Von Katharina Rieder

„Hallo! Ich bin`s!“, hört sie jemanden sagen; dann wird es still in der Leitung.

Herzbewegend still. Sie bleibt eine Weile verwirrt, das Handy noch in der Hand, vor dem Haupteingang stehen. Hat sich sicher nur verwählt, versucht sie sich einzureden. Aber die kindlich klingenden Worte sind bis zu ihrem innersten Kern durchgedrungen. Sie versucht die aufkeimenden Gefühle zurückzudrängen. Doch vergebens. Sie kommen wie sanfte Wellen, die der Wind aufwiegelt, bis sie sich schließlich dynamisch am Ufer entladen, über sie. 

 

Anstatt in ihrem Büro sitzt sie wippend auf einem der bunten Würfel im Park des Universitätsgeländes, kaut erregt auf ihren Fingernägeln herum. Verärgert steckt sie ihre Hände in die Hosentaschen. Sie fühlt das Handy auf der rechten Seite, nimmt es heraus, und obwohl es überhaupt keinen Sinn ergibt, hält sie das Telefon an ihr Ohr. Studierende, Lehrende, Mitarbeitende aus aller Welt strömen in das gläserne Gebäude vor ihr. Erwartungsvoll schließt sie ihre Augen, gibt sich den Lauten ihrer Umgebung hin. Die unterschiedlichen Sprachen vermischen sich miteinander. Langsam lassen die eiligen Schritte und das Stimmengewirr etwas nach. Nun sind nur noch das Gurren der Tauben sowie ein sanftes Plätschern zu vernehmen. Plötzlich steigt ihr vollkommen unerwartet der süßliche Duft der Schafgarbe in die Nase. Sie atmet ein paar Mal tief durch, nimmt all ihren Mut zusammen und fragt zögerlich: „Hallo? Bist du noch da?“

 

„Ja! Ich bin noch da!“, antwortet Clara, ihr kindliches Ich, lächelt ihr aufmunternd zu und läuft über die kniehohe Bauernwiese davon.

Vor ihr breitet sich eine grüne Weide, gefüllt mit den blau-violetten Blüten des Wiesen-Salbeis und der weißen Schafgarbe aus. Sie folgt dem barfüßigen Mädchen, deren lange Mähne vom Wind durcheinandergewirbelt wird.

 

„Clara! Papa ist zu Hause! Kommst du bitte!“

Sie läuft auf ihren Vater zu und stürzt sich in seine Arme. Er wirbelt sie hoch, sie steckt sehnsüchtig ihren Kopf in seine langen, lockigen schwarzen Haare. Sie nimmt seinen Geruch in sich auf, der an eine Mischung aus Tabak und Minze erinnert.

„Ich habe dir etwas mitgebracht!“, sagt er und kramt ungeduldig in einer der großen Einkaufstüten herum, die neben ihm am Boden stehen.

Triumphierend zieht er eine Jeanshose und eine dazugehörige Jacke hervor.

„Das ist etwas ganz Besonderes!“, sagt er stolz. „War sauteuer!“

Clara schlüpft schnell hinein. Sie kann es gar nicht mehr erwarten, mit den neuen Klamotten in die Schule zu gehen, obwohl sie da eigentlich nicht gerne hingeht.

 

Am nächsten Morgen wird Clara von ihrer Mutter vor der Schule abgesetzt. Sie trägt ihre nagelneuen Jeans und die Jacke. Im Klassenzimmer angekommen, rennt sie auf ihre Freundinnen zu.

„Na, was sagt ihr? Ist etwas ganz Besonderes, oder?“, fragt sie stolz.

„Bäh, du schaust ja wie ein Bub aus!“, ruft ein Mädchen im rosa Rüschenkleidchen aus.

Das Mädchen rümpft ihre Nase. Ihre Zöpfe wackeln dabei bedrohlich hin und her.

„Schaut mal alle her! Die Clara sieht aus wie ein Bub!“, ruft ein anderes Mädchen aus.

