Von Herbert Glaser

Die erste Empfindung, an die ich mich erinnere, war Neid.

„Nun sieh dir mal die ganzen Matten aus Fernost an“, empörte sich die junge Frau in dem Teppichladen, in dem ich nach meiner Herstellung gelandet war, „hergestellt von Kinderhänden, was wollen wir wetten?“

Ein Schauer durchfuhr mich, als ich an die Fabrik dachte, in der ich entstanden war. Fließbänder, Automaten, eine herzlose Maschinerie.

Die Anderen dagegen: hergestellt von Kinderhänden. Was für ein erhebender Gedanke. Kleine Wesen, die jedes einzelne Stück von Hand fertigen … individuell … liebevoll …

„Und die da aus Osteuropa sind sicher voller Chemie“, riss mich die Stimme der Frau aus meinen Träumen.

„Es sind doch nur Fußabstreifer, Jenny“, entgegnete ihr Ehemann, „Such dir einfach einen aus und lass uns gehen.“

„Markus, sieh doch mal hier.“ Mit Genugtuung registrierte ich, dass die Angesprochene mich entdeckt hatte.

„Dieses hässliche Teil, was willst du denn damit?“, beendete Markus das kurze Glücksgefühl.

„Lies!“ Sie zeigte das Etikett auf meiner Rückseite. „Auf Schadstoffe getestet, nachhaltig hergestellt.“

„Aber der ist hässlich!“

„Und `Made in Germany`, man soll doch schließlich unsere Wirtschaft unterstützen.“

„Na gut“, kapitulierte er, „ist ja nur ein Fußabstreifer. Hauptsache, ich bekomme bald meinen Flatscreen.“

So landete ich im dritten Stockwerk eines siebenstöckigen Wohnhauses.

Und Markus bekam seinen Flachbildschirm.

„Hätte es eine Nummer kleiner nicht auch getan?“, schimpfte Jenny, als die beiden das Gerät zur Wohnungstüre geschleppt hatten, „wir haben nur eine Zwei-Zimmer-Wohnung und kein Filmstudio! Und außerdem … wo willst du das Teil eigentlich hinstellen?“

„Da findet sich schon ein Plätzchen, du wirst sehen.“

Die Suche nach dem richtigen Standort gestaltete sich offenbar doch etwas schwierig. Fast zwei Stunden lang wurden Einrichtungsgegenstände polternd umgestellt, unterbrochen nur von einzelnen, aber heftigen Flüchen des Paares. Während der gesamten Zeit stand der Karton halb in der Wohnung und halb im Treppenhaus … und mit seinem ganzen Gewicht auf mir.

Nachdem der Bildschirm endlich seinen Platz gefunden hatte, dauerte es einige Tage, bis sich meine Kokos-Borsten wieder aufgerichtet hatten – nicht unbedingt ein Einstand nach Maß.

Dass der Haussegen in den nächsten Tagen etwas schief hing, bemerkte ich an der Heftigkeit, mit der meine Besitzer mich traten und ihr Schuhwerk an mir abstreiften. Aber das kümmerte mich wenig, es war schließlich meine Bestimmung. Und je mehr Schmutz und Sand sie hinterließen, desto glücklicher war ich. Die miese Stimmung ging bald vorbei und alles lief seinen normalen Gang.

Wir waren zu fünft auf unserer Etage. Fünf Wohnungen, fünf Haustüren, fünf Fußabstreifer. Ein harmonisches Nebeneinander. Leider geschah bald danach ein schreckliches Unglück. Wir hatten in den Tagen zuvor schon so ein komisches Gefühl.

„Hast du gesehen, wie viel Dreck die auf dem armen Kerl da ganz vorne hinterlassen haben?“, machte mich meine Nebenmatte aufmerksam, „hoffentlich machen die ihn bald sauber, sonst …“

„Du meinst …“ Ich hatte Angst, den Gedanken zu Ende zu führen.

Die Mieter der entsprechenden Wohnung unternahmen nichts, den Verschmutzten zu reinigen. Kein Handbesen, kein Staubsauger, nichts. Was für ein herzloses Pack! Es kam, wie es kommen musste – unser vorderster Kollege wurde einfach entsorgt und durch einen neuen ersetzt.

Wir trauerten.

Nach diesem Erlebnis lebte ich in ständiger Angst vor dem gleichen Schicksal. Würden Jenny und Markus auch die einfachste Lösung wählen und mich in die Tonne treten, wenn ich zu viel Dreck gesammelt hatte. Mir blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten.

„Jenny“, rief Markus in die Wohnung, nachdem er aufgesperrt hatte, „unser Fußabstreifer ist ja völlig verdreckt. Man muss sich schämen, wenn Gäste kommen.“

„Da hast du ausnahmsweise mal recht“, pflichtete ihm Jenny bei, „ich werde das Problem gleich lösen.“

Ohne zu zögern, riss sie mich von meinem Platz hoch und trug mich die Treppe hinunter. Ich sah mich bereits auf einer Müllhalde verrotten und schloss mit meinem Leben ab.

Im Hinterhof angekommen hielt sie mich hoch und … schlug mich mit einem Teppichklopfer – immer und immer wieder. Was für eine Wohltat! Sand und Dreck fielen von mir ab, bis ich fast wieder wie neu war.

Nachdem Jenny mich an meinen Platz zurückgebracht hatte, zog ich glücklich eine Bilanz meines bisherigen Lebens.

