Von Angelika Brox

Die ausladende Krone des Kastanienbaums filtert das Sonnenlicht und lässt den kleinen Raum im 3. Stock wie eine ruhige, schattige Oase wirken.

Auf der Fensterbank halten sich tapfer zwei Grünpflanzen, davor steht ein altmodischer Schreibtisch mit Computer, Telefon, Protokollformularen, Schreibblock und Stiftebox. Ich schließe die Tür, stelle Wasserflasche und Trinkglas ab, nehme auf dem Bürostuhl Platz und starte den Computer. Während er hochfährt, blinkt schon das rote Lämpchen am Telefon. 

Ich nehme den Hörer ab. „Kinder- und Jugendtelefon, hallo!“

Die Stimme des Mädchens klingt aufgeregt. „Ist da der Pizzaservice? Ich wollte eine Pizza bestellen.“

Im Hintergrund höre ich Gekicher. Da will wohl gerade jemand eine Mutprobe bestehen, denke ich und frage: „Was soll denn drauf?“

Kichern. Tuscheln. „Salami, Thunfisch und Pilze.“

„Okay, kommt in zehn Minuten.“

Unter ausgelassenem Gelächter wird aufgelegt.

Scherzanrufe gehören nun mal dazu. Viele Kinder wollen die Nummer gegen Kummer einfach mal testen. Hoffentlich rufen sie dann später auch hier an, wenn sie wirklich in Not sind.

 

Wieder blinkt das rote Lämpchen.

„Kinder- und Jugendtelefon, hallo!“

„Hallo, wir wollen uns bei DSDS bewerben. Können Sie mal hören, ob wir gut genug sind?“

Zwei Mädchenstimmen schmettern mir „Atemlos“ ins Ohr. Ich seufze innerlich. Manchmal frage ich mich wirklich, warum ich hier eigentlich sitze. Schließlich ist es nur ein Ehrenamt. Doch ich wappne mich mit Geduld, höre mir den Song an, bis die beiden Künstlerinnen vor Lachen nicht mehr weitersingen können, und gebe den gewünschten Kommentar ab: „Das war schon nicht schlecht. Wenn ihr noch ein bisschen übt, könnte es was werden mit euch.“

„Danke!“, rufen sie und legen kichernd auf.

Natürlich verschwenden diese Spaßvögel keinen Gedanken daran, dass sie die Leitung blockieren und ihretwegen vielleicht ein Kind mit einem echten Problem in der Warteschleife hängt.

 

Drei Sekunden später blinkt das rote Lämpchen erneut.

Hoffentlich nicht wieder irgendein Witzbold, denke ich, atme tief durch und nehme den Anruf an.

„Kinder- und Jugendtelefon, hallo!“

„Hallo“, meldet sich ein Junge, der den Stimmbruch bereits hinter sich hat. „Ich würde gern mit jemandem reden.“

„Ja, da bist du hier richtig. Worüber möchtest du denn reden?“

„Es ist nicht so leicht …“

Ich lasse ihm Zeit.

Als er weiterspricht, wirkt er angespannt und beginnt zu stottern. „Ich bbbin 17 … und ich bbbin Spastiker …“

Meine Atmung gerät kurz ins Stocken. Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie betroffen ich bin.

„Das ist sicher nicht einfach für dich. Ich finde es toll, dass du den Mut gefunden hast, hier anzurufen.“

Ich höre, wie er mit den Tränen kämpft. „Dddas ist noch nicht alles …“ Er schnieft. „Ich muss immer noch W-Windeln tragen! Manchmal komme ich mir vor wie ein B-Baby!“

Manche Anrufe sind schwer zu ertragen. Doch ich bemühe mich, auf keinen Fall mitleidig zu klingen. Mitleid ist vermutlich das Letzte, was er braucht. Also sage ich freundlich: „Ich kann verstehen, dass dir das zu schaffen macht. – Wohnst du noch bei deinen Eltern?“

„Nein, das wollte ich irgendwann nicht mehr.“ Seine Stimme klingt nun fester und er stottert auch kaum noch. „Ich wollte selbstständiger werden und bin in eine Einrichtung für Körperbehinderte gezogen. Meine Eltern besuchen mich aber häufig. Es ist besser so.“