Mit ihrem Gelächter lockt sie weitere Kinder an. Jetzt wird Clara von allen ausgelacht, einige zeigen mit dem Finger auf sie. Clara versucht, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, doch es gelingt ihr nicht. Ihre Augen brennen, schnell wischt sie mit dem Handrücken ihre nassen Wangen trocken.

 

Bevor es zur großen Pause klingelt, bekommt Clara häufig Bauchschmerzen. Sie sind insgesamt fünf Mädchen. Am Tisch ist aber nur Platz für vier. Niemand möchte sich woanders hinsetzen. Daher laufen sie wie beim Sesseltanz immer um den Tisch herum, solange bis eine von ihnen laut „Stopp!“ ruft. Ab diesem Moment geht es darum, möglichst schnell einen freien Platz zu ergattern. Meistens ist Clara diejenige, die ohne Stuhl verlassen dasteht. Wenn es eines der anderen Mädchen trifft, spielen sie das Spiel so lange weiter, bis es endlich Clara erwischt. Dann sind sich alle einig: sie soll gehen. Sie denkt, dass irgendetwas an ihr nicht richtig ist. Wenn sie wüsste, was, würde sie es ändern.

 

Wieder zu Hause reißt sie sich Clara beide Kleidungsstücke wütend vom Leib, pfeffert sie in eine Ecke ihres Zimmers.

„Ich ziehe das nie wieder an!“, schreit sie und stampft mit den Füßen auf den Boden.

„Spinnst du, Fräulein? Du ziehst das sofort wieder an! Papa geht gleich mit dir in die Stadt, um Pralinen für Oma zu kaufen!“, ruft ihre Mutter aus.

 

Über die Innbrücke gelangen sie ins Stadtzentrum. Claras Hand ruht stolz in Papas. An seiner Seite fühlt sie sich stark wie eine Löwin. Die beiden werden immer wieder angestarrt. Manche Passanten schütteln sogar den Kopf. Clara weiß nicht, wieso das so ist, aber es ist kein gutes Gefühl. Als sie am oberen Stadtplatz an der Kirche vorbeigehen, hört Clara, wie eine ältere Frau sagt: „Schon wieder so ein langzotteliger Giftspritzer! Das arme Kind!“

Clara ist nicht klar, was die Frau damit meint. Aber sie versteht, dass die Frau etwas an ihrem Vater absolut nicht gut findet.

„Papa, was ist eigentlich ein langzotteliger Giftspritzer?“, fragt sie.

„Hm,“, überlegt er kurz, kratzt sich dabei am Bart, „ein Mann mit langen Haaren und einem großen Problem würde ich sagen.“

„Papa, hast du etwa ein großes Problem?“, hakt sie weiter nach.

„Ich? Nein, ich habe doch dich!“, sagt er und stupst sie auf die Nase.

„Warum sagt die Frau dann so etwas?“

„Weil sie die Angst im Nacken und ein hungriges Herz im Leib hat“, antwortet ihr Vater und zwinkert Clara verschwörerisch zu.

 

Die besten Pralinen gibt es im Café Tirol. An der Türe hängt ein Schild. Es zeigt einen mit einem roten Kreuz durchgestrichenen Mann mit langen Haaren. Clara versteht nicht, warum sie selbst lange Haare haben darf, Papa aber nicht. Auch Claras Papa hat darauf keine zufriedenstellende Antwort. Sie kaufen die Pralinen nebenan in der Bäckerei. Dort gibt es nur ein Verbotsschild „Hunde mitnehmen verboten“. Claras Mama holt die beiden mit dem Auto ab.

„Beeilt euch!“, drängelt sie. „Wir sind schon spät dran!“

Oma wohnt in Bayern, Clara und ihre Eltern in Tirol. Wenn sie Oma besuchen fahren, müssen sie die Landesgrenze passieren. Sie kommen problemlos hinüber, doch auf dem Weg wieder zurück muss Claras Mama für eine Zollkontrolle rechts ranfahren.

„Nicht schon wieder!“, ruft sie genervt aus.

Sie lächelt ihre Tochter an, streichelt ihr über den Kopf. Zwei Beamte durchsuchen das Auto und Claras Vater muss mit einem der Männer mitgehen. Clara klammert sich ängstlich an Benni, ihre graue Kuschelmaus.

