Von Franck Sezelli

»Nicht schon wieder!« Herbert stöhnte genervt auf, das schrille Klingeln riss ihn aus seinen Gedanken. Er war gerade so schön im Fluss gewesen, seine Geschichte schrieb sich praktisch von allein.

»Was gibt’s?«, brummte er unwirsch in den Hörer. Bei unbekannten Anrufern meldete er sich nie mit seinem Namen.

»Spreche ich mit Herrn Herbert Seidel? Ich bin Tanja Fleischer von der Hessischen Volksstimme und …«, klang es mit angenehmem Timbre in sein Ohr.

Aber Herbert unterbrach die Anruferin trotz der einschmeichelnden Stimme: »Ich kaufe nichts, will auch kein Abonnement, habe überhaupt keine Zeit! Bemühen Sie sich nicht!« Dann legte er auf.

»Wer war das?«, rief Regina aus dem Wohnzimmer.

»Nichts weiter, irgendeine Zeitung«, antwortete er.

»Was wollte die? Ein Interview mit dem großem Schriftsteller?« Die Ironie im Tonfall seiner Frau war nicht zu überhören. Herbert ging nicht darauf ein. »Ich habe die Frau nicht ganz richtig verstanden, ich glaube, sie kam aus Hessen. Seltsam!«

 

Zwei, drei Tage später kam erneut ein Anruf mit ihm nicht bekannter Nummer. Erst wollte er ihn einfach wegdrücken. Dann nahm er doch neugierig ab. Im Moment hatte er sowieso nichts zu tun. »Hallo, wer ist da?«

Er erkannte die Stimme sofort wieder, diese Frau Leichter oder wie sie hieß aus Hessen. »Wir haben schon einmal kurz miteinander gesprochen, Herr Seidel, wurden dann aber unterbrochen«, log die angenehme Frauenstimme. »Ich hoffe, Sie haben heute ein wenig mehr Zeit und legen nicht auf.«

»Worum geht es denn?«, fragte Herbert versöhnlich, denn diese Stimme verursachte ihm ein Kribbeln im Bauch.

»Wie gesagt, ich bin Katja Reicher von der Sächsischen Volkszeitung und …«

»Kamen Sie letztens nicht von der Hessischen Volksstimme?«

»Nein, nein, ich glaube, die gibt es gar nicht. Da müssen Sie sich verhört haben.«

»Das kann schon sein, Ihren Namen habe ich auch anders in Erinnerung. Vielleicht habe ich Sie nicht richtig verstanden. Ich bitte um Verzeihung!« Was ist nur mit mir los, ich bin doch sonst nicht so höflich am Telefon? Herbert erkannte sich selbst nicht mehr.

»Nein, Herr Seidel, ich muss mich entschuldigen. Aber darf ich Sie heute etwas fragen?«

»Schießen Sie los!« Herbert war jetzt wirklich neugierig und hoffte, dass diese warme Stimme keiner Versicherungsvertreterin gehörte.

»Es geht um eine Befragung. Wir planen einen umfassenden Report über die Lebensverhältnisse der Jugend in den fünfziger und sechziger Jahren für die Wochenendbeilage.«

»Aber da war ich ja, zumindest in den Fünfzigern, noch Kind.«

»Richtig! Es geht um Kindheit und Jugend, Schule und Elternhaus, Freundschaft und Liebe. Das können wir aber nicht am Telefon machen. Ich würde mit Ihnen gern einen Termin vereinbaren. Darf ich Sie in ein Café einladen?«

Herbert überlegte kurz, lehnte dann aber ab: »Das wird mir zu zeitaufwendig, Frau Reicher! Sicher finden Sie andere Leute, die Sie befragen können. Viel Erfolg!« Schon hatte er aufgelegt, die Journalistin kam gar nicht mehr zu Wort. Herbert war es zu suspekt, wenn ihn eine Unbekannte nach seinem Jugendleben ausfragen und das dann auch noch in die Zeitung bringen wollte.

Regina kam in sein Arbeitszimmer und wollte wissen, mit wem er da so lange gesprochen hatte.

