Von Marco Rauch

 

Frei wie der Wind fühl‘ ich mich hier, sorge dich nicht, ich bleib‘ bei dir.

Dein‘ Schlaf bewacht der Sternenschimmer, in meinem Herz bist du für immer.

 

Sanft bewegt sich mein Körper vor und zurück. Mami hat mir jeden Abend dieses Lied vorgesungen. Ich sehe die Sterne durch mein Fenster, wie sie am dunklen Nachthimmel fröhlich schimmern. Lächelnd beobachte ich das Schimmern und fliege in Gedanken um sie herum, nehme sie in den Arm, schmiege mich an sie und mache Purzelbäume oder Handstände auf ihrer Oberfläche. Dann hebe ich ab und fliege frei wie der Wind durch den dunklen Kosmos auf der Suche nach neuen Welten. Die Sterne sind meine Freunde, denn sie sind immer für mich da. Sie leuchten und glitzern in der Nacht und sie bieten mir unendliche Möglichkeiten. Ich stelle mir vor, wie ich fremde Welten entdecke mit freundlichen Wesen, die mich Willkommen heißen und nett zu mir sind. Bestimmt haben sie auch Haustiere, vielleicht mit vier Augen oder sechs Beinen? Hihihi, was für eine schöne Idee. Ob sie wohl auch bellen oder maunzen?

Ein kurzer Schmerz durchbricht das Bild vor mir. Ich spüre meine langen Haare sich hin und herbewegen, doch sofort schweift mein Blick wieder zu ihnen, meinen Freunden. Wie sie da oben stehen, über uns und über allem. Sanftmütige Riesen, die durch nichts aus der Ruhe zu bringen sind. Trotzen aller Zeit und allem Wetter, bieten endlose Wärme und ewige Geborgenheit. Sie sind immer da und leuchten mit ihrem unendlich ruhigen Schein und dem immer gleichen Rhythmus. Oh, wie gern wär‘ ich dort oben auf des Mondes blasser Haut, vertrieben wären meine Sorgen, und … was reimt sich auf Haut? Kraut? Verdaut? Nein, hihihi, das ist ja albern. Zerzaust? Nein, was reimt sich auf Haut? Haut? Laut! ‚Oh, wie gern wär‘ ich dort oben auf des Mondes blasser Haut, vertrieben wären meine Sorgen und an mein Ohr dränge kein Laut.‘ Oh, wie schön, das ist richtig schön, das muss ich unbedingt aufschreiben, wenn ichs nicht vergesse.

Ein Stöhnen untermalt meine Reise, dann ein Keuchen. Weit entfernt klingt es und war nur kurz. Oh, wie schön, ich kann das blinkende Licht eines Flugzeugs sehen. Es bewegt sich ganz langsam dort am fernen Himmel, fliegt ruhig durch die Nacht, wie ein Vogel sich vom Wind tragen lässt. Ganz ohne Mühe und ohne Scheu. Ich stelle mir vor, wie ich durch das Weltall fliege vollkommen mühelos, als würde mich ein unsichtbarer Wind tragen, wohin ich will. Ich schwenke nach links, umrunde einen Mond und nehme Kurs auf den Kuipergürtel. In Terra X haben sie gesagt, das ist eine Region am Rande unseres Sonnensystems, ganz weit weg von hier und dass wir kaum was darüber wissen, außer dass da ganz viele Steine sind. Neugierig fliege ich darauf zu, um die Gesteinsbrocken, die sich wahllos in verschiedene Richtungen bewegen und grüße hier und da ein paar Steine, die alle meine Freunde sind. Sie bekommen Gesichter, lächeln zurück und wünschen mir guten Flug. Oh, wie schön ist es hier oben, so ruhig und friedlich. In der Ferne sehe ich einen blauen Planeten, nein grün, oh braun, alle Farben zusammen. Er wird größer, da ist Wasser. Ob ich landen soll? Mein Herz klopft aufgeregt. Werde ich dort fremde Wesen kennenlernen?

„Au nicht so fest Papi.“ Eine Träne kullert, während sich meine Finger im Bettlaken vergraben.

„Sei still, es ist fast geschafft.“

Ein weiterer Schmerz zuckt durch meinen Unterleib, aber ich wende meinen Kopf nach oben und schon ist er fort. Ungeduldig lande ich auf dem Planeten und sehe mich neugierig um. So viel grün, oh wie wunderschön es hier ist. Ich höre einen Bach rauschen, lächelnd hüpfe ich durch das wilde Gras in seine Richtung. Da ein Schmetterling so groß wie ein Eichenblatt. Er hat rote und grüne und gelbe Tupfen auf den Flügeln, langsam flattert er auf mich zu. Magst du mein Freund sein? Ich strecke meinen Arm aus, komm mein Freund, gönn‘ dir eine Pause. Er setzt sich auf meinen Arm, lächelt mich an und gluckst leise. Oh was für ein süßes Kerlchen du bist, gibt es noch mehr von dir? Hast du Brüder? Und Schwestern? Ich möcht‘ sie alle kennenlernen. ‚Flieg mein Freund, wie wunderschön kannst du die Welt von oben sehen, zieh deine Bahn und denk an mich ein klein wenig vermiss‘ ich dich.‘ Er lächelt und erhebt sich in die Luft. So ganz gut war der Reim noch nicht, vielleicht fällt mir noch etwas Besseres ein. Aber es ist so schön, dass mir hier oben immer sofort Reime und Gedichte einfallen, eine riesige endlose Weite, die meine Fantasie anregt und mich unendlich glücklich macht.