„Den müssen wir auch kurz mitnehmen! Kriegst ihn gleich wieder. Wir passen gut darauf auf“, sagt einer der Zollbeamten und nimmt ihn Clara aus der Hand.

Nach einer Weile kommt Claras Vater mit Benni in der Hand wieder zurück. Er hat Tränen in den Augen. Clara fragt sich, was die Männer mit ihrem Papa gemacht haben. Sie hat ihren Vater noch nie zuvor weinen gesehen. Ein beklemmendes Gefühl macht sich in ihr breit. Claras Stofftier hat am Rücken einen großen Schlitz, weiße Watte quillt aus ihm hervor. Sie klopft mit ihren Fäusten gegen den Vordersitz.

„Der Mann hat gelogen! Die haben überhaupt nicht gut auf euch aufgepasst!“, bringt sie enttäuscht hervor.

„Mir geht es gut, Kleines. Mach dir keine Sorgen. Zu Hause operieren wir deinen Benni, nähen ihn hinten wieder zu!“

 

Jetzt muss Clara auch noch zum Ballettunterricht. Sie mag da nicht hin. Aber sie kann ihren Eltern nicht erklären, warum das so ist. Ihre Mutter begleitet sie hinein. Die anderen Mütter tuscheln, sobald sie die beiden sehen. Claras Mutter ist noch sehr jung und sie bleibt auch nicht da, sondern holt Clara erst später nach dem Unterricht wieder ab. Eine der Mütter fragt Clara, wann sie Geburtstag hat.

 „Im August“, antwortet sie.

„Aha. Habe ich mir schon gedacht“, sagt die Mutter, dreht sich um und unterhält sich mit der Tanzlehrerin weiter.

„Gott sei Dank ist meine Sophie kein Augustkind! Nicht auszudenken, wenn sie erst mit sieben in die Schule käme…“

Clara denkt nun, dass es nichts Gutes ist, im August geboren zu sein. Sie kann sich nur mehr schwer auf den Unterricht konzentrieren. Die Ballettlehrerin ermahnt sie immer wieder. Dann richten sich die Blicke der anderen Mädchen und Mütter auf sie. Am liebsten würde sie weit weglaufen. Irgendwohin, wo man Augustkinder toll findet und nicht lacht, wenn man einen Fehler macht.

 

Mit der Sophie streitet sich Clara häufig, weil sie ihr einfach nicht glauben will, dass sie aus Tirol ist. Das ärgert Clara besonders. Endlich ist die Stunde vorbei. Claras Mutter wartet schon bei den Umkleidekabinen auf sie. Während sich Clara anzieht, fragt sie ihre Mutter vorsichtshalber: „Mama, wir sind schon von da gell?“

„Ja sicher. Warum?“

„Weil die Sophie immer sagt, dass ich gar nicht von hier sein kann, weil ich doch ganz anders spreche!“, antwortet Clara.

„Das kommt daher, weil deine Oma aus Bayern ist. Daher sprechen wir eben etwas bunter als die anderen!“

„Und bunt ist doch gut, Mama, oder? Meine Lieblingsfarbe ist doch bunt!“

 

Ebenso bunt sind die Sitzwürfel auf dem Universitätsgelände, auf denen sich Clara zurück in der Gegenwart wiederfindet. Ihr kindliches Ich zieht sich langsam zurück, ist bald nur noch in der Ferne sichtbar. Die Tauben gurren immer noch, doch der Geruch der Schafgarbe ist verflogen. Zurück bleibt die Erinnerung an die Angst im Nacken und an ein hungriges Herz…

 

***

Lass die Liebe lebendig!

Die Liebe lässt uns die Einzigartigkeit des anderen erkennen,

sie ist es, die uns Hoffnung gibt, sie ist es, die uns Heilen lässt;

Liebe lässt.

 

Lass die Liebe lebendig!

Die Liebe lässt uns verzeihen,

sie ist es, die hungrige Herzen heilt;

lebendige Liebe heilt.

 

Endversion