Von Karl Kieser

Geht es mir gut?
Ich bin mir nicht sicher.
Insgesamt bin ich eigentlich ganz zufrieden. Wenn nur nicht dieser Nebel über der Vergangenheit läge.
Seit meine Frau nicht mehr da ist, ist das Haus so unerträglich still, dass ich schon morgens den Fernseher einschalte. Während der Nachrichten löffele ich mein Frühstücks-Müsli. Danach mache ich mir oft genug nicht die Mühe, mich gesellschaftsfähig anzukleiden, und schlurfe im Morgenmantel an Staffelei oder Schreibtisch.
Besucher gibt es schon lange nicht mehr. Es kommen zwar Leute, die mir mein Essen bringen und meine Wäsche abholen, aber die kenne ich nicht.
War das früher nicht mal ganz anders? Die interessanten Gespräche mit einem lebhaften Freundeskreis, sind diese Erinnerungen echt oder nur vage Traumbilder?
Ich bin mir nicht sicher.
Wie  schön war es doch, als meine Frau mir den Rücken freigehalten hat und ich nur mit Malen und Schreiben mein Rentnerleben füllen konnte.
Kann ich mich überhaupt noch an ihr Gesicht erinnern?
Ich bin mir nicht sicher.

Unvermittelt melden meine Telefone reihum, nacheinander einen Anruf. In jedem Raum, den ich tagsüber für längere Zeit nutze, steht eines in seiner Ladeschale. Automatisch frage ich mich, wer das sein könnte. Heute ist doch Sonntag?
Erwartungsvoll melde ich mich mit meinem vollen Namen. Das mache ich immer so. Ich mag es nicht, wenn sich jemand nur mit „Hallo!“ meldet.
Zuerst bin ich entsetzt, wie kraftlos und krächzend sich die ersten Silben anhören. Ich muss mich räuspern und versuche es nochmal:
„Kurt Mehring!“
Na, das klingt schon besser.

Am anderen Ende meldet sich eine frische, junge, weibliche Stimme:
„Hallo, Opa Kurt. Kannst du dir vorstellen, wer dich so überraschend anruft?“

Noch nie in meinem Leben hat mich jemand ‚Opa Kurt‘ genannt. Ich wüsste auch niemanden, der eine Berechtigung dazu hätte. Im ersten Augenblick bin ich enttäuscht. Eine Fehlwahl? Zufällige Namensgleichheit? Sehr unwahrscheinlich. Also wohl eher ein Enkeltrick, vor dem man immer im Fernsehen gewarnt wird.
Ich bin versucht, das Gespräch mit einer launigen Bemerkung zu beenden. Aber die fremde Stimme klingt so sympathisch. Lass doch mal sehen, wie es weitergeht, wenn ich mich auf ein Spielchen einlasse.
„Hm, der Stimme nach könnte es Angelika sein. Oder doch eher Annika.“

Ich kenne weder Angelika noch Annika. Ich wundere mich selbst, wieso ausgerechnet diese Namen mir so spontan einfallen.  Meine Gesprächspartnerin aber jubelt: „Wow, dass du mich gleich erkannt hast. Ja, ich bin`s, Annika.“

Ich habe inzwischen Gefallen gefunden an dem Spiel, möchte es noch etwas weitertreiben und der Unbekannten gleichzeitig ein paar überraschende Hürden einbauen. Thailand fällt mir ein. Klingt sehr exotisch, also warum nicht?
„Du rufst doch nicht etwa aus Thailand an?“

„Nein, ich bin in Frankfurt, am Flughafen, gerade angekommen.“

Donnerwetter! Die Frau ist gut. Auch nicht das kleinste Zögern war zu erkennen. Ich werde es ihr noch etwas schwerer machen. Vor meinem geistigen Auge spult sich eine fröhliche Szene mit einer jungen Thai ab. Wunderbar! Damit kann ich dieses Gespräch herrlich würzen.
„Aber du warst doch so glücklich mit der schönen Sue. Ich weiß noch, wie du gestrahlt hast beim Abflug, als du zu ihr nach Bangkok gezogen bist. Was ist passiert?“

