Von Renate Oberrisser

Abrupt schnelle ich vom Sofa hoch und schüttle mein kribbeliges Bein. Stolpernd krache ich mit  dem Kopf gegen den Wohnzimmerschrank. Erleichtert über die Pause, poltert das Handy zu Boden. Abgehackt nehme ich noch ein paar Worte wahr.

„… Hallo, hallo … ist da wer?“, fragt eine Frauenstimme ungehalten. Die Verbindung reißt ab.

„Ich, der Laurenz. Wer den sonst“, maule ich in die Stille.

Mit einer Beule auf der Stirn tappe ich im Flimmerlicht des Fernsehgerätes umher, bemüht, nicht auf das Telefon zu steigen, und suche den Lichtschalter. Verflixt, schon wieder ist es mir passiert. Wieder einer dieser hinterhältigen Rückfälle. Wie aus heiterem Himmel überfallen sie mich, zwingen mich dazu, nach dem Handy zu greifen und diese Nummern anzurufen. Und ich bin machtlos dagegen. Sie sind eingebrannt in mein Gedächtnis wie ein Brandzeichen in die Haut einer Kuh.

 

Die Neonröhre flammt auf und wirft zuckende Schatten an die Mauer. Es ist eine Wand, an der einst Bilder hingen. Vermutlich Familien- oder Urlaubsfotos eines Vormieters. Jetzt starren mir vergilbte Quadrate und Rechtecke entgegen und zeugen von meiner erbarmungswürdigen Existenz. Stumpf stiere ich vor mich hin und versuche mich in die pulsierende Schwellung an meinem Scheitel hineinzuversetzen. Das Aggregat des Kühlschranks springt wummernd an. Unterzuckert beschließe ich den geringen Inhalt in Augenschein zu nehmen. Der Geruch von altem Käse entweicht aus der geöffneten Tür. Ich beiße ein Stück davon ab, spüle mit einem Schluck Bier aus dem Discounter nach und drücke mir die kühlende Dose an die Stirn.

 

Bip bip … bip bip … bip bip … meldet sich das Handy aus einer dunklen Ecke des Raumes. Ausgerechnet in dem Augenblick, als das Pochen meditative Züge angenommen hat und meine Gedanken sich auf den Schmerz konzentrierten, weg vom diesem Drang nach dem Telefon zu suchen.

Mühsam schleppe ich mich dennoch in die Dunkelheit. Vielleicht wäre es heilsamer auf das Handy zu treten. Es unter meiner Sohle zu zermalmen, auszulöschen und dann als Mahnmal meiner Schwäche in seinen Einzelteilen in einem Einmachglas konserviert, auf den Esstisch zu stellen.

 

„Ja, hallo“, melde ich mich trotzdem.

„Laurenz, endlich hebst du ab. Ist alles in Ordnung bei dir? Ich hatte so ein komisches Gefühl“, höre ich Frieda sagen.

„Ja, hallo“, wiederhole ich automatisch, noch in Gedanken versunken. „Alles okay. Wieso fragst du?“

„Du warst letzten Donnerstag wieder nicht beim Treffen dabei“, ermahnt sie mich. „Wir waren uns doch einig, dass du da mal vorbeischauen könntest.“

„Letzte Woche ging es sich mit dem Termin nicht aus. Da musste ich raus zu meiner Mutter. Du weiß ja, die alte Dame hat auch hin und wieder Sehnsucht nach mir“, versuche ich mich originell herauszureden.

„Du vergisst, dass ich deine Mutter sehr gut kenne“, durchschaut sie mich. „Laurenz, ich weiß, dass es dir nicht gut geht. Du hast dich noch nie verstellen können.“

„Okay, Frieda. Diese Woche gehe ich hin. Bestimmt!“, versuche ich das Gespräch zu beenden.

Wie Feuer brennt das Handy in meiner Hand. Die Versuchung die Nummern anzurufen, werden mit jeder Sekunde, die ich telefoniere größer. Ich lege auf und öffne die nächstbeste Schublade vor meiner Nase und verfrachte das Gerät in die hinterste Ecke. Mit geschlossenen Augen schließe ich die Lade, in der Hoffnung mir nicht zu merken, welche es ist. Ein verwegenes Unterfangen, bei einer Kommode mit zwei Türen und naja … Laden.

 

Fluchtartig verlasse ich über einige ungeöffnete Kartons balancierend die Wohnung. Während ich über die Treppe nach unten stolpere, versuche ich gleichzeitig  mit dem Zeigefinger im Turnschuh diesen über die Ferse zu ziehen und die andere Hand hinter den Rücken verrenkend in den Ärmel der Jacke zu bekommen. Etwas Besseres könnte mir gerade nicht passieren, als mit gebrochenem Hals im Krankenhaus zu landen, geht es mir dabei durch den Kopf. Dies wäre eine glorreiche Lösung meiner Probleme.

