Von Andrea Gebert
Mehr als zwei lange Jahre Hässlichkeit lagen hinter mir. Es war eine zermürbende Zeit gewesen, die ich gemeinsam mit einigen Artgenossen größtenteils auf und unter den Blättern der Bergenie verbracht hatte. Mein einziger Zeitvertreib hatte in der Schneckenjagd bestanden. So wie ich eine Schleimspur geortete hatte, machte ich mich auf den Weg. Ich pirschte mich so nah wie möglich an mein Opfer heran. Dabei bevorzugte ich Häuschenschnecken, die sahen appetitlicher aus als Nacktschnecken und außerdem konnte ich auf ihnen reiten. Natürlich nur, bis mein Hunger unüberwindbar geworden war. Dann überwältigte ich sie mit einigen Giftbissen und schleppte sie in mein Versteck.
Ich will nicht behaupten, dass mir das Schneckenfleisch schmeckte. Ich hätte Abwechslung statt Eintönigkeit in der Ernährung vorgezogen. Ich frass sie lediglich, weil es meiner Biologie entsprach.
Doch nun hatte diese sinnlose Fresserei ein Ende, ich spürte von Tag zu Tag ein neues Lebensgefühl. Bald würde sich die unförmige Hülle, die mich umgab, öffnen und ich würde zu ungeahnter leuchtender Schönheit erglühen. Die Tage wurden länger und wärmer, die Sonne ging erst unter, wenn der Mond bereits am Firmament zu sehen war. Die Bergenie trug purpurfarbene Blüten, ihre großen, weichen Blätter glänzten, wenn der Mond sie beschien. Und dann war es endlich soweit: ich verlies den Panzer!
Obwohl ich wusste, dass meine Tage von nun an gezählt waren, verspürte ich reine Glückseligkeit. Endlich hatte mein Dasein einen Sinn. Es war wie eine zweite Geburt.
An meinem ersten Abend kletterte ich an einem dicken Grashalm nahe der Bergenie empor und sah mich nach einem passenden Partner um. Hunderte von Artgenossinnen taten das Gleiche wie ich. Ich sah, wie sich ein Männchen aus etwa zwei Meter Höhe auf seine Auserwählte fallen ließ. Kurz darauf erlosch ihr Licht, welches, wie ich wusste, als Vorbote ihres nahenden Todes zu deuten war.
Ich musste nachdenken, doch bevor ich dies tat, dimmte ich meine Leuchtkraft, um nicht zuviel Energie zu vergeuden.
Mir blieben bestenfalls drei Wochen, da ich keinerlei Nahrung mehr zu mir nehmen konnte. Stach ich durch besonders starke Leuchtkraft heraus, würde ich zwar ein ansehnliches Männchen bekommen und vermutlich mit vielen Eiern gesegnet sein, hätte allerdings meinem ohnehin schon kurzem Leben ein jähes Ende bereitet.
Wartete ich und leuchtete nur gedämpft vor mich hin, würde das meine Tage verlängern, meine Chance auf einen attraktiven Partner jedoch verringern.
Ich muss zugeben, die Entscheidung viel mir nicht leicht. Zwei Jahre als hässliches Lärvlein zu verbringen, um dann mein Licht buchstäblich unter den Scheffel zu stellen, missfiel mir ebenso wie die Alternative des schnellen Sterbens.
Doch dann malte ich mir aus, was ich in den mir verbleibenden drei Wochen alles würde erleben können und meine Neugier siegte.
Ich konnte zwar nicht fliegen, wie meine männlichen Artgenossen, sondern nur krabbeln. Das jedoch sollte kein Hindernis sein, um meine Umgebung zu erkunden. Ich sagte der Bergenie also „Lebwohl“ und machte mich auf den Weg.
Auf unebenem Terrain voranzukommen, war anstrengender als ich es mir vorgestellt hatte.
Dementsprechend langsam ging es vorwärts, aber das tat meiner Reiselust keinen Abbruch.
Ich fand einen Rittersporn, der so hoch gewachsen war, dass er in den Himmel hineinzuragen schien. Ich entdeckte Akelei, Margeriten und Duftnelken. Wenn es dunkelte, kletterte ich an den Pflanzenstielen nach oben und beobachtete das nächtliche Treiben meiner Artgenossinnen. Immer darauf bedacht nicht allzu hell zu leuchten. Manchmal, wenn ein besonders hübsches Männchen über mir schwebte, musste ich an mich halten, um nicht auf mich aufmerksam zu machen. Ich schmachtete sie aus der Ferne an und sah still zu, wie sie sich auf ihre Auserwählten fallen ließen und wie die Liebeslichter erst schwächer wurden und schließlich erloschen.
Ich beobachtete wie sich die Blüten vieler Blumen morgens öffneten und abends schlossen und wie sich ihre Blätter bewegten, wenn der Wind sie berührte.
Ich verspürte bereits eine leichte Mattigkeit, wenn ich mich allabendlich auf den jeweiligen Hochsitz begab. Der Garten war nur noch stellenweise illuminiert, viele meiner Schwestern hatten das Liebesspiel ausgekostet und bereits das Zeitliche gesegnet. Das sah ich auch an den unzähligen Eiernestern unter den Blättern der verschiedenen Pflanzen.
Ich konnte nun tagsüber nur noch kurze Strecken zurücklegen und musste meine Kräfte einteilen, damit ich abends noch in der Lage war mich an einem Grashalm hochzuhieven.
Auch wenn ich von Tag zu Tag schwächer wurde, genoss ich jede Stunde.
Es gelang mir sogar noch den Sonnenhut zu besuchen, von dem es nur noch ein kurzes Stück bis zu den Glockenblumen war. Die kurzen Blätter auf deren Stängel konnte ich während meiner letzten abendlichen Ausflüge als Haltegriffe nutzen.
Nur noch ganz vereinzelt sah ich Lichtpunkte aufblitzen, hier und da noch ein herumfliegendes Männchen auf der Suche.3 Ich sammelte alle noch verfügbare Energie in mir und leuchtete so stark ich konnte.
Plötzlich spürte ich wie sich etwas Riesiges auf mich senkte.
„Das ist kein Männchen, das sind Hunderte, Tausende“, dachte ich, bevor mir die Sinne schwanden.
„Ein Glühwürmchen! Ein Glühwürmchen!“
Das kleine Mädchen juchzte vor Vergnügen.
„Du hast wirklich eins gefangen, so wie du es versprochen hast. Jetzt mach, dass es leuchtet!“
Aber das hörte ich schon nicht mehr, sonst hätte ich es noch einmal versucht.