Von Michael Kothe

»Berger. Guten Abend.«

»Reden Sie nicht, hören Sie einfach zu! Wir haben Ihre Tochter. Kein Wort zu irgendjemandem! Es geht Ihrer Tochter gut. Noch. Wir melden uns wieder.«

Berger hatte gerade aufgelegt, als das Telefon nochmals läutete.

»War ich deutlich genug? Keine Polizei! Wir beobachten Ihr Haus, und wir haben Ihr Telefon angezapft.«

Unwillkürlich trat Berger ans Fenster. Immer musste er sich gerade so verhalten, wie es der Situation am wenigsten angemessen schien. Er selbst schob das auf seinen Zynismus, der ihn regelmäßig auf Konfrontationskurs führte. Sachte schob er die Gardine so weit zur Seite, dass er einen Blick nach draußen erhaschte und dennoch hoffen durfte, man habe die Bewegung von der Straße aus nicht gesehen. Dann schlug er sich mit der flachen Hand an die Stirn, schüttelte den Kopf und schalt sich einen Esel. Nach einem kurzen Durchatmen griff er einen Stift und kritzelte etwas auf den Rand seiner Fernsehzeitung. Hoffentlich konnte er das später noch entziffern! Dann tat er genau das, was die Entführer ihm verboten hatten: Er rief die Polizei an.

»Kriminalpolizei in Ebersberg, Kriminalhauptkommissar Unwohl. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Herr Unwohl, Berger hier, ich hoffe, Sie sind der Sache gewachsen. Ich melde Ihnen eine Entführung. Die Entführer haben mir bisher nur mitgeteilt, sie hätten meine Tochter in ihrer Gewalt. Sie melden sich wieder, sagten sie. Das Übliche …«

 

Ungesehen huschte die kleine Ermittlertruppe in Zivil durch den Garten über die Terrasse und war nach Sekunden in Bergers Diele versammelt. Im Wohnzimmer wollten sie nicht bleiben, da das von dem schmalen Weg zwischen den Reihenhäusern her eingesehen werden konnte. Als Berger nach einem schnellen Rundumblick und nach dem Schließen des Gartentörchens das Wohnzimmer durchquerte, hatten die Polizisten im Esszimmer schon mit dem Aufbau ihrer Geräte begonnen.

»Sagen Sie mal, Herr Berger, die Vermisstenanzeige ist schon vier Tage alt, und da melden sich die Entführer erst jetzt?«

Der Angesprochene zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, Herr Unwohl. Da kann ich auch nur spekulieren. Schließlich sind Sie der ermittelnde Beamte.«

»Na, egal. Jedenfalls war es gut, dass Sie uns gleich gerufen haben.« Unwohl bemühte sich um einen versöhnlichen Ton. »Zwischen den beiden Anrufen waren gerade einmal Sekunden vergangen? Dann haben die Verbrecher Ihre Nummer sicherlich eingespeichert. Sie haben eine Telefonnummer, sagten Sie?«

»Klar, ich habe nicht umsonst ein gutes Zahlengedächtnis. Nur den Bruchteil einer Sekunde stand die Nummer auf meinem Display, bevor die Rufnummernunterdrückung aktiv wurde. Warten Sie, ich hab sie aufgeschrieben.« Berger kratzte sich am Kinn. Sein Gedächtnis hatte wohl ausgereicht, sich die Nummer des Anrufers zu merken, bis er sie aufs Papier geworfen hatte, aber wo hatte er nun seine Notiz? Nach einigem Kramen auf dem Couchtisch im Wohnzimmer kehrte er ins Esszimmer zurück und überreichte mit einem befriedigten Lächeln den abgerissenen Zeitungsrand.

»Horst«, rief Unwohl seinem technischen Kollegen zu, »das ist dein Revier.« Er reckte sich mit dem Zettel über den Esstisch.

Mit der Notiz verschanzte sich dieser Horst wieder hinter seinen beiden Computern. Laptops, die mit reichlich Peripherie verkabelt waren, deren Zweck Berger nicht ansatzweise verstand. Gefragt hatte er allerdings auch nicht. Ihm genügte es, dass die Ermittler ohne Aufsehen sein Haus erreicht und sich darin eingerichtet hatten. Mit mehreren Flaschen Mineralwasser und mit reichlich Kaffee warteten nun alle auf den nächsten Anruf.

 

»Berger.«

»Hören Sie zu! Wir wollen eine halbe Million. Wir wissen, dass Sie so viel flüssig machen können, schließlich beobachten wir Sie nicht erst seit gestern. Das Geld übergeben Sie uns morgen. Wann genau und wo, erfahren Sie noch. Und noch mal: keine Polizei!«

Damit war der Anruf beendet.

