen. Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält, das könnte ich dir aufsagen. Hättest du nicht gedacht, Schatz, dass dein Mann sich mit Lyrik auskennt, Rilke aufsagen kann? Egal, selbst wenn du es wüsstest, würde es nichts ändern. Nichts an meinem jetzigen Leben. Vergangenheit ist Vergangenheit. Ich schiebe die Gedanken weg, schlucke die bittere Galle, hinunter, räuspere mich.

„Nein, Schatz“, antworte ich und kann den Zorn in meiner Stimme nicht verhindern, „habe mit mir selber gesprochen. Übrigens, ich muss nochmal los.“

„Was, jetzt noch?“ Die Stimme meiner Frau hat sich eine weitere Oktave in die Höhe geschraubt.

„Ja, leider, in Block 45 ist ein Wasserschaden, kann dauern.“ Während ich das sage, greife ich nach meiner schwarzen Kapuzenjacke und dem umfangreichen Schlüsselbund, der unmittelbar neben der Garderobe hängt. Behutsam öffne ich die Haustür und lasse sie, fast lautlos, ins Schloss fallen.

Im Treppenhaus atme ich tief durch. Dann laufe ich los. Fünf Etagen. Ich könnte auch den Aufzug nehmen. Tue ich aber nur selten. Meistens laufe ich, das hält mich in Form und spart die Muckibude. Mit einem der vielen Schlüssel schließe ich die Holztür auf, die mit dem grünen Schild, auf dem steht: Hausmeister, und daneben meine Telefonnummer für Notfälle.

Drinnen schlüpfe ich in meine Jacke, wähle ein paar Werkzeuge aus, die ich zusammen mit einer kleinen Taschenlampe in den schwarzen Rucksack packe, den ich auf dem Schreibtisch schon bereit gestellt habe. Den Schlüssel für diesen Raum löse ich vom Bund, lasse die restlichen auf den Tisch gleiten. Die brauche ich nicht, Schatz, denke ich und grinse. Das Kellerlicht flackert, wirft unangenehm lebendige Schatten in den langen Gang, der zum hinteren Ausgang führt. Muss ich unbedingt auf die Liste der zu erledigenden Dinge setzen, wenn ich zurückkomme.

Draußen weht mir ein kräftiger Wind entgegen. Es ist kalt, so eine Kälte, die in die Knochen kriecht. Außerdem nieselt es. Nur wenige Menschen sind unterwegs, und die haben es eilig, nach Hause zu kommen. Ein perfekter Abend also.

Ich laufe, zuerst langsam, dann steigere ich das Tempo, fühle mich beschwingt, so, als könne ich fliegen,  möchte schreien vor Lust. Das Laufen ist immer die Einstimmung, die Warmlaufphase sozusagen. Meine Frau mag es nicht, wenn ich laufe, sie meint, ich laufe vor etwas weg. Manchmal denke ich selber darüber nach, über das Weglaufen meine ich, und wovor. Lasse mich beeinflussen. Von der kleinen Frau mit dem schlichten Gemüt. 

Wieder steigt die Bitterkeit in meiner Kehle hoch. Ich halte an und spucke aus, ziehe die Kapuze ins Gesicht, über die Stirn, hinter der die dunklen Gedanken ihre Kreise ziehen, sich in der Vergangenheit suhlen, immer wieder fragen, was gewesen wäre, wenn.

Denke an Maria,  meine Angetraute, die jetzt zu Hause sitzt und auf mich wartet. Auf den, den sie kennt oder auf das, was ich ihr gestattet habe, kennenzulernen.  Habe nicht viel preisgegeben. Meine Vergangenheit gehört mir. Geht keinen etwas an. Nicht das abgebrochene Studium, die vielen Frauen, die Drogen, die Gelegenheitsjobs. Bin jetzt der Hausmeister, der Unentbehrliche, von allen gekannt und gegrüßt. Schluss mit den Gedanken, bringen nichts, rede ich mir zu, laufe wieder los, steigere das Tempo, fühle den Sog, prickelnd, wie Brausepulver, das auf der Zunge schäumt und dann in den Kopf steigt, ihn ausfüllt.

Im Park, der an die Gärten der Reihenhäuser angrenzt, bewege ich mich lautlos von Gebüsch zu Gebüsch.  Vor einem Grundstück mache ich halt,  nehme den Rucksack von der Schulter und greife hinein. Meine Finger umfassen das Brecheisen, umklammern es. Ich führe das Werkzeug an mein Gesicht. Schnüffele daran, wie ein Hund. Es riecht nach Unheil und kaltem Stahl. 

Abweisend kehrt das Haus mir seine Rückseite zu, die Rollläden vor den Fenstern sind heruntergelassen. Nur ein paar solarbetriebene Lampen werfen einen fahlen Lichtschein auf die umliegende Umgebung. 

