Von Nicole Leidolph

Das Telefonklingeln zerreißt die morgendliche Stille. Ich zucke zusammen und verschütte dabei die Hälfte meines Kaffees. Er tropft auf den Esstisch und fließt zu einer dunkelbraunen Pfütze zusammen, die langsam in das weiche Holz eindringt. Dieser Tisch war ein Fehlkauf, aber Simon wollte ihn unbedingt. Es klingelt erneut. Ich stelle die Kaffeetasse ab, werfe im Vorbeigehen das Spültuch auf die Kaffeepfütze und gehe zum Telefon. Mein Blick fällt auf die Uhr. Wer ruft um zehn nach neun an? Das muss Simon sein, der etwas vergessen hat. Er hatte es heute so eilig.

Mit dem nächsten Klingeln hebe ich ab. „Kades?“

Schweigen.

„Hallo?“

Am anderen Ende der Leitung ist es totenstill, als würde der Anrufer den Atem anhalten. Als würde jemand nur meine Stimme hören wollen.

Ich bekomme ein komisches Gefühl. „Wer ist dort?“

Die Stille sickert zu mir durch, umschließt alles, erstickt mich fast. Ich lege auf, so heftig, dass die Taste einen Moment lang stecken bleibt. In einer Art Kurzschlussreaktion schalte ich den Anrufbeantworter ein. Ich wollte den Festnetzanschluss unbedingt haben, jetzt würde ich am liebsten den Stecker aus der Wand ziehen. Ich atme durch. Die letzte Nacht war wieder von Schlaflosigkeit geprägt, meine Nerven sind wahrscheinlich überspannt. Ich drehe fast durch, weil sich jemand verwählt hat. Vielleicht war es eine Umfrage und ich hing in einer Warteschleife. Ganz sicher ist es kein Grund zur Panik. Jetzt kommt mir meine Reaktion völlig übertrieben vor. Ich schüttle den Kopf über mich selbst, dann gehe ich in die Küche. Ich muss schließlich die Kaffeepfütze aufwischen.

 

„Was machst du heute?“, fragt Simon am nächsten Morgen und greift nach seinem Aktenkoffer. Den Mantel hat er bereits angezogen.

Ich zucke mit den Schultern und wickle mich fester in meinen Bademantel. „Den Haushalt und ein paar Erledigungen. Nichts Großes.“

Er lächelt und drückt mir einen Kuss auf die Wange. „Nimm dir nicht so viel vor, du wirkst müde.“

„Ich habe schlecht geschlafen.“

Er runzelt die Stirn. „Schon wieder? Vielleicht solltest du doch nochmal zum Arzt wegen der Tabletten.“

„Ich kann doch nicht mein Leben lang Schlafmittel nehmen. Mach dir keine Gedanken, ich trinke einen Kaffee und mittags lege ich mich hin.“

„Alles klar.“ Er küsst mich erneut, kurz und flüchtig. An der Tür bleibt er noch mal stehen. „Ach so, ich konnte dich gestern nicht erreichen, der Anrufbeantworter ging immer ran. Stimmt was nicht mit dem Telefon?“

„Oh, ich habe ihn wohl versehentlich eingeschaltet.“ Einen Moment lang überlege ich, ob ich ihm von dem Anruf erzählen soll, aber dann lasse ich es bleiben. Was sollte ich auch sagen?

„Vergiss nicht, ihn wieder auszuschalten. Oder benutze doch mal endlich dein Handy.“

„Ja, ja.“ Ich lache und scheuche ihn vor mir her zur Tür, als wäre er ein Huhn. „Los, du kommst zu spät.“

Als er aus der Einfahrt fährt, winke ich, dann gehe ich zurück in die Küche. Er hat den Kaffee schon vorbereitet. Ich lächle in mich hinein. Es sind immer diese Kleinigkeiten, die er macht. Ich drücke auf den Knopf und sehe zu, wie sich meine große Kaffeetasse füllt. Simon hat sie mir extra geschenkt, damit ich morgens schneller wach werde. Bei drei Stunden Schlaf ist das nicht so einfach.

