Von Carola Hofmann

„Guten Tag, Frau Schwarz. Können wir uns morgen, 9 Uhr am Alexanderplatz in Berlin treffen?“ fragte eine tiefe männliche Stimme. Doch plötzlich war die Verbindung unterbrochen.

Wer zum Teufel war das und was zur Hölle wollte er von ihr? Fragen, die Nicole gleich nach dem Auflegen in den Sinn kamen. Auch wollte sie wissen, wie sie die Person erkennen sollte. Doch zurückrufen konnte sie den Anrufer nicht, die Nummer wurde nicht angezeigt.

Sie erinnerte sich, dass sie vor einigen Jahren versucht hatte herauszufinden, wo ihre Schwester war. Diese hatte sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Mittlerweile ging sie selbst auf Mitte dreißig zu. Marianne war mit 20 von zu Hause ausgezogen, um eine Ausbildung in Hamburg anzufangen. Der Kontakt hielt nicht lange, nur sporadisch ein Anruf, eine Karte zu Weihnachten und zum Geburtstag, mehr nicht. Kurz nach deren 23. Geburtstag brach der Kontakt gänzlich ab, seitdem hatte sie nichts mehr von ihrer Schwester gehört. Vor einigen Jahren hatte sie versucht, den Kontakt wiederherzustellen. Ihre Mutter lag im Sterben und Marianne sollte sich wenigstens von ihr verabschieden können. Doch sämtliche Versuche waren fehlgeschlagen. Die Mutter war schließlich gestorben, ohne sich von ihrer jüngsten Tochter verabschieden zu können. In letzter Zeit hatte Nicole aber wieder öfter an Marianne gedacht und sich gefragt, wie es ihr ergangen war.

Nur was hatte das mit dem Anrufer zu tun? Konnte es überhaupt etwas mit Marianne zu tun haben? Damals und auch heute hatte sie niemandem von ihrer Suche erzählt. Ohnehin gab es kaum Menschen, denen sie davon hätte erzählen können. Ihr Vater war seit langem tot und weitere Geschwister oder andere Verwandte hatte sie nicht. Auch keinen Lebensgefährten oder Kinder. Was also sollte der Anruf? Eigentlich könnte sie diesen doch einfach ignorieren. Aber ihre Neugier war zu groß und so beschloss sie, am nächsten Tag zum Alexanderplatz zu fahren. Sie lebte in Potsdam und es war kein weiter Weg bis zum Alex. Etwas Wichtigeres hatte sie auch nicht vor und es war Zeit für einen kleinen Ausflug.

Um 7 Uhr und eine Minute nahm sie die S-Bahn vom Potsdamer Hauptbahnhof, die sie bis zum Alexanderplatz bringen würde. Dann wäre sie zwar eine Stunde zu zeitig da, aber wenn sie schon einmal einen Ausflug machte, könnte sie auch in aller Ruhe noch beim Bäcker frühstücken. Die spätere Bahn wäre erst kurz vor 9 Uhr am Ziel gewesen und dies erschien ihr zu knapp.

Sie saß gerade beim Bäcker und genoss den Café au lait und das Nougatcroissant, als jemand an ihren Platz herantrat.

„Guten Tag, Frau Schwarz. Bitte verzeihen Sie die Störung, aber ich kam gerade an der Bäckerei vorbei und habe Sie sitzen sehen. Mein Name ist Nicolas Esposito. Wie haben miteinander telefoniert. Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

Nicole schaute auf. Neben ihr stand ein hoch gewachsener Mann, mit Hut und Anzug und schaute sie freundlich an. Spontan bejahte sie. Er entfernte sich kurz um ebenfalls Kaffee und ein Brötchen zu bestellen und nahm dann ihr gegenüber Platz.