Mit einem Sprung überwinde ich den Jägerzaun und schleiche durch den Garten, an der Mauer entlang  bis zur Hausecke. Hier gehe ich auf alle Viere wie ein Tier, vorbei an dem bodentiefen Fenster, das zur Straße hin von Rhododendren verdeckt wird, die mich aufnehmen und mit mir verschmelzen. 

Sie sitzen an diesem für zwei Personen viel zu großen Tisch.  Er am Kopfende und sie an der Seite. Auf dem Tisch stehen zwei Teller, ebenso geleert wie die beiden Weingläser, die akkurat daneben positioniert sind. Der riesige Fernsehbildschirm im Hintergrund zeigt den Sprecher einer Nachrichtensendung, der die beiden wohl lauschen.

Jetzt bebt und zittert mein ganzer Körper. Der Schweiß rinnt in Bächen über Kopf, Rücken und Brust, durchnässt die Maske, die ich vor mein Gesicht gezogen habe und brennt in meinen Augen. Mein Puls schlägt so heftig, dass ich die Befürchtung habe, man könne ihn hören.

Von meinen vorhergehenden nächtlichen Besuchen weiß ich, dass sich am Ende der linken Hausseite ein kleines Fenster befindet. Es ist mit einer Milchglasscheibe ausgestattet und gerade so groß, dass ich mich hindurch zwängen kann.

Ich nehme das Brecheisen in beide Hände. Dann drehe ich mich um. Die Sträucher schützen mich vor den Blicken der Nachbarn, falls jemand aufmerksam würde. Doch in den umliegenden Häusern sind die Rollläden fest geschlossen. Nur wenig Licht dringt durch die Ritzen. Alles ist ruhig. Auch der Himmel spielt mit und verbirgt seine Lichtquellen hinter finsteren Wolkengebilden, aus denen der Regen auf mich herunter rauscht. 

Lautlos nähere ich mich dem Fenster und traue meinen Augen nicht. Es ist offen, nicht ganz, nur einen schmalen Spalt, so als hätte man vergessen, es nach dem Lüften richtig zu schließen. Ich recke mich und ziehe mich an der Fensterbank hoch. Fast mühelos gelingt es mir, ein Knie abzulegen und das andere Bein nachzuziehen. Das Gesicht nahe an der Scheibe kann in den dahinterliegenden Raum schauen, der im Dunkel liegt. Jetzt schiebe ich meine Hand vorsichtig durch die schmale Öffnung und entriegele das Fenster. Mit einem leisen Quietschen schwingt der Fensterflügel nach innen. Angespannt horche ich einen Moment. Nach wie vor plätschert die Stimme des Nachrichtensprechers vor sich hin und vermischt sich mit den Stimmen den Hausbewohner. Ich lasse mir Zeit, und meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen, recke und strecke mich. Langsam tauchen Umrisse auf. Ich erkenne Regale oder Schränke. Es duftet nach Äpfeln und nach irgendeinem Gewürz. Ich schnüffele, lasse den Geruch auf mich wirken, habe keine Eile. Nehme diese fremde Welt Stück für Stück in mir auf. Das Auskosten dieses Momentes steigert meine Lust, meine Begierde. Mit der Hand wische ich über mein schweißnasses Gesicht, rieche die saure Ausdünstung von Adrenalin und Erregung, spüre, wie jede Zelle meines Körpers vibriert, fühle mich unglaublich lebendig. 

Meine Hand zittert, als ich mein Handy herausnehme und die Nummer wähle, die ich so oft vor mich hingesprochen habe, dass ich sie auswendig kann. Aus weiter Entfernung höre ich das Klingeln und schnelle Schritte.  

„Herboldts“, meldet sich eine tiefe Männerstimme.

„Sie haben ein schönes Haus“, sage ich und füge hinzu. „Das Foto an der Tür des Vorratsraumes ist hübsch. Das mit den Ruderbooten und dem Steg, wissen Sie. Das gefällt mir sehr.“ Meine Stimme klingt kraftvoll und entschlossen. Ich genieße die Angst in der Stimme des Mannes, der immer wieder „Wer sind Sie? Was wollen Sie?“ ruft, spüre, wie das Lachen tief in meinem Bauch beginnt und langsam hochsteigt bis in meine Kehle. Bedauernd schlucke ich es herunter. Jetzt höre ich auch die Stimme der Frau, hoch und schrill vor Angst. Noch ein letzter Moment, den ich auskoste, mir die Stimmen einpräge, die Gerüche, für später, dann  beende ich das Gespräch. So lautlos, wie ich gekommen bin, schiebe ich mich durch das kleine Fenster und lande lautlos auf dem Rasen. Nachdem ich mit einem Sprung über den Jägerzaun wieder auf der Straße gelandet bin, ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche und drücke die Wahlwiederholung.

„Herboldts“, die schon vertraute Männerstimme klingt jetzt brüchig. 

„Ich komme wieder“, sage ich. Dann lege ich auf und laufe los. 

 

Version 3