Von Maria Lehner

Vor Kurzem bin ich nah am Tod vorbeigeschrammt. Das Erlebnis hinterließ Spuren, die jederzeit wieder all die Ängste auslösen können, die ich durchlebt habe. Der Hell-Dunkel-Rhythmus in dem ich mich schließlich nicht mehr orientieren konnte, die Gefangenschaft, die Kälte, das Zurückgelassen-Werden, der Gestank…

Als damals ihr Blick auf mich fiel, erschraken sie. Ihnen war klar, dass sie mit ihrem Wissen hier nichts mehr ausrichten konnten. Sie suchten sofort einen Spezialisten auf, der ins Haus kommen sollte. Er sagte: „Das war das Schlimmste, das sie ihm antun konnten!“. Die beiden suchten nach Rechtfertigungen und schienen sich zu schämen. Man merkte, dass es ihnen naheging. Der Herbeigeholte ging nach umfassender Diagnose planvoll vor; Schritt für Schritt. Dass ich die Prozedur überlebt habe, schreibe ich meiner Konstitution und meinem unbändigen Lebenswillen zu – aber in erster Linie natürlich seinem Fachwissen und seiner Erfahrung. 

Ich werde nie mehr sein wie früher. Gut möglich, dass mich noch öfter, wenn ich das „Klack“ des Türenschließens höre, ein leichtes Zittern überfallen wird, denn es könnte wieder passieren, dass…  Dass es damals Absicht war, kann und will ich nicht glauben, sie lieben mich doch! Oder hab ich mir das immer nur vorgemacht? Auch diese Unsicherheit kannte ich vorher nicht. Früher war alles so einfach. 

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Wie schön war unsere erste Begegnung im vorigen Sommer auf Madeira gewesen, wo ein Teil meiner Familie herstammt. Wir gehören hier zu den Alteingesessenen. Man kann uns sehr lang zurückdatieren: unzählige Familienzweige, sehr unübersichtlich, alle gesund und munter; „eine robuste Sippe“ nennt man uns. Ein bisschen stolz sind wir schon darauf. 

Ich hatte die Urlauberin – es sollte wie zufällig wirken – damals berührt, als sie an mir vorbeiging. Sie stutzte, ich sah unauffällig zu Boden. Sie stupste ihren Begleiter an der Schulter: „Schau ihn an!“. Er staunte. Sie streichelten mich, tuschelten, verhandelten. Man machte mich schließlich reisefertig –  kurze Zeit später durfte ich zu ihnen ins Auto. Auf der hinteren Sitzbank machte ich es mir gemütlich. Sie fuhren vorsichtig und drehten sich immer wieder zu mir um. „Er ist wunderschön. Und denk mal, wie schön er es bei uns haben wird!“. Sie nannten mich „er“. Wahrscheinlich würden sie mich bald schon bei meinem richtigen Namen nennen (meine Papiere hatte ich ja dabei), meinetwegen auch einen für mich ausgedachten. „Er“ ist ein bisschen mickrig. 

Zuerst fuhren wir durch Gegenden, die mir vertraut waren, dann gings auf eine Autofähre. Die Überfahrt verschlief ich. Als wir wieder auf dem Land unterwegs waren, nahm ich eine Klimaveränderung wahr. Die hohen Berge – alles so fremd. Als wir von der Autobahn abfuhren, sah ich Zäune, Zäune, Zäune. Dahinter wohl vornehme Häuser. So vornehm, dass kein Name an der Tür stand. 

Irgendwann drehte sie sich um und sagte feierlich: „Wir sind da!“

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Ah – was war das?! „Toscana-Stil“ sagte er stolz. Ob hinter den anderen Zäunen die Häuser auch so prunkvoll waren? Die beiden waren kinderlos und das, was man wohl „gut situiert“ nennt. Sie schufen mir die besten Bedingungen. Von Anfang an wurden Experten einbezogen; die beiden wollten mit mir nichts falsch machen. Zum Teil war mir diese Überfürsorge etwas peinlich. Bei uns zu Hause hätten sie über so manches gelacht, was die hier veranstalten. 

Ich dankte es ihnen durch die beste Performance, die man sich vorstellen kann. Wenn Gäste kamen, wurde ich vorgeführt. Eitel, wie ich war, machte mir das nichts aus. Die Leute staunten: „Er ist wirklich was Besonderes!“. Manche berührten mich heimlich, wenn sie meinten, dass es die Gastgeber nicht sehen würden. Dann wurde gefragt, wie und wo wir einander begegnet waren. Insgeheim – ich bemerkte das – wollte der eine oder andere auch einen wie mich haben. Alles war perfekt. 

