Von Herbert Glaser

Inge konnte den ungewöhnlichen Ton im ersten Moment nicht einordnen. Erst als sie das leuchtende Display ihres Handys sah, wurde ihr bewusst, dass jemand eine SMS geschickt hatte.

Sie setzte ihre Brille auf. Der Absender war ihr unbekannt. Dann las sie die unerwartete Nachricht.

Ich liebe Dich!

Inge musste schmunzeln. Wer sollte ihr eine solche Liebesbekundung zukommen lassen? Die einzigen Menschen, die ihre Nummer kannten, waren ihre Freundinnen. Die riefen von Zeit zu Zeit bei ihr an, schickten aber keine Textnachrichten.

Da hatte sich bestimmt jemand vertippt.

Egal, dachte Inge, eine schöne Nachricht ist es auf jeden Fall.

Umständlich gab sie eine Antwort ein und schickte sie ab.

Danke, einen so reizenden Satz habe ich schon lange nicht mehr gelesen.

Kurz darauf meldete sich das Handy erneut.

Entschuldigen Sie bitte das Versehen, las sie.

Aber das macht doch nichts, schrieb sie zurück, es gibt schlimmere Versehen.

Genau genommen war es sogar ein doppeltes Missgeschick, kam prompt als Antwort zurück.

Inge rückte ihre Brille zurecht und legte die Stirn in Falten. Immer wieder näherte sich ihr Zeigefinger der Tastatur ihres Handys, ohne jedoch etwas einzutippen.

Das verstehe ich nicht, schrieb sie schließlich.

Ich habe den falschen Text und die falsche Telefonnummer eingegeben, las sie kurz danach auf ihrem Display.

Inge schüttelte den Kopf. Kurz entschlossen rief sie die unbekannte Nummer an. Eine Männerstimme meldete sich.

„Oh, ich habe eigentlich mit einer Frau gerechnet“, sagte sie.

„Tatsächlich? Und ich habe nicht erwartet, dass mich jemand zurückruft.“

„Ich bin sozusagen das andere Ende Ihrer Leitung.“

Der Mann lachte. „Erstaunlich, was so eine falsche Eingabe alles bewirkt. Eigentlich wollte ich einem Kollegen eine Terminabsage zukommen lassen, dabei schickte ich Ihnen eine Liebeserklärung.“

Seine Stimme klang tief. Inge lauschte ihr nach, dann schmunzelte sie erneut.

„Na ja, zwischen einem Liebesgeständnis und einer Terminabsage ist ja auch kein großer Unterschied.“

Wieder lachte ihr Gesprächspartner.

„Verflixte Technik! Ich habe noch eins dieser altmodischen Dinger, keines von den neuen Smartphones. In meinem Handy sind häufig benutzte Sätze gespeichert, so wie etwa Bitte um Rückruf, Ich komme später, Bitte um Terminverschiebung, aber eben auch Ich liebe Dich. Nicht gerade sehr originell, das muss ich zugeben. Ich habe mich um eine Zeile vertippt und dann auch noch einen Fehler bei der Nummer gemacht. Nicht sehr männlich, nicht wahr.“

„Ich bitte Sie“, widersprach Inge, „das hat doch nichts mit männlich oder nicht männlich zu tun. Auf jeden Fall war es schön zu lesen.“

Für einen kurzen Moment war es still im Hörer.

„Ich muss zugeben, dass mich das seltsam berührt, wenn Sie so etwas sagen. Natürlich stimmt es … es ist ein sehr schöner Satz … der schönste vielleicht … wenn er denn stimmt.“

„Wenn Sie ihn schon so häufig benutzt haben … war er denn nie ernst gemeint?“, hakte Inge nach.