»Ach, das war wieder diese Frau von der Zeitung. Sie interessierte sich für meine Jugendzeit, da habe ich sie abblitzen lassen.«

»Was hätte sie denn da auch schon Interessantes von dir erfahren können?« Regina verzog abschätzig den Mund und zog wieder ab.

In der Nacht träumte Herbert, wie er mit einer bildhübschen, ihm nicht bekannten Frau in einer Nachtbar saß, sündhaft teure Cocktails schlürfte, und sie ihn beim Tanzen heiß umgarnte. Er schreckte schließlich hoch und freute sich, seine Eheliebste neben sich schlafen zu sehen. Dann kuschelte er sich beruhigt wieder in seine Bettdecke. Im Wiedereinschlafen dachte er noch: Drehe ich alter Kerl jetzt völlig durch? Ich liebe doch mein gemütliches Leben.

Am Tage kam ihm immer mal wieder die abgelehnte Einladung in den Sinn. Vielleicht hätte ich zusagen sollen? Wann habe ich zum letzten Mal entspannt in einem Café gesessen und ein interessantes Gespräch geführt?

 

Nach einer knappen Woche rief die Volkszeitung wieder an. Herbert hatte beim letzten Mal die Nummer unter dieser Bezeichnung abgespeichert. Aufgeregt nahm er ab: »Herbert Seidel, sind Sie es, Frau Reicher?«

»Ja, ich bin’s, Herr Seidel. Ich dachte mir, ich rufe Sie einfach noch einmal an. Vielleicht kann ich Sie doch noch zu einem Gespräch ins Maître einladen?«

»Ins Café Maître? Dieses gemütliche Ecklokal mit französischem Flair in der Karli? Das würde mich schon reizen …«

Schnell war ein Termin gefunden, für den man sich verabredete. Regina hatte diesmal von dem Anruf nichts mitbekommen, Herbert erzählte ihr auch nichts davon.

 

Als er das Café betrat, winkte ihm aus dem hinteren Teil des wirklich ansprechenden Lokals eine junge Frau zu. Also, für seine Verhältnisse war sie jung, eine bildschöne blonde Frau in mittleren Jahren. Sie begrüßte ihn freundlich: »Reicher. Schön, dass Sie kommen konnten, Herr Seidel. Ich freue mich, Sie näher kennenzulernen. Was kann ich Ihnen bestellen?«

Die beiden kamen schnell ins Gespräch. Das Gesicht von Frau Reicher kam Herbert irgendwie bekannt vor, aber er wusste nicht, woher. Er wunderte sich, was die Frau schon alles über ihn wusste. »Sie sind 1955 in die Humboldt-Schule gekommen und waren dort bis zur achten Klasse. Dann sind Sie in die Erweiterte Oberschule gewechselt. Nach dem Abitur wurden Sie nicht gleich eingezogen und konnten sofort mit dem Studium beginnen, stimmt’s?«

Er nickte bestätigend. »Woher wissen Sie das alles?«

»Ich bin Journalistin. Recherche.«

An diesem Nachmittag wurde es nur ein kurzes Treffen, sozusagen zum miteinander Warmwerden. Katja erzählte ein wenig von sich, unter anderem, dass sie geschieden ist, und erläuterte, worauf sie sich in den nächsten Befragungen konzentrieren wollte. Nachdem sie absolute Anonymität für den Artikel zugesichert hatte, war Herbert einverstanden und sie verabredeten weitere Treffen.

 

Es folgten viele Gespräche, auch über sehr persönliche Dinge. So fragte die Journalistin einmal: »Und wie war das mit der Religion?«

»Das ist ja fast die Gretchenfrage«, antwortete Herbert verblüfft. »Religionsunterricht gab es damals ja nicht! Meine Eltern schickten mich in die Christenlehre. Die fand im Gemeindehaus der Kirche neben der Schule statt. Ich hatte den Eindruck, als ob der Stundenplan seltsamerweise diesen kirchlichen Unterricht berücksichtigte. Die halbe Klasse war dort. Einmal beschwerte sich der Pfarrerssohn sogar bei unserer Lehrerin – Fräulein Oeder hieß sie – weil ich ihn in der Christenlehre geärgert hatte.«

Er erzählte von den Klassenkameraden, mit denen er sich gut verstand, von Dieter, Günter, Annemarie und Brigitte. Und dass er sich im vierten Schuljahr unsterblich in die blonde Eva aus der Parallelklasse verliebt hatte. Sie konnte es nie erfahren, weil sie bald in eine andere Stadt zog. Auch vom Raufbold der Klasse, unter dem er des Öfteren zu leiden hatte, von Klaus, erzählte er freimütig.