Horst schaute hinter seinem Display hervor. »Warum haben Sie nicht nach einem Lebenszeichen gefragt? Ich hätte etwas mehr Zeit gut gebrauchen können. 20 Sekunden waren schon arg knapp.«

Berger zuckte die Schultern. Seine Antwort klang besserwisserisch. »Das hätte die Minute auch nicht vollgemacht, die Sie bräuchten. Die Kerle sind gewitzt. Die hätten aufgelegt und sich wieder gemeldet. Wieder nur für einen Moment.«

Horst brummte etwas, das wie »Vermutlich hat er recht.« klang. Schon war er wieder hinter sein Display abgetaucht. Lange blieb er nicht unsichtbar.

»Heureka!«, tönte es, und Horst strahlte Unwohl und Berger an. »Die Kerle kommen sich richtig schlau vor. Haben sich ein gebrauchtes Smartphone gekauft und eine Prepaid-SIM-Karte eingelegt. Natürlich nicht registriert. Wohl in irgend ´nem Handyladen auf dem Elektronikstrich hinterm Hauptbahnhof gekauft. Keine schlechte Idee, aber an eins haben sie nicht gedacht …«

Die Gruppe entspannte sich. Der Anruf bezüglich Uhrzeit und Ort der Geldübergabe war vor morgen nicht zu erwarten.

Er kam am nächsten Vormittag um Punkt neun Uhr. Viel sagen konnte der Erpresser nicht.

»Jetzt hören Sie mir mal zu!« Bergers Stimme klang fest und fordernd. »Bevor ich von Ihnen auch nur ein Wort darüber hören will, wo ich das Geld hinzubringen habe, verlange ich ein Lebenszeichen.«

»Haben Sie sie noch alle? Die Forderungen stellen immer noch wir. Und wenn …«

»Ein Lebenszeichen! Ich werde nirgendwohin fahren und auf einen Austausch warten, wenn ich nicht sicher sein kann, dass meine Tochter noch lebt und am Treffpunkt sein wird.«

»Ist ja gut. Kann ich sogar verstehen. Dauert etwas. In ein paar Minuten melde ich mich wieder.«

»Aufgelegt.« Berger schaute zu den Polizisten.

Horst strahlte ihn über seinen Laptop hinweg an und reckte einen Daumen nach oben. »Jetzt brauchen wir höchstens noch zehn Minuten.«

Währenddessen hatte Unwohl ein Telefonat begonnen. Mit dem Smartphone in der Hand baute er sich hinter Horst auf und konzentrierte sich auf den Bildschirm. Das Gespräch führte er mit gedämpfter Stimme. »Gut gemacht«, lobte er Horst danach, »jetzt schalt bitte um auf unseren Livestream. Herr Berger möchte schließlich auch etwas von dem Schauspiel haben.«

Zwei Minuten brauchte Horst, dann winkte er mit dem Zeigefinger Berger zu sich.

Berger trat hinter ihn und starrte auf den Monitor. Eine Gruppe Vermummter mit Sturmhauben und Schnellfeuerwaffen huschte auf die Vorderseite eines Hauses zu. Am Bildschirmrand war für wenige Augenblicke eine zweite Gruppe auszumachen, die augenscheinlich das Haus umrundete. Die Schwarzweißszene rief in Berger die Erinnerung an die Straßenfeger von Francis Durbridge und an Hitchcockfilme wach, wenngleich diese Szene von einer Helmkamera aufgenommen wurde. Seine Gedanken wurden schrill unterbrochen. Das Telefon läutete.

»Berger hier. Ich will …«

»Papa! Es geht mir gut. Mmhm.« Offensichtlich hielt ihr jemand den Mund zu. Sogleich meldete sich der Entführer. »Reicht Ihnen das als Lebenszeichen? Können wir uns jetzt vernünftig über die Übergabe unterhalten? Ach, vorher noch eins: Wieso melden Sie sich eigentlich andauernd mit Berger

»Weil Sie sich warum auch immer mit dem Namen geirrt und die falsche Nummer gespeichert haben. Und weil ich Berger heiße. Kriminaloberrat Johannes Berger. Ich sitze mit meinen Kollegen seit gestern in meinem Esszimmer, während Sie sorgfältig das Haus der Familie Bergel beobachten. So hatten wir freie Hand. Moment mal!« Er drehte sich zu Horst um, der triumphierend zu ihm herübernickte. Bergers Mundwinkel zogen sich in die Breite, als er das Telefon wieder an den Mund hielt. »Ihre Idee mit dem gebrauchten Telefon und der Prepaid-Karte war schon recht gut, aber sie hätten sich beim Kauf erklären lassen sollen, wie man die GPS-Funktion deaktiviert.« Erleichtert darüber, dass er dem überraschten Verbrecher gegenüber einen zynisch klingenden Tonfall bisher vermieden hatte, schmunzelte er selbstgefällig über seine Ironie. »Und nun gehen Sie bitte zur Haustür. Wenn Sie selbst öffnen, erleichtern Sie unserem Einsatzteam den Zugriff.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Übrigens habe ich gar keine Tochter.«

 

V2