Von Ricarda Köhler

„Hey, schön dich zu hören!“

Ich stutzte, irgendwie klang die Stimme frivol, obwohl ich im Nachhinein nicht genau wusste warum. War es die Tonlage oder die Aussprache, es war wohl beides irgendwie. Sie klang, als würde sich jemand bemühen, dunkler zu sprechen, als er dies normalerweise tat, und das Wörtchen „schön“ betonte der Anrufer, als wäre es besonders wichtig. Ich wollte aber natürlich nicht unhöflich sein, also erwiderte ich:

„Entschuldigung, kennen wir uns?“

Jedoch wurde mir beim nächsten Satz klar, dass ich recht hatte.

„Chérie, du fehlst mir so sehr! Dein wohlgeformter Körper in meinem Arm, deine Augen, die auf meinen ruhen. Du bist so heiß!“

Wusste ich es doch! Ein obszöner Anruf und wieder diese doch sehr merkwürdige Betonung der einzelnen Wörter!

„Hast du nicht mal wieder Lust dich mit mir zu treffen?“

Geräuschvoll zog ich die Luft ein. Wer war dieser Kerl, der sich hier in meinen Feierabend drängte? Ich wusste gar nicht, dass mir gleichzeitig kalt und heiß werden konnte, zusammen mit Gänsehaut. Wer erlaubte sich hier einen Scherz? Eine Fragenflut ergoss sich über meinen Kopf. Mit dem nächsten tiefen Atemzug versuchte ich mich zu sammeln und antwortete schließlich entsetzt.

„Entschuldigen Sie bitte, ich befürchte, Sie haben sich verwählt!“

„Nun zier dich doch nicht so! Beim letzten Mal warst du so geil, du willst es doch auch.“

Das ging nun wirklich zu weit. Ich fühlte mich, wie ein Teenie, der nicht weiß, was er antworten soll, wenn ein älterer Mann anzügliche Bemerkungen macht. Ich musste diese Szene schnell verlassen.

„Nein, nicht wirklich!“

Schnell legte ich den Hörer auf. War das versteckte Kamera oder hatte ich was verpasst? Ich sah mich hektisch in meinem Wohnzimmer um. Blinkte irgendwo ein Kameralicht? Mit einer Handbewegung fegte ich die Bücher aus dem Regal, aber nirgends konnte ich ein Blinken entdecken. Meine Hände waren feucht und mir wurde nun richtig heiß, aber nicht im Sinne des Anrufers. Während ich meine Blicke streifen ließ, stellte ich entsetzt fest, dass, wenn mein Nachbar wollte, könnte er mich durch seine Fenster beobachten. War mir vorher nie richtig aufgefallen. Leider ist es genau der Nachbar, der mich letztens auf der Straße ansprach, ob wir nicht mal einen Kaffee zusammen trinken wollten. Den ich damals einfach stehen gelassen habe, weil ich wirklich schlecht gelaunt war, nachdem mein Chef mir die eigentlich versprochene Gehaltserhöhung ausgeschlagen hatte. Aber Hans, seines Zeichens dieser Nachbar, kam auch wie eine Dampfwalze daher, als er mich ansprach. 

„Was für ein Zufall, dass du auch immer um diese Uhrzeit spazieren gehst. Toll, wir haben viele Gemeinsamkeiten. Hast du nicht Lust einen Kaffee mit mir zu trinken.“

Zu diesem Zeitpunkt, allerdings muss ich zugeben, auch zu keinem anderen Zeitpunkt, war ich bereit für eine innige oder auch nur eine entfernte Freundschaft, daher erwiderte ich nur:

„Hans, nein, danke, aber du bist zwanzig Jahre älter und hast eine Frau.“

„Nur einen Kaffee“, meinte er daraufhin fast schon bettelnd, „Ines, ich hab mich schockverliebt in dich bei unserem letzten Straßenfest, tu mir das nicht an.“ 