„Super, wie du das geschafft hast! Du weißt offensichtlich, was du willst, und setzt es dann auch um; das finde ich echt stark. – Was gefällt dir denn besonders in dieser Einrichtung?“

„Zweimal in der Woche bekomme ich Schwimmstunden, die liebe ich am meisten. Sonst ist mir ja Sport kaum möglich, weil mir mein Körper oft nicht gehorcht. Aber im Wasser trage ich einen Schwimmreifen und Schwimmflügelchen und dann kann ich mich fast schwerelos bewegen. Das ist ein wunderschönes Gefühl.“

Ich höre seiner Stimme an, wie glücklich es ihn macht, und sage: „Ich stelle mir vor, dass du im Wasser schwebst wie ein Astronaut im Weltall.“

„Genau.“ Seine Stimme lächelt. „Ich bin so froh, dass ich meine Schwimmflügelchen habe! – Aber jetzt fragst du dich bestimmt, wie das überhaupt geht, da ich doch inkontinent bin.“

„Ehrlich gesagt habe ich daran überhaupt nicht mehr gedacht.“

„Ich erkläre es dir trotzdem. Es gibt nämlich spezielle Badehosen für Inkontinenz, das wissen viele gar nicht. – Sag mal, hast du früher auch Schwimmflügelchen getragen?“

„Ja klar. Und einen Schwimmreifen auch.“

 

Unser Gespräch tut ihm spürbar gut; er taut immer mehr auf. Im Moment scheint er die Last seiner Krankheit vergessen zu haben und spricht von den positiven Dingen in seinem Leben. Und ich weiß wieder, warum ich dieses Ehrenamt ausübe, auch wenn mir die Scherzanrufe manchmal auf die Nerven gehen.

Mein Anrufer sagt: „Wegen meiner körperlichen Defizite bemühe ich mich zum Ausgleich, meinen Intellekt zu stärken.“

„Alle Achtung, das hört sich nach einem klugen Plan an!“, antworte ich und meine es auch so. Ich bewundere seine glasklare Formulierung und die realistische Sicht auf seine Zukunft.

Etwas verlegen fügt er hinzu: „Meine Schulnoten sind  – ähm – gut bis sehr gut …“ Mit hörbarem Stolz fährt er fort: „… und vielleicht werde ich demnächst sogar studieren.“

„Das finde ich super! Ich bin total beeindruckt von deiner Energie und Entschlossenheit und ich glaube, dass du wirklich schaffen kannst, was du dir vornimmst. – Was möchtest du denn studieren?“

„Oh, da gibt es vieles, was mich interessiert. Geschichte, Politik, Literatur, Philosophie … Ich werde einfach alles mal ausprobieren.“

 

Unsere Unterhaltung wird immer lockerer. Wir sprechen über Lieblingsbücher, Filme, Musik … ein Thema folgt dem nächsten und das Handicap meines jugendlichen Anrufers ist längst in den Hintergrund getreten. 

Nach fast zwei Stunden, die mir wesentlich kürzer erschienen, sagt er: „Ich muss jetzt leider aufhören, weil gleich eine Pflegerin kommt.“

„Alles klar. Es hat mir richtig Spaß gemacht, mich mit dir zu unterhalten.“

„Danke sehr, mir auch. Du hast eine Stimme wie Schwimmflügelchen.“

Ich muss lachen und frage: „Wie klingt denn eine Schwimmflügelchen-Stimme?“

„Man fühlt sich so sicher und getragen. Man weiß, du lässt einen nicht untergehen.“

Mir wird warm ums Herz; ich bin zutiefst gerührt von diesem wunderbaren Kompliment eines bewundernswerten jungen Menschen.

„Oh, das hast du schön gesagt“, bedanke ich mich. „Darüber freue ich mich sehr!“

„Ja“, bekräftigt er, „und ich wünsche dir, dass du noch für viele Anrufer Schwimmflügelchen sein kannst. Und deinen Anrufern kannst du sagen, sie sollen ruhig Schwimmflügelchen tragen, das muss ihnen nicht peinlich sein. Hauptsache, man traut sich überhaupt, etwas zu versuchen.“

 

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