Von Peter Burkhard

Dr. Nau rückt den Stuhl zurecht, lehnt sich zurück und schlägt die Beine übereinander.

„Gehen wir nochmals alles durch. Was genau geschah im Badezimmer?“

„Es war wie immer, ich sah in den Spiegel, riss meine müden Augen auf und begrüsste mich. Und ich lächelte, mein kleinmütiges, hilfloses Lächeln.“

„Was sagten Sie denn zum Gruss?“

„Auch dasselbe wie immer. Guten Morgen, Mister Mittelmass, was gedenken Sie heute zu tun, an diesem prächti­gen Tag?“

„Und, was geschah dann?“

„Ich hatte vorher nie eine Antwort erhalten. Mein Ge­genüber wusste jeweils nichts zu sagen oder weigerte sich schlicht und einfach. Aber diesmal reagierte es, und zwar ziemlich unwirsch.“

„Was entgegnete es?“

Ben wirft den Kopf in den Nacken und lässt den Blick zur Decke schweifen.

„Dass ich stets das Gleiche fragen und mich ständig wiederholen würde, obwohl es auf meine fantasielose Frage keine plausible Ant­wort gäbe. Und dann meinte es: ,Ich werde dir jetzt antworten, ein einziges Mal, weil du ja eh nicht locker lassen wirst.’“

„Hmm, jetzt wird es spannend.“

„Es sagte bloss: ,Egal, was du heute tun wirst, führe es zu Ende und mach es wenigstens einmal per­fekt!’ Mir war sofort klar, heute heisst bis Mitternacht.“ Ben mustert die Fingernägel seiner rechten Hand. „Nach Jahren des Schweigens brüskierte mich nun mein Abbild mit dieser unmöglichen Order, binnen Stunden etwas anzustreben, was mir nie zuvor gelungen war.“

„Hmm, ein ziemlicher Affront.“

Sekunden des Schweigens zerrinnen.

„Ben, Sie haben gesagt: ,Was mir zuvor nie gelungen war.’ Wie haben Sie das gemeint?“

„Es geht um meine Mittelmässigkeit. Ich bin sicher nicht besser und nicht schlechter als die meisten meiner Mitmenschen. Normal halt, Durchschnitt, aber genau das ist mein Problem.“

„Sie sind jetzt“, Dr. Nau blättert kurz in seinen Unterlagen, „knapp siebzig. Ist es das, was Sie nach all den Jahren am meisten beschäftigt, wenn Sie auf Ihr bisheriges Leben zurückblicken, Ihr Unvermögen besser zu sein als die anderen?“

„Genau, mittelmässig zu sein, ich habe von Mittelmässigkeit gesprochen! Ich bin es einfach leid, dass ich in einer gewichtigen Angelegenheit noch nie etwas Besonderes geleistet habe oder etwas von Bedeutung konsequent zu Ende bringen konnte. Ich kann es drehen und wenden, wie ich will, ich weiss, dass ich aus diesem Sumpf des Unvermögens, wie Sie es nennen, nie einen Ausweg finden werde.“

„Kommen wir nochmals zurück auf den Anruf, geschah der noch am selben Morgen?“

„Unmittelbar nach dieser Szene im Bad. Das ist doch nicht normal oder sagen Sie’s mir, ist das noch Zufall oder eher das Einmischen einer höheren Macht, wenn in einem solchen Moment das Telefon klingelt?“

„Tja.“

„Obwohl ich die Nummer nicht kannte, nahm ich den Anruf entgegen. Ich habe, ehrlich gesagt keine Ahnung warum.“

„Wie stellte sich denn der unbekannte Anrufer vor?“

„Mit Bruder Hein. Ich sagte, Hein kenn ich nicht, hätte ich noch nie gehört und dass ich nichts gäbe. Dann legte ich auf. Kaum zehn Minuten später rief er erneut an. Ich wurde wütend, aber er hatte mich am Haken. Er bat mich dranzubleiben, er hätte mir bloss etwas vorzuschlagen.“

„Wie reagierten Sie darauf?“

„Ich lehnte sein Angebot natürlich ab, doch mein Tag war gelaufen. Zuerst die Unbill im Bad und dann das Telefonat, das war zu viel des Guten.“