Aber ich bin einfach weitergegangen. Dachte noch bei mir, nur einen Kaffee, genau! Schockverliebt, geht´s noch. Woher hatte Hans eigentlich meine Nummer? Bestimmt von Stefan unserem anderen Nachbarn, klar, dass der mir in den Rücken fällt, nachdem sich mein Unkraut letztes Jahr, das ich übrigens auch nicht mit Liebe gesät habe, sich voller Freude über jegliche Grenzen auf seinem Golfrasen ausbreitete, worüber sich dieser brave Kleinbürger, der nie eine Regel brechen würde, wie immer aufregte. Als ich ihm dann auch noch sagte, dass ich mein Unkraut liebevoll Sommerblumenwiese nenne und er es doch auch mal probieren sollte, stampfte Stefan wie ein beleidigter Dreijähriger davon. Jetzt hatte Stefan also Hans meine Nummer gegeben. Irgendwie konnte ich die kleine Rache von Stefan verstehen. Aber, wieso rief mich Hans an? Hat er meine Abfuhr nicht verstanden? Ich spähte vorsichtig durch mein Fenster, ob ich Hans auf der anderen Seite entdecken konnte. Alles dunkel dort drüben. Klar, im Dunkeln konnte man besser beobachten. Schnell ließ ich die Rollläden runter, bis auf einen Spalt, durch den ich linsen konnte. Drüben blieb alles dunkel. Letztendlich egal, Hans hatte seinen Spaß und ich schlechte Laune. 

Am nächsten Tag klingelte wieder das Telefon. 

„Hallo, süße Zuckerschnecke, ich würde dich so gerne wiedersehen nach all der Zeit. Darf ich zu dir kommen? Und darf ich kommen?“ Ein etwas heiseres Lachen folgte.

Diesmal war ich schneller mit dem Auflegen, das wurde ja immer schlimmer. Demnächst holte er sich noch einen runter beim Telefonieren. Doch irgendetwas ließ mich stutzen. Irgendetwas an der Stimme von diesem unbekannten Anrufer. Hans war es nicht, da war ich mir sicher. Trotzdem war er mir tatsächlich fremd? Oder kannte ich ihn womöglich? Die Stimme kam mir diesmal bekannt vor, vor allem das Lachen, aber der Kontext passte so gar nicht. Wie beim letzten Mal, sah ich nach, ob er eine Nummer mitgeliefert hatte. Hatte er leider nicht. Anonymer Anrufer, die Nummer wurde unterdrückt. Ich fluchte leise. Diese Stimme? Ich kannte sie, doch woher?

Am nächsten Tag, kein Anruf. Ich war richtig traurig, ich ärgerte mich, dass ich am vorherigen Tag nicht noch ein wenig der Stimme gelauscht hatte. Vielleicht könnte ich den verbalen Inhalt ausblenden und demnächst einfach nur der Stimme horchen, um den Anrufer zu identifizieren? Ich nahm es mir für den nächsten Anruf vor.

„Zuckerschnecke, ich sitze hier nur in Unterhose bekleidet, macht dich das heiß?“

Hilfe, nee, nicht wirklich. Aber diesmal musste ich tapfer sein. Was war das überhaupt für ein blöder Kosename „Zuckerschnecke“, wirklich total einfallslos und die Stimme klang älter. Konnte es mein alter Mathelehrer sein? Nein, ich glaubte nicht. Weiter zuhören war jetzt angesagt, ich wollte ihn in der Leitung halten. Hans Stimme war es nicht, der lispelte ein wenig. Wer sagt denn bitteschön bei einem Dirty-Talk „in Unterhose bekleidet“? Wie alt war dieser Mann? Aber ich fragte dennoch zaghaft.

„Hans, bist du es?“

„Hans? Wieviel Geliebte hast du denn noch?“

Nein, Hans konnte ich jetzt wirklich ausschließen, der hätte sofort reagiert. Wenigstens mit auflegen. Aber mein unbekannter Verehrer war noch in der Leitung. Ich konnte ihn atmen hören. Leider sehr schwer atmen hören, was mich irgendwie nervös machte. Tapfer bleiben, Ines, machte ich mir Mut.

„Entschuldige, mein Fehler. Übrigens, ja, ist wirklich heiß heute. Wo würdest du dich treffen wollen?“

„Am besten in unserem Hotel. Morgen halb drei.“

Diesmal legte er auf. 