Plötzlich ist echte Trauer in der jungen Stimme, aber sehr fein nuanciert.
„Sue ist tot. Ein Verkehrsunfall.“

Die Frau ist beeindruckend skrupellos. Keine 10 Sekunden, nachdem ich ihre Geliebte erfunden habe, hat sie sie auch schon umgebracht. Und das im Straßenverkehr von Bangkok, was wirklich keine leichte Übung ist. Denn dieser Verkehr besteht eigentlich nur aus einem gigantischen, chaotischen Stau. Ich bin schon sehr neugierig, wie sie mich mit der Hintergrundgeschichte anzapfen will. Ich versuche mal, die Sache zu beschleunigen:
„Das tut mir ja so leid für dich und um die schöne Sue ist es jammerschade. Aber es ist gut, dass du wieder in der Heimat bist. Wie kommst du denn nun nach Würzburg? Brauchst du Geld?“
Wie komme ich bloß auf Würzburg? Egal, alles was mir spontan einfällt, kann ich für den Hindernislauf verwenden, den ich für sie aufbaue.

„Ja weißt du, ich habe da ein Problem. Ich habe Sue nach Deutschland überführen lassen. Nur, jetzt gibt der Zoll den Leichnam nicht heraus, wenn ich nicht mindestens 10.000 € zahle für Transport und Abwicklung.“

Oha, gleich 10.000. Und die Begründung ist sehr dünn. Aber ich bin in Ihren Augen wohl ein leichtgläubiger, seniler Tattergreis, der mit jeder Erklärung zufrieden ist. So einfach will ich es ihr aber nicht machen.
„Du hast ihre Leiche überführen lassen? Aber als Thai war sie doch sicher Buddhistin. Daher müsste sie doch längst verbrannt sein.“

Mal abwarten, was sie daraus macht. Ich rechne eigentlich damit, dass unser Gespräch stockt, um für diese Wendung eine schlüssige Erklärung zu finden. Aber sie erzählt flüssig weiter.

„Oh, das kannst du ja noch nicht wissen: Sue ist mir zuliebe zum Christentum konvertiert. Jetzt soll sie in meiner Nähe in geweihter Erde ruhen.“

Gut pariert, Fräulein. Die Geschichte wird immer bizarrer. Allmählich ärgere ich mich darüber, wie rücksichtslos sie mit meinen erfundenen Figuren umgeht. Ich gebe ihr noch einen Schuss vor den Bug.
„Ich begreife es nicht. Du bist doch überhaupt nicht religiös. Und wann ist das alles passiert? Bist du nicht erst vor 14 Tagen hier abgeflogen?“

„Ach, Opa, das alles hat eine viel längere Geschichte. Schon in meiner ersten Woche in Bangkok ist Sue gestorben. Sie wollte auf dem Markt für uns einkaufen. Ich kann dir gerne ausführlich berichten, aber jetzt brauche ich deine Hilfe.“

Aha, sie wird ungeduldig. Auch mir reicht es allmählich. Aber was mache ich mit ihr? Soll ich die Polizei benachrichtigen? Meine Gesprächspartnerin ist natürlich nicht in Frankfurt am Flughafen und gefasst wird bestenfalls der Geldabholer.
„Wie kann ich alter Mann dir schon helfen.10.000 € können für dich, dem gefeierten Schlagerstar, ja kein Problem sein und mit meinen 80 Jahren sind meine physischen Kräfte sehr begrenzt. Einen Sarg kann ich nicht tragen. Nicht einmal dann, wenn so ein Leichtgewicht wie Sue darin liegt.“

Ich fühle mich schon als Sieger und bin stolz darauf, dass mir die Wendung mit dem ‚Schlagerstar‘ eingefallen ist. Damit hat sie bestimmt nicht gerechnet. Doch sie plaudert wie selbstverständlich weiter.