Ben holt tief Atem: „Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Sollte ich auf das Verlangen meines Spiegelbildes eingehen und wenn ja, wie? Was würde geschehen, wenn ich’s nicht tun würde?“

„Möchten Sie eine Pause einlegen? Etwas frische Luft tanken?“

„Nein danke, es geht schon.“

„Gut, dann fahren Sie bitte fort.“

„An diesem Morgen tigerte ich unablässig in meiner Dachwohnung auf und ab, hielt den Kopf unter kaltes Wasser, um besser denken zu können und rauchte zwei Zigaretten, die ich in einer längst vergessenen Schachtel in einer Kommode gefunden hatte. Das hätte ich allerdings besser nicht getan, denn nun wurde mir zu all dem Elend noch kotzübel. Ich musste mich dann hinlegen und wachte erst zwei Stunden später wieder auf.“

„Ging es Ihnen danach besser?“

„Ja, die Übelkeit war zum Glück verflogen, die kostbare Zeit und alle Antworten, die ich zuvor nur halbwegs angedacht hatte, allerdings auch. Dafür war mir etwas klar geworden, nämlich dass ich mein erbärmliches Verhalten und das ewige Herumdrücken nicht mehr akzeptieren wollte. Ich musste den Auftrag unter allen Umständen bis Mitternacht erfüllen. Nur hatte ich keine blasse Ahnung wie!“

„Scheinbar kamen Sie dann doch zu einer Lösung.“

„Wissen Sie, wie das ist, wenn sich alles nur noch um ein Thema dreht? Das macht einen verrückt. Eine Antwort musste her und ich hatte lediglich noch zehn Stunden Zeit. Ich zermarterte mein Gehirn, ich gebar vielfältigste Ideen, um sie gleich wieder zu verwerfen. Und wissen Sie, was das Schlimmste war? Dass die Fratze des erneuten Versagens über allem drohte, und dieses ver­hasste Bild des Nichtgenügens nicht aus meinem Schädel wich. Als es mir dann letztendlich gelang, das Wirrwarr in meinem Kopf unter Kontrolle zu bringen, wusste ich auf einen Schlag, was ich tun wollte.“

„Das kommt überraschend, was war denn Ihre Idee?“

„Eine Reise, der Anrufer hatte am Morgen etwas von einer einmaligen Reise gefaselt, deshalb beschloss ich ihn anzurufen.“

„Ok.“

„Ich wollte sein Angebot nun doch mit ihm besprechen.“

„Taten Sie’s?“

„Ja, ich rief ihn an.“

„Und, was hielt er von Ihrem Meinungswechsel?“

„Nichts. Er erinnerte sich zwar an mich, hatte aber keine Zeit! Er versprach mich am Abend zu besuchen, um alles in Ruhe zu besprechen.“

Schweigend legt Dr. Nau seine Unterlagen beiseite, erhebt sich und öffnet einen Türflügel zum französischen Balkon. Die frische Luft trägt Vogelgezwitscher in den Salon. „Entschuldigen Sie bitte, ist bloss für ein paar Minuten. Und hielt er sein Versprechen?“

„Ja, aber er liess mich lange warten, das machte mich extrem nervös. Als ich ihm dann die Tür öffnete, erschrak ich ziemlich.“

Dr. Nau setzt sich wieder, neigt den Oberkörper nach vorn, räuspert sich und lässt seinen Blick auf Ben ruhen. „Warum wurden Sie durch den Besucher so erschreckt?“

„Stellen Sie sich bloss diesen Anblick vor: Da stand ein ganz in Schwarz gekleideter, hochgewachsener Mann mit einem fahlen, eigenar­tig aus­druckslosen Gesicht an der Türschwelle. Das ginge ja noch, aber der Alte stützte sich auf eine abgenutzte Sen­se mit einem derart stumpfen Blatt, dass es kaum das Licht des Hausganges reflektier­te. Eine ziemlich mystische Szene, glauben Sie mir!“

„Stellte er sich Ihnen vor?“

„Ja natürlich, er war sehr höflich. Ich bat ihn herein und wissen Sie, was er tat? Herr Hein hob die Robe etwas an, um seine Fussknochen an der Matte abzutreten! Danach stellte er sein Arbeitsgerät äusserst vorsichtig neben den Türrahmen, sodass es nicht umkippen konnte.“