„Ich bin Privatdetektiv. Nicolas Esposito. Bitte verzeihen Sie, dass ich mich am Telefon nicht vorgestellt habe, aber als ich Sie das erste Mal kontaktierte um den Termin zu vereinbaren, war ich in einem anderen Fall im Einsatz. Just in dem Moment tat sich dort etwas Entscheidendes, sodass mir keine Zeit für weitere Erklärungen blieb. Leider auch keine Zeit, mich noch einmal bei Ihnen zu melden. Jede weitere Nachricht hätte den anderen Fall zum Scheitern gebracht. Daher bin ich sehr froh, dass Sie dennoch den Weg auf sich genommen haben.“

„Guten Tag, Nicole Schwarz, aber das wissen Sie ja schon. Worum geht es nun?“

„Es geht um Ihre Familie. Ihre Schwester bat mich kurz vor ihrem Tod, Ihnen alles zu sagen, was ich wusste. Sie wollte, dass Sie die Wahrheit kennen.“

„Oh mein Gott, was ist passiert?“ Nicole war völlig entsetzt. Damit hatte sie nicht gerechnet.

„Ein Vorfahrtsfehler, aber nicht der von Marianne. Sie war zur falschen Zeit am falschen Ort.“ Er stockte und hielt inne. Offenbar machte ihm die Erinnerung daran immer noch zu schaffen.

„Wann ist das passiert?“

„Vor einem halben Jahr. Sie… sie war meine Frau. Wir haben uns vor 5 Jahren kennengelernt als sie von ihrer Firma, in der sie arbeitete, beauftragt wurde, einen Detektiv zu engagieren. Dazu darf ich natürlich nichts weiter sagen. Ich habe Marianne sehr geliebt. Nach dem Unfall war sie nicht mehr dieselbe. Man dachte, es würde wieder aufwärts gehen, sie würde sich erholen und wenigstens wieder sprechen können. Doch das geschah nicht. Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich zunehmend. Schließlich starb sie.“

„Oh mein Gott. Warum hat sie nichts gesagt? Aber was meinen Sie mit Wahrheit?“

„Als Marianne von ihrer Firma beauftragt wurde, einen Detektiv zu suchen und mich fand, bat sie mich auch um eine Unterredung in einer privaten Angelegenheit. Sie hatte einen Verdacht und wollte, dass ich dem nachgehe. Es hat gedauert, bis ich alles zusammengesucht hatte und das Rätsel lösen konnte. Schließlich ergab alles einen Sinn. Die Arbeit an dem Fall hat uns auch zusammengebracht. Ich war fasziniert von dieser starken Frau, die trotz allem, was ich ihr nach und nach präsentiert habe, fest auf dem Boden stand und alles hinnahm, ohne mit der Wimper zu zucken. Vielleicht, weil sie es immer schon gewusst hat und nur den einen Beweis brauchte.“

„Was denn für einen Beweis und was habe ich damit zu tun?“

„Marianne hatte schon immer das Gefühl, nicht richtig dazuzugehören. Nicht zu ihnen und ihrer Mutter. Auch passte ihr Name nicht in die Zeit, in der sie lebte. Er klang viel zu altmodisch, älter als Nicole, obwohl sie die Jüngere war. Auf Fragen, die sie ihrer Mutter stellte bekam sie keine Antwort, nur Ausflüchte und Ausreden, dass alles in Ordnung war und der Name von der Mutter ihrer Mutter stammte, an die sie erinnern wollte. Aber Marianne hatte den Eindruck, dass es nicht die Wahrheit war. Dann zog sie nach Hamburg, absolvierte die Ausbildung in der Firma und traf schließlich mich.“

„Mariannes Name? Sie hat mir nie etwas erzählt!“

„Nein, sie wollte erst alle Einzelheiten kennen und sich dann bei Ihnen melden. Eine Woche vor dem Unfall hatte ich alle Unterlagen und Informationen gesammelt und ihr alles erzählt. Sie meinte, sie müsse das erst alles selbst verarbeiten, bevor sie sich Ihnen anvertrauen wollte. Doch dazu kam es ja leider nicht mehr.“

„Was haben Sie rausgefunden? Was hat Marianne so aufgewühlt?“

„Ihre Mutter war nicht ihre Mutter. Auch nicht die von Marianne. Sie sind beide adoptiert worden.“

Nicole verschluckte sich an ihrem Kaffee und begann heftig zu husten. Tränen schossen ihr in die Augen und sie schnappte nach Luft.