Das Telefon klingelt. Ich zucke zusammen, als hätte man mich geschlagen. Hat Simon den Anrufbeantworter doch schon ausgeschaltet? Das Telefon klingelt erneut. Ich sehe auf die Uhr. Zehn nach neun. Das muss wirklich eine Umfrage sein, wahrscheinlich eine automatisierte. Weil sie mich gestern nicht sprechen konnten, probieren sie es jetzt erneut. Ich werde ihnen sagen, was ich davon halte. Entschlossen marschiere ich ins Wohnzimmer und packe den Hörer.

„Kades, hallo?“

Stille.

Ich atme durch und unterdrücke das plötzliche Ziehen im Magen. „Ich möchte nicht, dass sie nochmal anrufen. Ich bin nicht interessiert an irgendwelchen Umfragen und ich glaube auch nicht, dass sie das einfach ohne Einwilligung dürfen!“

Die Stille kümmert sich nicht um meine Worte.

„Hallo, haben Sie das verstanden?“ Ich warte zwei, drei Sekunden. Als niemand antwortet, lege ich auf. Meine Hand hinterlässt einen schweißnassen Abdruck am Telefon. Erst jetzt stelle ich fest, dass meine Knie leicht zittern. Einen Moment hinsetzen, das ist sicher der Kreislauf. Ich habe ja noch nichts im Magen.

Nach einem kleinen Frühstück kann ich wieder ruhiger denken. Was ist nur mit mir los? Warum wühlen mich diese Anrufe so auf? Ich kann mir selbst keine zufriedenstellende Antwort geben.

 

Am Abend beschließe ich, Simon davon zu erzählen.

„Das sind sicher nur irgendwelche Umfragen.“ Er beißt in sein Brot, während ich nur am Rand knabbere. „Wieso macht dich das so fertig?“

Ich zucke mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Es ist, als würde da etwas am anderen Ende lauern.“ Erst, als ich es ausspreche, werde ich mir darüber bewusst. Die Härchen an meinen Armen stellen sich auf. „Ja, als würde dort etwas warten.“

Er lächelt. „Etwas wartet? Was denn? Und worauf?“

„Keine Ahnung.“

Ein leises Seufzen, dann tritt dieser Ausdruck in seine Augen. „Eventuell ist es ja, weil…“

„Das hat nichts mit den Panikattacken zu tun“, unterbreche ich ihn. Da ist er wieder, der Knoten im Magen.

„Es könnte daran liegen, dass die Therapie beendet ist.“ Sein Tonfall wird besänftigend. „Es verunsichert dich. Wir könnten Doktor Rose nochmal anrufen.“

„Nein, ich will das nicht.“ Ich schüttle den Kopf und lege das Brot auf meinen Teller. Mir ist der Appetit vergangen. „Dort sind nur Verrückte und wenn ich dort hingehe, bin ich wieder eine von ihnen.“

„So ein Blödsinn.“ Langsam schleicht sich eine andere Nuance in seine Stimme. Ungeduld. Sein Verständnis für mich bröckelt. Wie der Putz in dieser Ecke der Garage, der herunterrieselt, wenn man daran stößt. „Du übernimmst dich. Du warst in letzter Zeit häufig im Supermarkt, das sind zu viele Menschen für dich.“

Ich muss etwas unternehmen, bevor sich mein Hals wieder zuschnürt und ich nicht mehr sprechen kann. „Bitte geh du morgen ans Telefon. Sag ihnen, dass sie hier nicht mehr anrufen sollen. Bitte.“

„Dann komme ich zu spät ins Büro.“

„Du bist der Chef.“

Er seufzt tief, tiefer als nötig. „Also gut.“

Ich bin ein bisschen beruhigter. Simon regelt das.

 

Die digitale Backofenuhr zeigt in roten Ziffern 09:09. Ich werde langsam kribbelig, mein Herz klopft immer fester in der Brust. Gleich, gleich klingelt es. Dann wird Simon sagen, dass sie nicht mehr anrufen sollen. Und danach ist es vorbei und ich habe wieder meine Ruhe.

„Wir können schon mal zum Telefon gehen“, sage ich und stehe auf.

Er folgt mir leicht mürrisch. Sein Aktenkoffer steht schon neben der Tür, den Mantel hat er ebenfalls angezogen, als könne es ihm gar nicht schnell genug gehen.