Verblüfft starrte ich das Telefon an. In unserem Hotel? Meinem Mann war ich bis zu unserer Scheidung vor drei Monaten treu gewesen oder war mir was entgangen? Die Stimme, wer ist er? Älter in jedem Fall, aber wie viele Männer haben sich jetzt schockverliebt in mich? Was sollte ich tun? Wüsste ich wo „unser Hotel“ ist, würde ich ja hinfahren, aber hier in unserem kleinen Ort gibt es bestimmt fünf Hotels, wie sollte ich mich aufteilen?

„Zuckerschnecke, hallo, ich wäre jetzt gerne bei dir. Deine warmen Lippen auf meinen spüren.“

Nach zwei Tagen meldete er sich wieder. Ich war schon ganz unruhig, weil er mich doch irgendwie neugierig gemacht hatte. Klar hätte ich auch zur Polizei gehen können, wie mir Tina riet, aber ich wollte einfach wissen, wer dieser unbekannte Anrufer war, dessen Stimme ich eindeutig kannte, aber nicht zuordnen konnte. Dabei habe ich bereits alte Fotos von alten Verehrern und Freunden durchgeforstet. Ich hatte sogar die leise Hoffnung, dass es Tim, mein Ex, war, aber dann hätte er eine Stimmband-OP haben müssen, um seine Stimme so verändern zu lassen. Die Hoffnung stirbt eben immer zuletzt, daher stieg ich auf das Spiel wieder ein. 

„Ach, hallo, leider konnte ich gestern nicht in unser Hotel kommen. Vielleicht sollten wir nochmal einen Treffpunkt ausmachen?“

„Unserem Hotel? Wollten wir uns da treffen? Wann denn?“

Unverschämt, er hätte mich also sitzen lassen. Erst verabreden und dann so was. Irgendetwas stimmte hier nicht. 

„Eigentlich gestern, aber ich konnt ja auch nicht“, antwortete ich stattdessen. „Sag mir nochmal die genaue Adresse von unserem Hotel. Ist ja schon länger her mit unserem letzten Treffen.“

„Gerti lässt mich im Moment nicht aus den Augen und seit ich nicht mehr zur Arbeit fahre, kann ich mich kaum aus dem Haus schleichen. Aber, wie wäre es…“

Ich ließ ihn nicht weiterreden, sondern legte vor Schreck auf. Ich konnte nicht mehr. Völlig fertig ließ ich mich auf mein Sofa nieder, ließ mich vom Fernseher berieseln und versuchte die Bilder, die der Anrufer in meinem Kopf hinterlassen hatte, zu verdrängen.

Am nächsten Tag wieder ein anonymer Anruf. Sollte ich wirklich ans Telefon gehen, jetzt wo ich ahnte, wer mich hier seit Tagen tyrannisiert. Allerdings kannte ich inzwischen viele, die wieder ihre Nummer unterdrücken. Ich konnte ja immer noch auflegen.

„Hallo, Ines! Geht’s dir gut?“

Vor Schreck ließ ich meine Kaffeetasse fallen. Der lauwarme Kaffee breitete sich über meine Wollsocken aus und hinterließ unschöne Spuren. 

„Hallo Gerti, ja alles gut und bei euch?“, riss ich mich zusammen.

„Ach weißt ja, Antons Demenz wird von Tag zu Tag schlimmer. Ich kann ihn jetzt gar nicht mehr alleine lassen. Eine Pflegerin unterstützt uns jetzt täglich für ein paar Stunden, aber ist halt trotzdem schwer. Auch wenn ich nicht will, vielleicht muss er trotzdem irgendwann in ein Heim.“

„Ach Tantchen, nächste Woche hab ich Urlaub, da komm ich vorbei! Ich bleib ein paar Tage und du kannst mal ein paar Stunden einfach raus.“

„Das wäre lieb von dir.“

Wir verabschiedeten uns. Ich freute mich auf meine Tante und meinen Onkel, die ich immer am liebsten mochte aus der Verwandtschaft. Anton, der alte Schwerenöter, auch wenn er wahrscheinlich seine Geliebte suchte, beim nächsten Anruf werde ich mal ein wenig mitspielen. Denn am nächsten Tag hatte er es wahrscheinlich wieder vergessen.

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