„Das ist allerdings ein skurriles Bild!“

„Er nahm Platz im grossen Sessel, den ich ihm angebo­ten hatte. Dann herrschte erst einmal betretenes Schweigen, bis er mich dann endlich fragte, ob ich mich dazu entschieden hätte sein Angebot jetzt anzunehmen. So nebenbei er duzte mich.“

„Sie sagten natürlich zu, das war ja Ihre Absicht.“

„Nicht direkt, ich wollte zuerst mit ihm sprechen, um Genaueres zu erfahren. Er bat mich, zuerst zu reden und wollte wissen, warum ich mich nun doch zum Handeln entschlossen hatte. Ich muss gestehen, dass er mir lange geduldig zuhörte.“

Ben seufzt. „Als er genug erfahren hatte, fuhr er sich mit der knöchernen Hand über sein Ge­sicht und sagte zu mir: ‚Deine Erläuterungen überraschen mich, sehr sogar. Ich bin mir gar nicht mehr sicher, ob ich der Richtige für dein Anliegen bin. Aber da ich nun einmal hier bin, können wir vielleicht trotzdem ins Ge­schäft kommen. Ich werde dir noch einmal mein Angebot erläutern.‘

Er redete und redete und seine Vorschläge wurden zunehmend konkreter, vor allem aber grotesker. Ich begann nervös auf meinem Stuhl herumzurutschen, weil ich mich fragte: ‚Was fantasiert dieser hagere Schwätzer bloss und wes­halb drängt er unablässig darauf, dass ich ihn begleiten solle? Was ist mit dieser Reise, die er mir am Morgen so verlockend beschrieben hat?‘

Als ich dann diskret auf die Wanduhr schielte, bemerkte ich, dass es bereits zehn nach elf war. Ich sah meine Zeit schwinden, wie das Häufchen winziger Körner in der oberen Hälfte ei­ner Sanduhr.“

„Was löste das bei Ihnen aus?“

„Ich unterbrach ihn dann und sagte ihm, dass aus seiner Idee wohl nichts würde. Darauf meinte er bloss: ‚Du hast kein Interesse?‘ Ich zögerte nochmals, machte ihm aber dann ganz klar, dass ich kein Interesse hatte.“

„Wie reagierte Herr Hein darauf?“

„Der alte Mann war offenbar selbst schon etwas müde geworden, er insistierte nicht. Er erhob sich, war leicht pikiert und meinte lakonisch: ‚Mein Angebot steht. Wenn du es verfallen lässt, wird es lange dauern, bis wir uns wie­der sehen werden.‘ Sagte es und verliess den Ort.“

Dr. Nau gibt sich erstaunt: „Das hatte also wieder nicht geklappt mit Ihrem Vorsatz!“

„Eben nicht! Ich schmiss mich auf die Couch und schrie meinen ganzen Frust ins Kissen. Ich kam mir so jämmerlich vor, wie der grösste Versager und Blindgänger, heulte wie ein kleines Kind und schlotterte vor Verzweiflung. Aber was hätte ich denn sonst tun sollen, annehmen und einfach mitgehen? Es wäre so einfach gewesen, so verdammt einfach endlich einmal etwas zu Ende zu bringen, aber ich Feigling war noch immer da.“

„Das sehe ich etwas anders. Sie selbst haben gesagt, dass Sie ihm eine Abfuhr erteilten. Also hatten Sie einen klaren Entscheid gefällt und sich für das Leben entschieden.“

„Ja, vielleicht, aber es ist noch nicht zu Ende, das Beste kommt erst noch. Plötzlich klingelte es nochmals im Flur und jemand klopfte leise. Ich riss mich zusammen, rannte zur Tür und wissen Sie, wer da stand und verlegen lächelte? Unser Herr Hein. ‚Tut mir leid‘, meinte er, ‚dass ich nochmals stören muss. Ich bin nur zurückgekommen, um mein Arbeitsgerät zu holen, ich habe es dummerweise stehen lassen.‘ Dann griff er nach der Sense, drehte sich noch einmal kurz um und fragte mich herausfordernd: ‚Und?’“

 

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