Ein zufriedenes Seufzen reißt mich unverhofft zurück und gerade noch auf allen vieren spüre ich einen ruckartigen Stoß, der mich nach vorne wirft. Unsanft lande ich auf Bauch und Gesicht und spüre kurz darauf die Bettdecke über meinen nackten Körper fallen. Meine Beine ragen darunter hervor, hängen über der Bettkante. Ich stütze mein Kinn auf die Arme und sehe zu meinen Freunden nach oben. Weit entfernt höre ich eine Tür ins Schloss fallen. Schwerelos fliege ich zu einer neuen Welt und spüre doch etwas Feuchtes unter mir. Mit der Hand lange ich nach unten. Da ist etwas Saft an meinem Finger. Etwas zögerlich wische ich ihn am Betttuch ab. Mein Papi hat gesagt „Du musst lieb zu mir sein, jetzt wo Mami bei Gott ist. Sonst hab ich dich auch nicht mehr lieb.“ Das hat er immer wieder gesagt. Er hat mich gestreichelt und geküsst. Und ich habe ihn gestreichelt und geküsst. Das war eklig, als ich das erste Mal dieses salzige Zeug im Mund hatte. Aber mein Papi hat gesagt, ich muss lieb zu ihm sein, weil er mich sonst nicht mehr lieb hat.

Mein Blick schweift wieder nach oben und ich stelle mir vor, wie ich am Bach angekommen bin. Da schwimmen Fische und ich höre Vögel zwitschern. Die Luft riecht so gut nach Gras und Kräutern und alles ist so wunderschön. Ob Mami auch hier ist? Vielleicht kann ich sie sehen? Irgendwann werde ich nach ihr suchen, ganz bestimmt. Irgendwann … vielleicht, wenn ich 15 bin? Ob Papi mich lässt?

 

***

 

„Herr Karrer, unser Sender ist von den Nachbarn informiert worden, dass heute Morgen hier ein Großaufgebot von Polizei und Rettungskräften gewesen sein soll. Erzählen sie als Pressesprecher der Polizei Nürnberg unseren Zuschauern kurz, was hier passiert ist.“

„Wir haben heute früh einen Anruf erhalten, dass sich in diesem Haus lautes Geschrei zugetragen haben soll. Wir haben daraufhin einen Einsatzwagen vorbeigeschickt. Die Beamten fanden bei ihrem Eintreffen eine blutverschmierte junge Frau vor, die im Begriff war, das Anwesen zu verlassen. Nachdem die junge Frau sich geweigert hatte, Fragen zu beantworten, mussten die Beamten sie vorläufig festnehmen. Mehr können wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht dazu sagen.“

 

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„Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es hier mit einem komplizierten Fall zu tun. Seit Marissa bei uns ist, hat sich ihre Dissoziationsneigung zwar ein wenig verbessert, doch sie ist nach wie vor häufig nicht im Hier und Jetzt. Es ist daher schwierig, mit ihr zu arbeiten, weil sie oft nicht ansprechbar ist. Manchmal spricht sie in rätselhaften Reimen und die große Frage, die uns in den nächsten Monaten beschäftigen wird, ist, was der konkrete Auslöser ihres Handlungsdranges war. Sie selbst scheint die Erinnerung daran vollständig verdrängt zu haben, und wenn man den Schweregrad ihrer Erkrankung ansieht und bedenkt, dass sie gerade mal 16 Jahre alt ist, müssen wir davon ausgehen, dass ihre Behandlung eine sehr lange Zeit dauern wird. Lassen Sie uns also versuchen, einen möglichst guten Therapieplan für sie auszuarbeiten in der Hoffnung, dass wir ihr Leid dadurch lindern können. Im Übrigen hat das Gericht auch darauf hingewiesen, dass eine vorzeitige Entlassung unwahrscheinlich ist. Das bedeutet, es liegt nun an uns. Ich bin für Vorschläge offen.“

 

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5 Wochen später, Talkshow

„Der Fall Marissa hat uns die letzten Monate wieder einmal gezeigt, wie notwendig es ist, wachsam zu sein. Nachdem sie nun schon mehrfach das Pflegepersonal angegriffen und teilweise schwer verletzt hat, können wir nur froh sein, dass die Polizei sie rechtzeitig gefunden und weggesperrt hat. Und natürlich dürfen wir dankbar sein für unsere gut ausgebildeten Pflege- und Sicherheitskräfte in der forensischen Psychiatrie. Die Gründe ihrer grausigen Tat bleiben für uns alle ein Rätsel und wir können nur für die arme Seele dieses Mädchens beten.

Unser nächstes Thema sind die im Juni bekanntgewordenen Fälle von Kindesmissbrauch in einer Gartenlaube in Münster. Oft kommen diese Verbrechen nur durch Zufall ans Licht und die Dunkelziffer …“

 

***

 

Eingesperrt fühl ich mich hier gefangen gleich dem wilden Tier.

Von Stern zu Stern sog sich mein Herz allmählich voll mit Sorg‘ und Schmerz.

Ich fand sie nie drum wollt‘ ich nun zu Fuß die Suche nach ihr tun.

Paps hielt mich fest, da musste ich lieb zu ihm sein, mit einem Stich.

Ich ließ viel Blut in meinem Zimmer, bedeckte ihn im Sternenschimmer

und stolperte in eine Welt, so fremd, dass sie mir nicht gefällt.

Ich will zu jedem Liebsein hier bis durch die allerletzte Tür.

Frei wie der Wind woll‘n wir dann sein, Mami und ich im Sternenschein.

 

V2