Ich hatte die besten Besitzer der Welt, die mich nicht wegen ein bisschen Schmutz einfach entsorgten. So wie diese Scheichs, die sich ein neues Auto kaufen, nur weil der Aschenbecher voll ist. Nein, die Beiden würden mich behalten und von Zeit zu Zeit schlagen. Nichts konnte mir passieren, so dachte ich zumindest …

… bis eines Tages Lärm im Treppenhaus zu hören war. Eine Türe wurde zugeschlagen und ein Mann kam trampelnd die Treppe herab.

„Dieser Drecksköter“, schimpfte er, als er meine Etage erreichte, „kann der sein Geschäft nicht draußen machen? Denen werde ich was erzählen.“

Wie er so an mir vorbei stapfte, erkannte ich den Grund seines Ärgers. Unter dem Arm trug er eine Fußmatte, die einen großen feuchten Fleck aufwies. Offensichtlich war der Hund seiner Nachbarn für diese Hinterlassenschaft verantwortlich. Mitfühlend sah ich meinem Kollegen hinterher. Dieses Malheur war nicht mit ein paar Schlägen rückgängig zu machen, sein Schicksal war besiegelt.

Gut, überlegte ich, dass auf unserer Etage kein Hund wohnt. Die Besitzer des Übeltäters waren schon ziemlich alt und benutzten immer den Aufzug, es gab also keinen Grund zu der Befürchtung, dass sie an mir vorbei kommen würden, aber ein ungutes Gefühl blieb dennoch.

Und wieder bewahrheitenden sich meine schlimmsten Ahnungen. Nur wenige Tage nach dem zweiten Todesfall in unserer Fußmatten-Gemeinschaft näherte sich das Unheil auf leisen, trippelnden Pfoten. Anscheinend hatte das Rentner-Ehepaar einen Augenblick nicht aufgepasst und schwups – ihr Langhaardackel war ausgebüchst. Langsam kam er die Steintreppe herunter und trottete direkt zur ersten Matte – meinem Nachbarn. Ein kurzes Schnüffeln, dann wendete er sich mir zu.

Lass diese Urinspritze an mir vorbei gehen, dachte ich in bester Sankt-Florian-Manier und harrte der Dinge. Und tatsächlich, der Hund watschelte in Richtung der nächsten Tür. Als er schließlich auch unseren letzten Kollegen verschont hatte, glaubten wir uns alle schon in Sicherheit – aber weit gefehlt. Diese Töle wollte einfach nicht verschwinden, sondern nur den besten Platz für sein Geschäft finden. Zielstrebig kam er zu auf … mich. Er hob sein Bein und alles Unglück dieser Welt plätscherte auf mich herab.

Meine Tage waren gezählt, es gab keinen Ausweg mehr.

„Was ist denn das für eine Sauerei?“, fluchte Jenny, als sie vom Einkaufen zurückkam, „das stinkt ja widerlich!“

Naserümpfend und ohne die gewohnt liebevollen Tritte stieg sie über mich hinweg und knallte die Türe zu.

Das war‘s, dachte ich, jetzt kann mich nur noch ein Wunder retten.

Resignierend auf Jenny wartend, die gleich alles zu Ende bringen würde, bemerkte ich nicht, dass das Wunder in Form eines Staubsaugervertreters bereits eingetroffen war.

Gerade wollte Mann die Klingel betätigen, da riss Jenny die Tür auf.

„Wer …?“

Ohne die Frage abzuwarten, warf der Typ eine große Menge Erde, Sand und anderen Dreck auf mich.

„Gnädige Frau, darf ich Ihnen unser neuestes Modell vorführen, es wird auch mit stärksten Verschmutzungen fertig.“

Jenny schnappte nach Luft. „Was erlauben Sie sich, ich hole gleich die Polizei!“

„Keine Panik, Gnädige Frau, sollten Sie mit meiner Vorführung nicht zufrieden sein, dann können Sie immer noch … aber dazu wird es nicht kommen.“

Routiniert spulte der Vertreter sein Programm ab. Er saugte den von ihm mitgebrachten Schmutz gründlich weg und besah sich dann meine Oberfläche mit geübtem Blick.

„Habe ich es doch richtig gesehen.“ Er zeigte auf den Hundefleck.

„Für solche Fälle ist unsere Nassreinigung zuständig.“

Jenny beobachtete zunehmend interessiert, wie er Schaum auf die kontaminierte Stelle sprühte und dann mit einem Handschrubber verrieb.

„Natürlich kann man unser Mittel auf Teppichen auch länger einwirken lassen – je nach Verschmutzungsgrad – aber Sie werden sehen, dass ihre Fußmatte schon nach kurzer Zeit wieder wie neu ist.“

Ein letztes Absaugen und ich fühlte mich tatsächlich wie neu geboren. Auch Jenny war beeindruckt – und ich gerettet.

Am darauffolgenden Abend gab es noch einen kleinen lautstarken Disput zwischen meinen Besitzern. Markus wies darauf hin, dass der Preis des Staubsaugers unverschämt hoch sei, worauf Jenny ihrerseits bemerkte, der Preis wäre auch nicht höher wie der seines neuen Fernsehers. Als dann schließlich alle Argumente ausgetauscht waren, kehrte wieder angenehme Ruhe ein.

Ich für meinen Teil bin mit der Gesamtsituation äußerst zufrieden.

 

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