Von Rosa Pessl

Das Handy klingelt gerade in dem Moment, als er aus dem Wagen steigen will. Seufzend starrt er auf das vibrierende und leuchtende Etwas auf dem Beifahrersitz. Er entschließt sich, abzuheben.

 

“Kurt Wallner”, raunt er ins Telefon.

“Hallo Opa, ich bin es, der Florian”, meldet sich die zarte Stimme eines Jungen.

Kurt ist erleichtert, kein Kunde, kein Mitarbeiter, und antwortet: “Wie? Du hast dich verwählt.”

“Nein! Opa, ich freue mich, dich zu hören.”

“Kleiner, du hast dich verwählt. Ich bin nicht dein Opa”, knurrt Kurt und möchte auflegen.

“Opa, wir haben schon lange nicht mehr miteinander telefoniert. Willst du nicht mit mir sprechen?”, der Junge klingt traurig, “Ich bin jetzt im Hospiz!”

Kurt entgegnet zögerlich:  “Im Hospiz?”

“Ja, ich habe Leukämie. Das weißt du doch, Opa, oder?”

Kurt schluckt. “Ja, ähm …. Wie geht es dir?”

“Mir? Ja, ich bin quietschlebendig.” Florian lacht kurz und künstlich auf.

“Was möchtest du denn?”, stottert Kurt, der sonst nie um ein schlagkräftiges Argument verlegen ist.

“Opa! Ich möchte fliegen. Mit dir fliegen.”

“Dein Opa wird schon mit dir fliegen. Überhaupt, wie alt bist du? Musst du nicht schon längst im Bett sein?”

“Ich bin ständig im Bett.”

“Ich muss jetzt auflegen”, versucht Kurt sich aus der Affäre zu ziehen, doch zwecklos.

“Opa! Ich möchte fliegen. Du hast es mir versprochen, dass du mit mir fliegen gehst. Du hast doch noch den Pilotenschein?”

“Hör zu, es tut mir sehr leid. Aber ich bin nicht dein Opa! Du hast dich ver….”

“Ich möchte fliegen!”, beharrt der Junge trotzig.

“Hör zu, es ist Zeit, schla….”

“Nein, ich möchte fliegen. Opa, du hast es mir versprochen.” Der Junge beginnt zu weinen. “Das ist mein letzter großer Wunsch.”

Kurt atmet tief durch. Am anderen Ende hört er Florian schluchzen.

“Okay, Florian heißt du …?”

“Mensch Opa, hast du schon Alzheimer? Ja, ich bin’s Florian!”

“Ja, weißt du das Alter”, Kurt spielt den Verlegenen. “In welchem Krankenhaus bist du?” Das Wort Hospiz will ihm nicht mehr über die Lippen kommen.

“Im Kinderhospiz St. Anna in Wien.”

“Ach, ähm. Florian. Ich bin wirklich schon sehr vergesslich. Wie alt bist du?”

Florian seufzt: “Wenn ich Glück habe, werde ich in 2 Wochen dreizehn.”

“Florian, ich werde schauen, was ich machen kann.”

“Opa, beeil dich. Ich habe nicht mehr viel Zeit.”

Der Realismus des Jungen raubt Kurt die Stimme. Tränen schießen ihm in die Augen. “Ich…. ich … komme und hole dich ab …”, bringt er gerade noch heraus, ohne selbst genau zu verstehen, was er jetzt gesagt hat.

“Ja Opa, ich warte auf dich!”

 

Im Flur hört Florian die Schritte der Pflegerin. “Ich muss jetzt Schluss machen.” Schnell legt er auf und lässt sein Handy unter dem Kopfpolster in unmittelbarer Nachbarschaft eines Zeitungsausschnittes verschwinden. Florian nimmt den Ausschnitt grinsend in die Hand: “Der Industrielle Kurt Wallner will den Produktionsstandort in Österreich schließen. In einem Interview gibt Wallner unverhohlen zu, er halte nichts von sozialem Engagement als Wirtschaftstreibender. Als ehemaliger Pilot habe er gelernt …” Am Zeitungsrand hat Florian Kurts Handynummer gekritzelt. Es war gar nicht schwer, sie herauszufinden. Zufrieden schläft Florian ein.