„Ich weiß, es klingt verrückt, aber meine Eltern müssen meine Konten gesperrt haben, als ich zu Sue gezogen bin. Das wird sich natürlich klären und du bekommst die 10.000 garantiert zurück. Nur, jetzt am Sonntag kann ich in der Sache nichts unternehmen.“

Toll! Ihre Stimme hat genau die richtige Mischung von Unmut, Unglauben und Verzweiflung. Die junge Frau hat eindeutig Talent. Trotzdem hat sie einen Fehler gemacht, indem sie neue Figuren ins Spiel gebracht hat. Bevor ich aber ihre fiktiven Eltern verbal umbringe, werde ich die leckere Karotte direkt vor ihrem Mäulchen baumeln lassen.
„Und da hast du dich erinnert, dass der liebe Opa Kurt immer größere Beträge in seinem Safe hat?“

„Ja genau. Es macht dir doch nichts aus, wenn ich gleich mal jemanden vorbeischicke, der die 10.000 abholt?“

Ich hab’s doch gewusst. Der klassische Enkeltrick. In diesem Fall die charmante weibliche Variante. Aber jetzt werde ich die Bombe platzen lassen.

„Annika, das kannst du mir nicht antun. Wenn du schon mal in der Gegend bist, dann musst du mich auch besuchen. Vom Flughafen bis nach Sprendlingen ist doch nur ein Katzensprung. Dann kannst du mir auch erklären, wie deine Eltern deine Konten sperren konnten, obwohl sie schon vor zwei Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen sind.“

Den letzten Satz habe ich mit deutlicher Schärfe und Häme abgefeuert.
Am anderen Ende der Leitung ist es still. Zum ersten Mal weiß sie nicht weiter. Vermutlich wird sie kommentarlos auflegen. Es ist ja klar, dass ich sie durchschaut habe, und sie nichts mehr zu erwarten hat.
Nach einer längeren Pause antwortet sie aber überraschenderweise doch noch. Ihre Stimme kling jetzt deprimiert und besorgt.

„Meinst du das ernst, mit dem Flugzeugabsturz? Bitte, sag mir, dass du mich nur veralbern willst. Damit darf man doch nicht spaßen. Dein Sohn Stefan und seine Frau sind gesund und munter. Ich muss es schließlich wissen.“

Was redet sie denn da? Sie will also doch noch nicht aufgeben? Wer ist Stefan?
Zum ersten Mal bin ich in der Defensive. Was will diese Frau von mir? Warum soll ich mich plötzlich rechtfertigen?
Das wird mir jetzt zu bunt. Ich werde die Sache beenden!

„Jetzt hören Sie mir mal gut zu, mein Fräulein. Die ganze Geschichte, über die wir geredet haben, ist mir spontan eingefallen und frei erfunden. Ich werde jetzt die Polizei über Ihren dreisten Versuch unterrichten.“

„Oh nein, Opa. Du hast dich so gut angehört, eigentlich wie früher. Ich war mir so sicher, dass es dir besser geht. Ich werde jetzt doch in Würzburg anrufen, obwohl mich dein Sohn ganz schön geärgert hat. Bleib du zu Hause. Ich mache mich gleich auf den Weg. In einer Stunde bin ich bei dir. Dann können wir in aller Ruhe reden.“

Sie hat aufgelegt.
Was war das denn? Will sie sich das Geld nun mit Gewalt holen?
Ich werde einfach nicht die Tür öffnen. Oder sollte ich doch lieber die Polizei benachrichtigen?
Während ich noch abwäge und grüble, klingelt das Telefon schon wieder.
Stefan steht auf dem Display.
Nachdem ich mich gemeldet habe, antwortet eine männliche Stimme in besorgtem Tonfall:
„Hallo Vater, Annika hat gerade angerufen und meint, dass du einen verwirrten Eindruck machst. Wie geht es dir wirklich?“

Ich bin erschüttert über dieses hinterhältige Komplott und weiß nicht, was ich sagen soll. Warum legt er nicht auf? Ich muss jetzt die Polizei benachrichtigen. Nach einer endlosen Pause fährt der Anrufer fort:

„Ich habe den Pflegeservice schon benachrichtigt. Es wird gleich jemand zu dir  kommen. Annika will auch bei dir vorbeischauen und ich mache mich jetzt mit Angelika auf den Weg. In etwa 2 Stunden sind wir bei dir.“ 

Version 2