Von Helga Rougui

Friederike war froh, daß die Feiertage vorbei waren. Diese Familientreffen waren im Grunde fürchterlich kräftezehrend. Aus anfänglicher süßlich vorgegebener Wiedersehensfreude von Brüdern, Schwestern, Onkeln, Tanten, Omas, Opas, Neffen, Nichten, Cousins und Cousinen wurde nach einigen Tagen Völlerei, reichlichem Alkoholgenuß und Langeweile eine Gratwanderung zwischen heftigster, teils lautstarker Abneigung und blanker, kaum gezügelter Mordlust.

Am schlimmsten aber waren die versteckten Andeutungen , die inzwischen von allen Seiten kamen – warum sie immer noch allein lebe, wo sie mit 42 Jahren gedenke, einen tauglichen Ehemann herzunehmen – die besten seien ja alle schon vergeben – , ob sie sich einbilde, daß der Märchenprinz bei ihr telefonisch anklingeln würde und derlei witzige Bemerkungen mehr – und die Enkelkinder müßten ja nun bei ihrem Alter sowieso adoptiert werden. Als ob die Brut, die ihre Brüder und Schwestern in die Welt gesetzt hatte, nicht völlig ausreichte, um das Haus mit ohrenbetäubendem Lärm, Zänkereien und den verschiedensten, lautstark abgespielten Musikrichtungen zu erfüllen. Hatten die alle nie etwas von Kopfhörern gehört? Friederike war sich jedenfalls sicher, worin ihre Weihnachtsgeschenke für den Nachwuchs im nächsten Jahr bestehen würden.

Sie schloß die Haustür auf, gleich hinten links im Parterre befand sich ihre Wohnung, und das war gut, weil sie so schnell verschwinden konnte – oben war eine Tür zugefallen, und sie hörte Schritte auf der Treppe, deren Geräusch stetig näherkam – bestimmt der neue Nachbar, vor drei Wochen eingezogen. Sie hatte – obschon neugierig darauf, was für eine Sorte Mann er war – noch keine Gelegenheit gehabt, sich mit ihm bekannt zu machen, aber heute abend hatte sie keine Lust dazu, erschöpft, wie sie war vom Weihnachtstrubel ihrer lebhaften Verwandtschaft.

Die Tür fiel hinter ihr zu, sie stellte ihre Reisetasche ab und stand ganz still, die Schritte draußen näherten sich, zogen vorbei und sie hörte die Haustür gehen und zufallen.

Das Telefon klingelte. Sie nahm das Mobilteil, schaute aufs Display, unterdrückte Nummer, und sie überlegte einen Moment, ob sie das Gespräch überhaupt annehmen sollte.

 

Draußen wieherte ein Pferd. Die Baronesse – schon in reiferem Alter – begab sich zur Terrassentür und spähte hinaus in die Dunkelheit. Der Park lag schweigend, die Rosenspaliere schickten süßen Duft hinüber zum Schloß und der Mond spiegelte sich blaß und unergründlich im Schloßteich. Nachdem sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, konnte sie einen Schatten auf der Terrasse ausmachen – sie erblickte den gutaussehenden Grafen von D. auf einem feurigen Rappen, der mit hoch erhobenen Vorderbeinen hin – und hertänzelte (- der Rappe, nicht der Graf -), als wolle er die Reitkünste seines Reiters auf die Probe stellen. Letzterer zwang das Rassepferd, mit seinen Vorderhufen wieder Bodenkontakt aufzunehmen und tätschelte ihm beruhigend den Hals. Dann hob er den Blick, und er nickte einen flüchtigen Gruß hinüber in die Richtung, in der er die Baronesse auf ihrem Lauscherposten vermutete.

Diese zuckte zusammen. Ihr Iphone klingelte fast überlaut im verdunkelten Salon. Sie schaute auf das Display, unterdrückte Nummer, der Graf konnte es nicht sein, oder doch?  Sie überlegte einen Moment, ob sie das Gespräch überhaupt annehmen sollte.

 

Soumia saß mit überkreuzten Beinen auf einer Matte vor der Eingangstür des Hauses, hatte die Schale mit Getreide vor sich und ließ die Weizengrießperlen immer wieder durch ihre Finger rollen. Derweil schweiften ihre Gedanken in die Ferne. Bei der Herstellung von Couscous mußte sie sich nicht großartig konzentrieren und hatte Zeit zum Träumen. Wie gern wäre sie in fremde Länder gereist, hatte sie bis jetzt doch nur ihr Dorf und den nahegelegenen Marktflecken kennengelernt. Und was das Kennenlernen überhaupt anging – die schicken und sicher reichen Touristen, die sie ab und zu bei den Händlern im Basar beobachtete, waren entweder alle in Frauenbegleitung oder häßlich wie die Sünde, und für sie kam ein Gespräch mit ihnen sowieso nicht in Frage. Als übriggebliebene Tochter aus einer Kinderschar von fünf Mädchen und vier Jungen lebte sie jetzt nach dem Tod ihrer Eltern und der Verheiratung ihrer Geschwister bei einer Großcousine ihrer weitläufig verzweigten Familie und kam sich oft nicht wie eine Verwandte, sondern wie eine Dienstmagd vor. Sie sollte – so bedeutete man ihr oft – froh sein über den Schutz, den sie in diesem Hause genoß, sie, die weder Mann noch Kinder vorweisen konnte, und mit 46 Jahren war es wohl so, daß sich daran nichts mehr ändern würde.

Ihre Schürzentasche vibrierte. Sie zog ihr Handy heraus und schaute auf das Display. Unterdrückte Nummer – wer konnte das sein? Sie überlegte einen Moment, ob sie das Gespräch überhaupt annehmen sollte.

 

… ist wie ein Fisch ohne Fahrrad, dachte Caro und schüttelte sich. Wenn sie eins nicht brauchte auf der Welt, war das so ein Kerl, der ihr die Unabhängigkeit beschnitt und in alles dreinredete – und sich womöglich noch zum Herrscher der Fernbedienung aufspielte. Nein, in ihrem Heim war sie die Herrin über alles, sie konnte tun und lassen, was sie wollte, und als gutsituierte Frührentnerin hatte sie die Mittel und mit 49 Jahren noch die Kraft dazu. Sie hatte keine Familie und keine Verwandten, die ihr auf den Wecker gehen konnten, ein paar gute Freunde und Freundinnen vertrieben ihr die Einsamkeit, wenn sie das wollte, und wenn sie das nicht wollte, konnte sie ganz für sich sein. Sie nippte an ihrem Glas Rotwein, kuschelte sich behaglich in ihren Ohrensessel und öffnete ihr E-Book.

Neben ihr, auf dem Beistelltisch, klingelte das Telefon. Sie sah auf das Display, erkannte die Nummer, hob ab und sagte, bevor noch der Anrufer zu Wort kommen konnte:

„Ferdinand, stör mich jetzt nicht, bitte. Ich bin dabei, den „Herrn der Ringe“ zum siebten Mal zu lesen – und dieses Mal auf Englisch – , so daß ich wirklich keine Lust habe, heute abend mit dir essen zu gehen.“

Sie legte auf. Und dachte – heute abend nicht und an keinem anderen Abend auch nicht.

Hält der sich für den Märchenprinzen, oder was?