Dann war der Sommer vorbei, der Herbst auch. Es wurde empfindlich kalt und ich fand mich eines Tages in einem dunklen Verlies wieder. Weggesperrt! Zu Weihnachten war es, als würde es mich nicht geben. Was hatte ich noch beim vorhergehenden Weihnachtsfest an Gestrahle und Geglänze erlebt. Und jetzt – tote Hose. Gäste kamen, aber sie fragten offenbar gar nicht mehr nach mir. 

Das alles nahm ich hin. Was kann unsereins denn auch tun? Die Umstände hatten mich gelehrt, dass es besser war, nicht herumzuzicken, nicht dauernd etwas zu fordern, sondern bescheiden im Hintergrund, jetzt sogar im Untergrund, bleiben. Ich übte mich darin, mit dem auszukommen, was ich bekam und es mir gut einzuteilen. Dass sie mich immer noch „er“ nannten, gab ich ihnen zurück und nannte sie auch „sie“ und „er“, obwohl ich mittlerweile genau wusste, wie sie heißen. Insgesamt schlief ich viel und atmete flach. Ab und zu stellten sie mich unter die Dusche: „Das gehört sich so!“, meinen sie. Obwohl ich jedes Mal denke, dass ich das nicht nötig hätte und von zu Hause nicht kenne, fühle ich mich danach aber immer recht lebendig. 

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Heute haben sie mir sogar ein Vollbad eingelassen. Kühle umfließt mich, ich jubiliere leise. Sie hören es nicht, denn sie rennen oben nervös hin und her. Vorbeihastend sagt sie zu mir: „Wir bringen dir was mit, wie immer!“ Ja, das tun sie manchmal, ich sehe hinab auf die kleine Sammlung von „Typischem“, das da herumliegt. Mich interessierts nicht wirklich: eine Kunstharz-Miniatur der Aphrodite, ein getrockneter Seestern (er stinkt!). Das kleine Stück Lavastein finde ich vertraut, solche gibt´s bei uns zu Hause auch. Ich sage immer noch „bei uns zu Hause“, denn im Augenblick fühle ich mich hier nicht heimisch. Und jetzt: Tapp-tapp-tapp, die Stiege; Klack, die Tür. Ha – ich darf im Bad bleiben! Weit werden sie nicht fahren. Vielleicht holen sie Wein aus der Vinothek oder Forellen vom Klostergut.

Ich strecke mich genüsslich und träume von einem rauschenden Fluss in meiner Heimat.  Irgendwann fühlen sich meine Füße kalt an, ich ringle mich ein und mache Entspannungsübungen: „Es atmet Wärme“ und so weiter. Es wird hell und dunkel, dann wieder hell und dunkel, doch der Unterschied zwischen Tag und Nacht ist hier unten ohnehin kaum wahrnehmbar. Also schlafen. Es gelingt so lalá. Einmal wache ich auf und alles an mir fühlt sich seltsam an, aufgequollen irgendwie; ich versteife und verkrampfe mich. Wenn ich jetzt träume, dann von Kälte und ewigem Winter. Kein schöner Traum für unsereins. Plötzlich bemerke ich schwefelig-faulige Ausdünstungen. Das bin ich. Wie peinlich ist das denn?!

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Nach einer gefühlten Ewigkeit: Klack-klack die Tür. Träume ich das auch nur? Tapp-tapp-tapp, Schritte hasten herum. Irgendwann nähern sie sich, die Tür wird geöffnet, sie kommen zu mir herunter. Sie kreischt: „Nein! Wie er aussieht!“. Es klingt hysterisch. Wenigstens sehen sie jetzt, was sie mir angetan haben.

„Mordversuch durch Dihydrogenmonoxid!“ rufe ich ihnen (auf meine Art) erbost zu und bemühe mich gleichzeitig, weiter diesen durchdringenden Gestank zu produzieren. Sie sind schockiert und angewidert und reißen das Fenster auf – bei der Kälte! Dann bringen sie mich nach oben und holen den Experten. 

Sie sind nicht dabei, als ich behandelt werde. Die Schnitte sind unangenehm, ich zucke zusammen. Eine Drainage wird gelegt. Der Experte lässt eine Karte mit Empfehlungen da. Es gab ursprünglich so eine, aber sie ging verloren. Auf der Karte ist unter anderem mein richtiger Name genannt: „Olea europaea subsp. cerasiformis G. Kunkel & Sunding“. Das klingt vornehm, ist als Rufname aber zu lang.

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Als sie und er sich wieder entspannt haben, scherzt er: „Schau, was für einen komplizierten Namen er hat: Wollen wir ihn Oli Kunkel nennen?“. Und so heiße ich ab jetzt. Cool! Danke, Inge und Helmuth!

Aber so leicht kommen die beiden mir nicht davon. Eine Weile werde ich schmollen. Sie sollen sich nicht gleich in Sicherheit wiegen. Meinen Blattläusen erzähle ich das alles in ein paar Wochen, wenn ich wieder über genügend Abwehrkräfte verfüge (wir Olivenbäumchen erholen uns rasch). 

 

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