Im Laufe der Treffen wurden Herbert und Katja immer vertrauter miteinander. Der Ältere bot der jungen Frau das Du an, worauf die Gespräche noch intimer wurden. Sie trafen sich weiter im Maître. Bald aber tranken sie keinen Kaffee mehr, sondern wechselten zum Rotwein. Katja interessierte sich zunehmend für seine Freundinnen aus der Jugendzeit. Vor allem auf Marlies kam sie immer wieder zurück, die in dieselbe Klasse gegangen war. Ab der achten Klasse waren sie miteinander gegangen, wie man damals sagte. Sie blieb auch seine Freundin, als sie in der Erweiterten Oberschule in der Parallelklasse war. Mit Unterbrechungen hielt diese Jugendliebe bis zum Studienbeginn. Katja wollte alles wissen, aber viel gab es da ja nicht zu erzählen, meinte Herbert. Trotzdem bohrte Katja immer mal wieder nach. »Und, war es deine Erste? Du weißt schon …« Katja schaute ihn aus dunklen Augen fast verführerisch an.

»Leider kam es dazu nie …«

 

Regina wurde eifersüchtig. »Du wurdest in einem Café gesehen, die Köpfe zusammengesteckt mit einer jungen Frau.«

»Ach, das … Eine Arbeitskollegin, mit der ich die Weihnachtsfeier für die Abteilung vorbereiten soll. Ich muss mich übrigens nächste Woche noch einmal mit ihr treffen deswegen.«

Auf dieses Mal freute sich Herbert irgendwie besonders. Katja hatte ihn zu sich nach Hause eingeladen. »Da können wir offener miteinander sprechen …«

 

Es wurde ein sehr offenes Gespräch. Herbert entdeckte an der Wand ein Foto, dessen Anblick bei ihm eine Gefühlsexplosion auslöste. Er wusste nicht, wie es ihm erging. Als er wieder klarer denken konnte, rief er aus: »Das ist doch Marlies Tschirner, meine Jugendfreundin! Wie kommt dieses Bild hierher?«

»Das ist meine Mutter. Ich hieß Katja Tschirner, bis ich geheiratet hatte.«

»Hast du mich deswegen so ausgefragt?«

»Ja, ich muss gestehen, dass du mir schon lange aufgefallen bist. Du gefällst mir, das hast du bestimmt schon gespürt. Du bist ein sehr attraktiver Mann. Deswegen wollte ich alles über dich wissen.«

»Dann stimmt das gar nicht mit dem Artikel?«

»Doch! Wir werden sehen, ich habe einen Arbeitskollegen dazu überredet. Er befragt Frauen zu denselben Themen.«

Herbert war sprachlos, wusste nicht, was er davon halten sollte. Hat ihm Katja, die vom Alter her seine Tochter sein könnte, eben ihre Bewunderung erklärt, vielleicht gar eine gewisse Verliebtheit? Sie gefiel ihm schon lange, keine Frage! Aber das geht doch nicht!, musste er denken.

»Weißt du, Herbert, da ist noch etwas anderes. Meine Mutter ist zeitig gestorben, Autounfall! Wir waren immer allein und sie hat mir nie von meinem Vater erzählt, auch auf Nachfragen nicht. Dann war es zu spät. Von dir aber hat sie immer geschwärmt …«

Eindringlich sah Katja dem verblüfften Mann in die Augen und fragte: »Wärst du mit einem Vaterschaftstest einverstanden, Herbert?«

*

Das alles lag schon zehn Jahre zurück, als mein alter Studienfreund Herbert davon bei einer zufälligen Wiederbegegnung erzählte. Heute sind Katja und Herbert ein glückliches Paar.

 

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