 

Kurt hingegen sitzt tief betroffen in seinem Wagen und starrt auf sein Handy, dessen Display sich langsam verdunkelt. “Wie sinnlos …”, murmelt er, “ … mit 13 zu sterben, sinnlos …” Plötzlich drängen sich Gesichter seiner Mitarbeiter in sein Gedächtnis. Frau Müller, seit 15 Jahren seine Sekretärin, alleinerziehend. Der alte Herr Movécik, Lagerarbeiter, der ihn immer “Chefe” nannte. Vinzenz, der stets fröhliche Lehrling mit Down-Syndrom … Und jetzt? Ab nächsten Monat sind sie alle arbeitslos. Kurt fröstelt. Der Kloß in seinem Hals löst sich langsam und verwandelt sich in Wut. Seine flache Hand knallt auf das Lenkrad. Er versteht sich selbst nicht mehr. Bis zu jetzt hat er immer gut funktioniert. Doch in diesem Augenblick spürt er die gähnende Leere und murmelt immer wieder: “Es ist sinnlos … alles … genauso sinnlos wie mit dreizehn zu sterben …”

Florian möchte fliegen. Wie gut Kurt diesen Wunsch verstehen kann. Er selbst hat es geliebt, über den Wolken zu schweben. Doch die Karriere raubte ihm die Zeit dafür und für vieles andere. Es ist sicher schon 15 Jahre her, dass er das letzte Mal am Steuer eines Flugzeugs saß. Seine beiden Freunde Hannes und Wolfgang haben ihren Traum verwirklicht und eine Flugschule gegründet. Eigentlich sollte er der Dritte im Bunde sein, aber ein Fauxpas seinerseits vereitelte diesen Plan.

 

Es ist schon 23:30. Trotzdem wählt Kurt, von seinen Erinnerungen getrieben, Hannes Nummer. Eine verschlafene Stimme meldet sich.

Kurt dagegen ist hellwach: “Ich brauche die Cessna!”

“Wer ist da?”

“Der Kurt! Ich brauche die Cessna!”

“Kurt, du???”

“Ich brauch die Cessna, morgen um 11:00 Uhr startklar!”

”Du Vollpfosten!”, die verschlafene Stimme verwandelt sich schlagartig  in eine wütende. “Das Letzte, was ich von dir gesehen habe, war deinen wippenden Arsch zwischen den Beinen meiner Frau! Jetzt rufst du mich mitten in der Nacht an und möchtest die Cessna! Du Stradivari unter den Arschgeigen! Ich fasse es nicht, du A…. “

 

Kurt legt seufzend auf.  “Stradivari unter den Arschgeigen …”, murmelt er vor sich hin, während er sich einen Whiskey einschenkt. Er zündet sich eine Zigarette an, macht einen tiefen Zug und schaut den Rauchwolken hinterher. “Hannes, vielleicht hast du ja recht”, meint er achselzuckend. Schließlich erreicht Kurt Hannes’ Kom­pa­g­non Wolfgang, der ihm die Cessna reserviert.

 

Am nächsten Morgen bekommt Kurts Sekretärin eine E-Mail: “Hallo Frau Müller, ich nehme mir heute frei. Sagen Sie alle Termine ab. Mit besten Grüßen Kurt Wallner”.  Eine Stunde später steht Kurt vor Florians Zimmertür. Sein Herz rast. In seinen 58 Lebensjahren hat er gelernt, mit Millionen zu dealen, aber ein Deal mit krebskranken Menschen, geschweige denn mit einem sterbenskranken Kind, ist ihm vollkommen fremd. Er spürt den unbändigen Drang, etwas Sinnvolles zu tun. Aber, was werden Florians Eltern sagen? Zögernd klopft er an die Tür.

 

Als er Florian sieht, erschrickt er. Der Kopf des Jungen ist kahl. Die Haut bläulich weiß. Tiefe Schatten umringen seine Augen. Er scheint nur aus Haut und Knochen zu bestehen. Schnell gewinnt Kurt wieder an Fassung und fragt: “Bist du Florian?”

“Ja”, antwortet der Junge lächelnd.

“Florian, der gerne fliegen möchte?”

Der Junge nickt heftig.

“Dein Opa fühlt sich krank, daher schickt er mich”, lügt Kurt. “Möchtest du mit mir fliegen?”