„Wie bitte? Das kann doch nicht wahr sein!“ brachte sie mühsam hervor. Sie holte tief Luft, räusperte sich mehrmals heftig um einen erneuten Hustenanfall zu unterdrücken und tupfte sich die Tränen ab. Dann schaute sie zu ihm auf, um mehr zu erfahren, in der Hoffnung, dass alles doch noch zu einem Missverständnis erklären zu können.

„Es ist leider wahr. Ihre Mutter arbeitete damals im Krankenhaus als Nachtschwester, wie Sie sicher wissen. Damals war es noch üblich, dass werdenden Mütter ihr Kind direkt nach der Geburt zur Adoption frei geben konnten. Ihre Mutter hatte damals Dienst, als Sie geboren worden. Und da sie schon immer ein Kind haben wollte und es nicht ertrug, dass das Baby ohne Eltern die ersten Monate aufwachsen sollte, bewarb sie sich um die Adoption. Auch Ihre Schwester hat sie auf diese Weise aufgenommen. Marianne konfrontierte ihre Mutter schließlich mit ihrem Verdacht, die ihn unter Tränen bestätigte, allerdings weiter nichts erzählen wollte. Das war kurz nach ihrem 23. Geburtstag. Marianne konnte es nicht glauben und war erschüttert und bat mich, weitere Nachforschungen anzustellen. Als Privatdetektiv war ich natürlich in einer guten Position um die ganze Geschichte in Erfahrung zu bringen. Es dauerte jedoch einige Zeit, bis ich alle Aspekte zusammen hatte. Ich erzählte Marianne davon, die das alles natürlich erst selbst verarbeiten musste. Und dann kam dieser schreckliche Unfall. Ich bin mir sicher, dass sie gewollt hätte, dass Sie alles erfahren. Leider konnte sie es Ihnen nicht mehr selbst erzählen. Bitte verzeihen Sie, dass ich mich jetzt erst melde, aber es gab vorher noch einiges zu erledigen, die Beerdigung, das ganze drum herum.“

Nicole hatte dem schweigend zugehört. Sie war zu geschockt um etwas sagen zu können. Ihr Mutter war nicht ihre Mutter, und ihre Schwester dann wohl auch nicht ihre Schwester, aber zu wem gehörte sie dann? Wer war ihre Familie? Woher kam sie?

„Aber dann ist Marianne ja auch nicht meine Schwester! Das kann unmöglich sein.“

„Nein, und das tut mir sehr leid. Da ich sowieso gerade dabei war, die Geschichte aufzuklären und Marianne auch wissen wollte, wo sie herkam, habe ich weitere Erkundigungen eingeholt und in dem Krankenhaus, in dem Beate damals arbeitete, angefragt. Tatsächlich wurde man in alten Aufzeichnungen fündig. Selbst damals wurde jeder Neuzugang akribisch dokumentiert und so gab es einen Eintrag am 28. Februar über eine Schwangere die kurz vor der Geburt stand. Dazu stand noch der Vermerk ‚Mädchen, geboren 29.02, zur Adoption freigegeben‘. Ich dachte mir, dass das nur Sie sein konnten, eine andere Geburt für diesen Tag gab es nicht. An dem Geburtstag Ihrer Schwester war das Vorgehen ähnlich, nur dass die Aufnahme der Schwangeren anonym erfolgte und ich somit gar nichts über die leibliche Mutter Ihrer Schwester in Erfahrung bringen konnte. Nun müssen Sie entscheiden, ob Sie ihre leibliche Mutter kennenlernen wollen, sofern sie noch lebt.“

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