„Eigentlich schon … zumindest am Anfang … aber später …“

„Das hört sich aber nicht besonders gut an!“

„Ich bin frisch geschieden. Sie hat die Kinder mitgenommen und ich sitze jetzt hier alleine.“

„Oh, das tut mir leid.“ Inge machte eine entschuldigende Geste, ohne sich bewusst zu sein, dass ihr Gesprächspartner dies nicht sehen konnte. „Ich wollte nicht indiskret sein.“

„Sie sind der erste Mensch, dem ich das so offen erzähle.“

„Dabei kennen wir uns doch gar nicht.“

„Wahrscheinlich ist genau das der Grund. Manchmal kann man am besten mit jemandem reden, der einem nicht nahe steht … der nicht betroffen ist.“

„Vielleicht haben Sie recht.“ Inge überlegte. „Wollten Sie denn die Scheidung?“

„Am Ende war es für uns Beide das Beste, es ging nicht mehr. Natürlich fühle ich mich schlecht. Ich bin es nicht gewohnt, alleine zu sein … war es nie. Und ohne die Kinder ist es noch schlimmer.“ Die Leichtigkeit in seiner Stimme war einem traurigen Unterton gewichen. „Aber was erzähle ich Ihnen da bloß, ich wollte Sie nicht mit meinen Problemen belasten.“

„Sie belasten mich nicht“, gab Inge schnell zurück. Mit dem Handy am Ohr ging sie zum Fenster und schaute hinaus.

„Sie klingen so … vertrauenerweckend“, setzte er das Gespräch mit wieder gefestigter Stimme fort. „Darf ich Sie fragen, von wo Sie anrufen?“

„Ich lebe in München“, erwiderte sie und hielt den Atem an.

„So ein Zufall“, gab er lachend zurück, „ich auch.“

„Nicht zu fassen! Da wäre ein Gespräch über das Festnetz wahrscheinlich wesentlich billiger.“

„Dann hätten wir uns aber nicht kennengelernt.“

„Stimmt! Ich bekomme nicht sehr viele Anrufe, wissen Sie. Meine Freundinnen haben mir dieses Handy geschenkt, aber deswegen rufen auch nicht mehr Leute an als davor.“

„Haben Sie gerade etwas zu tun“, fragte er.

„Nichts Besonderes.“

„Es ist erst zwei Uhr, der Tag ist noch lang. Kennen Sie den Gasteig? Da gibt es ein nettes Cafe. Ist das weit weg von Ihnen?“

Inges Herz schlug deutlich schneller. „Natürlich kenne ich den … und nein, es ist nicht weit von hier.“

„Wollen wir uns um drei Uhr dort treffen? Man kann gut draußen sitzen. Sie erkennen mich an dem weißen Hut, den ich dabeihaben werde.“

„Das ist eine wunderbare Idee!“

 

 Inge hatte ihr feinstes Sommerkleid angezogen, dazu kecke rote Schuhe, einen leichten Sommerhut und eine Handtasche.

Als sie sich dem Cafe näherte, erkannte sie ihn sofort. Sein Hut lag neben ihm auf einem freien Stuhl. Er hatte dunkelbraune, volle Haare und ein sportliches Aussehen.

Ohne sich etwas anmerken zu lassen, ging sie an ihm vorbei und nahm einige Tische weiter Platz, mit dem Rücken zu ihm.

Ich hätte ihm sagen sollen, überlegte sie, dass ich in einigen Wochen meinen achtzigsten Geburtstag feiere. Ihre Stimme klang unverhältnismäßig jung, das hatte man ihr schon oft bestätigt. Er wird furchtbar enttäuscht sein, wenn er mich sieht.

Inge holte das Handy aus ihrer Tasche und begann zu tippen.

Hallo Fremder, vielen Dank für das bezaubernde Gespräch. Leider kann ich Sie nicht persönlich treffen, aber ich wünsche Ihnen alles Gute.

Lieben Gruß 

Inge.

Dann schaltete sie das Handy aus.

Schulterzuckend winkte sie einer Bedienung, mit der sie kurz plauderte, und bestellte sich einen Kaffee.

Sie hatte gerade den ersten Schluck getrunken, als neben ihr der Unbekannte mit dem Hut in der Hand eine Verbeugung andeutete.

„Hallo Inge, erlauben Sie?“ Der Mann zeigte auf den Stuhl ihr gegenüber.

„Woher …?

„Ihre unverwechselbare Stimme.“

„Natürlich, sehr gerne, nehmen Sie Platz.“

„Nennen Sie mich doch bitte Frank. Schön, dass wir uns persönlich kennenlernen.“

 

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