 

“Darf ich fragen, wer sie sind?” Florians Vater betritt mit zwei Bechern Heißgetränken das Zimmer.

“Ich bin Kurt Wallner.”

“Werner Lippitsch, was machen Sie bei meinem Sohn?”

“Werner, kann ich Sie unter vier Augen sprechen?”

 

Auf dem Gang erzählt Kurt von Florians Anruf: “Er hat sich wohl verwählt und dachte, ich sei sein Großvater.”

“Komisch …”, Werner ist erstaunt.

“Ihr Sohn hat einen großen Wunsch. Er möchte fliegen.”

“Ich weiß! Mein Schwiegervater hat ihm das versprochen. Er war Pilot. Aber er hatte vor zwei Wochen einen Herzinfarkt und ist verstorben. Florian weiß nichts davon. Wir haben es ihm noch nicht gesagt. Es wäre zu viel.”

“Ich möchte Ihnen helfen.”

“Sie können mir nicht helfen.”

“Ich kann weder Florians Gesundheit noch seinen Großvater zurückgeben. Aber, ich bin Pilot und kann ihm diesen einen großen Wunsch erfüllen, nämlich einmal zu fliegen.”

“Das kann ich mir nicht leisten”, wehrt Florians Vater ab.

“Sie müssen mir nichts bezahlen. Ich habe für heute eine Cessna reserviert. Sie steht bereit für uns.”

“Wie kommen Sie dazu?”

“Ich weiß, wir kennen uns nicht und es mag Ihnen seltsam vorkommen …”, versucht Kurt sich zu erklären. Doch er erkennt, es gibt keine Erklärung.

 “Werner, Sie haben die Wahl: Entweder Sie verbringen den Tag hier im Hospiz mit ihrem Sohn. Oder Sie beide kommen mit und Sie erfüllen Florian seinen letzten großen Wunsch.”

Werner schaut zu Boden und nickt.

 

Auf dem Flugfeld ist die Cessna schon startbereit. Kurze Zeit später heben sie ab. Kurt strahlt übers ganze Gesicht: endlich wieder fliegen. Stolz beantwortet er Florians Fragen, während Werner von der Rücksitzbank still seinen Sohn beobachtet. Langsam wird auch Florian still. Nur hin und wieder ist ein erstauntes “Oh Papa, guck mal” von ihm zu hören, während er sich die Nase an der Seitenscheibe platt drückt. Werner schließt die Augen und atmet tief durch, unendlich froh, dass der Herzenswunsch seines Sohnes doch noch in Erfüllung geht. Dann erlischt auch Florians Erstaunen. “Ob Opa da draußen ist?”, fragt er leise, sodass die anderen es nicht hören. Sorgsam wischt er über die von seinem Atem angelaufene Seitenscheibe und fühlt sich seinem Opa ganz nah.

 

Auf der Rückfahrt ist es still im Wagen. Der Junge ist auf der Rücksitzbank eingenickt. Kurt ist bemüht, sich einen imaginären Fleck von der Hose zu reiben. Werner starrt in die Ferne, ohne wirklich etwas zu sehen. Zum Abschied umarmt Florian Kurt und Werner beide: Seinen todkranken Sohn und jenen Mann, den er vor 24 Stunden noch nicht einmal kannte. Keiner sagt etwas. Für diesen Augenblick gibt es keine Worte. Jeder Wunsch, jedes Aufwiedersehen, jedes scheinbar trostspendende Wort – alles ist unpassend. Sie vermeiden es, sich in die Augen zu sehen. Florian und Werner gehen in das Hospizgebäude, ohne sich umzudrehen. Kurt sieht ihnen lange nach.

 

Am nächsten Tag fährt Kurt nochmals ins Hospiz. Die Tür zu Florians Zimmer steht weit offen. Kurt starrt auf das leere Bett und sagt zu sich selbst:  “Jetzt ist er bei seinem Opa und kann fliegen, wann immer er will.”

 

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Drei Jahre später – Wiener Nachrichten:

“Der bundesweit ausgeschriebene Preis für ‘Soziales Engagement’ geht heuer an die ‘Florians Traum-Foundation’, die sich durch Spenden finanziert und Herzenswünsche sterbenskranker Kinder erfüllt. Die Geschäftsführer Kurt Wallner und Werner Lippitsch nahmen den Preis entgegen.”

 

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