Ich setze mich aufs Sofa, er bleibt stehen. Neun Uhr zehn. Ich schaue auf den Telefonhörer. Warte. Neun Uhr elf.

„Es passiert jeden Augenblick.“

Simon atmet geräuschvoll durch.

Neun Uhr zwölf.

„Siehst du, alles in Ordnung.“ Er lächelt, doch es wirkt nicht echt. „Da ruft niemand an.“

Mein Herz pocht so stark, dass ich es bis in den Hals spüre. Ich nicke, versuche, mich zu beruhigen, aber das Gefühl vergeht nicht. Nein, nichts ist in Ordnung, will ich sagen, doch dann hält er mich für verrückt.

„Vielleicht hast du dir das auch nur eingebildet.“ Er tätschelt meinen Kopf, als wäre ich ein Kind. „Du schläfst ja kaum.“

Ich nicke stumm. Ich weiß genau, dass ich es mir nicht eingebildet habe.

Die Bestätigung kommt am nächsten Tag. Um acht Uhr verlässt Simon das Haus, um zehn nach neun schaue ich auf die Uhr. Das Telefonklingeln zerreißt die Ruhe. Ich bleibe reglos in der Küche sitzen. Der Anrufbeantworter sollte sich nach viermal klingeln einschalten. Es läutet einmal, zweimal, dreimal, viermal. Ich atme auf. Fünfmal. Sechsmal. Ich halte mir die Ohren zu, aber kann es immer noch hören. Nach mehr als einer halben Stunde schließlich Stille. Endlich. Wir werden ein neues Telefon kaufen oder den Festnetzanschluss kündigen.

 

Doch Simon weigert sich. Er sagt, ich solle lieber zum Arzt gehen, noch mal Doktor Rose anrufen, meine Therapie verlängern, Menschenmengen wieder meiden. Ich suche im Internet nach Hilfe, nach einer Möglichkeit, sich gegen lästige Anrufer zu wehren. Jetzt liegt der Hörer vor mir auf dem Küchentisch, daneben eine Trillerpfeife. Ich nehme beides in die Hände, als das Telefon wieder um zehn nach neun klingelt, hebe ab und puste mit aller Kraft in die Pfeife. Der schrille Ton schmerzt in meinen Ohren. Als ich keine Luft mehr habe, verstummt der Lärm. Ich atme durch und lausche. Es knackt, kaum wahrnehmbar.

Und dann: „Du bist nicht krank.“ Eine Stimme, wie aus weiter Ferne, heiser und irgendwie alt. Ich kann nicht sagen, ob es eine Frau oder ein Mann ist.

„Wer ist da?“, bringe ich mühsam heraus.

„Er vergiftet dich.“

Mir wird kalt. „Was?“

„Dein Kaffee. Jeden Morgen ein bisschen mehr. Schau in seinen Schreibtisch, die kleine Schublade. Der Schlüssel liegt bei den Stiften.“

„Wer ist dort?“ Meine Stimme ist nur noch ein Flüstern.

„Die Schublade, Lisa.“

Mir wird schlecht. Woher kennt der Anrufer meinen Namen? Woher weiß er vom Schreibtisch? Wer ist das? Ich schmeiße den Hörer von mir, springe auf, renne zur Toilette und übergebe mich. Erst nach Stunden stehe ich wieder auf. Und ich gehe in Simons Arbeitszimmer, obwohl ich es nicht will. Ich nehme den Schlüssel und öffne die Schublade, von der ich nicht wusste, dass sie verschlossen ist. Ich finde ein Testament, das ich nicht geschrieben habe, doch es trägt meine Unterschrift. Ich vererbe ihm alles, die Häuser, die Firma, das Vermögen meiner Eltern, alles. Und unter dem Testament weiße Pillen. Die Packung ist fast leer. Meine Knie sacken weg.

Als ich das Gefühl habe, wieder stehen zu können, nehme ich das Testament und die Pillen an mich und rufe meinen Bruder an. Eine halbe Stunde später sitze ich auf seinem Beifahrersitz, während das Haus im Rückspiegel kleiner wird.

„Keine Sorge, Lisa.“ Er nimmt meine Hand. „Alles wird gut.“

Version 2