 

Um auf andere Gedanken zu kommen laufe ich weg vom Trubel der Stadt, der mondhellen Uferpromenade entgegen. Riesig prangt diese milchige Scheibe am Himmel und schaut mit höhnischem Grinsen auf mich herab. Weit habe ich es gebracht. Beziehung kaputt, Kind weg, Job auf der Kippe und Schulden. Und diese verdammten Nummern, die immer wieder drängen angerufen zu werden.

„Ruf an, ruf an. Du willst es doch. Komm schon und ruf an. Du hast mich gesehen, du kannst mich haben. Ruf an. Du willst es doch auch!“, singen die Sirenen in meinem Kopf.

Voller Wut und Verzweiflung laufe ich schneller und schneller, sprinte über einen Schiffsanleger und setzte zum Sprung an.

 

„Papa, wann kommst du mich wieder mal besuchen“, vermeine ich in diesem Augenblick eine Kinderstimme zu vernehmen.

Mitten im Flug wird mir bewusst, was ich alles bereit war und bin zu zerstören und zu verlieren. So kann es nicht weiter gehen. Mit viel Schwung und Platschen lande ich im Fluss. Wasser schwappt über  meinem Kopf zusammen. Prustend tauche ich auf und versuche am Ponton Halt zu finden.

„Gut gemacht, Laurenz“, lobe ich mich selbst und rackere mich ab, um wieder aufs Trockene zu gelangen.

Mit hängendem Haupt trotte ich zurück in die Lebendigkeit der Stadt, schnurstracks auf Friedas Wohnung zu. Wenn sie mich so sieht, wird sie mir das späte Erscheinen verzeihen, da bin ich mir ganz sicher und klingle.

 

„Komm herein, Junge.“ Mit diesen Worten öffnet sich Friedas Tür und sie schiebt mich direkt weiter ins Bad. Sie drückt mir flauschiges Frottee in die Hände und überlässt mich vorerst meiner Seelenqual. Heißes Wasser prasselt auf meinen Kopf und dämpft die wimmernden Laute, die meiner Kehle entweichen. Nach einer halben Ewigkeit klopft es so leise an der Tür, dass ich es kaum wahrnehme.

„Ich hab uns Kräutertee gemacht, Laurenz. Und Toast, so wie du ihn gerne magst“, lockt mich Frieda aus meiner Isolation.

Im Bademantel eingehüllt nehme ich am Küchentisch Platz. Wie schon so oft seit meiner Kindheit, wenn mich Sorgen plagen und ich Rat brauche, ist Frieda mein rettender Engel. Schweigend sitzen wir nebeneinander und essen wieder einmal Toast, nur mit Käse ohne Schinken, wie ich ihn mag. Bei der dampfenden Tasse Tee werden wir gesprächiger. Weit nach Mitternacht schickt mich Frieda auf die Couch.

„Ich muss früh raus. Du kannst ruhig ausschlafen. Ich entschuldige dich ein letztes Mal bei der Arbeit. Ein allerletztes Mal!“, gähnt sie und verschwindet im Schlafzimmer.

 

Mit dem Gefühl, nicht einschlafen zu können, wälze ich mich auf dem Sofa hin und her. So vieles aus dem Gespräch mit Frieda geht mir durch den Kopf. Eine richtige Kopfwäsche hat sie mir verabreicht, mir ins Gewissen geredet und mich getröstet. Hoffnung in Aussicht gestellt. Erschöpft  falle ich schließlich in einen getriebenen Schlaf.

 

„Ruf an, ruf an. Du willst es doch. Komm schon und ruf an. Du hast mich gesehen, du kannst mich haben. Ruf an. Du willst es doch auch!“, singen die Sirenen immer lauter, immer schriller. Telefonnummern rasen in Neonfarben über den Bildschirm eines riesigen Fernsehgerätes. Werden größer und kleiner und größer! Wechseln die Farbe! Springen mir entgegen! Zwängen sich in das Telefon in meiner Hand! Voller Hektik versuche ich auf das Anrufsymbol zu drücken und erwische es nicht.

„Papa, komm. Leg das Handy weg. Komm, lass uns endlich spielen“, ruft ein kleiner Junge und läuft mir entgegen. Mit offenen Armen warte ich auf ihn, doch er erreicht mich nicht. Ich rufe nach ihm. Er lacht und winkt mir zu. Die Zahlen purzeln wie Seifenblasen aus dem Gerät und lösen sich in Rauch auf. Ruckartig erwache ich aus diesem Albtraum.

 

Am Donnerstagabend drücke ich mich auf der Straße vor diesem Haus herum und beobachte ein paar Frauen und Männer, die hinein gehen. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und folge ihnen langsam in einen Saal. Sie sitzen in einem Kreis auf Sesseln und schauen mir aufmunternd entgegen.

Flüsternd bekenne ich: „Ich heiße Laurenz und bin Shopaholic.“

 

Version 3