Von Michael Voß

Benno knipst das Licht an und beginnt mit der routinemäßigen Rasur. Seine Bewegungen sind eckig-effizient. Kaum ist er mit seiner Morgentoilette fertig und aus dem Bad raus, kommt Monika, seine Frau. Sie ist unausgeschlafen, das Gezicke von Larissa gestern Abend hat sie die halbe Nacht nicht schlafen lassen. Müde fährt sie das Sparprogramm (Katzenwäsche), kuschelt sich in ihren flauschigen Bademantel und geht runter in die Küche, wo Benno wie jeden Samstag mit heißem Kaffee und frischen Pancakes auf sie wartet.

Taps, taps: jetzt kommt Leni rein. Sie summt fröhlich, sperrt ihr Mäulchen auf und wackelt an ihrem Eckzahn, der seit ein paar Tagen nicht mehr so richtig festsitzt. Anschließend schrubbt sie ihr Gesicht, putzt sich die Zähne und bürstet das Haar. Dann sehe ich etwas Neues: Leni legt eine kleine, bunt bedruckte Plastiktasche auf den Waschbeckenrand. „Frozen II“ steht da drauf. Doch eine Kühltasche scheint es nicht zu sein, denn Leni holt Lipgloss und Glitzerpuder da raus, stellt ein Foto von einer Schauspielerin daneben und beginnt sich zu schminken. Anders als ihre große Schwester Larissa ist sie völlig ungeübt, doch das tut ihrem Eifer keinen Abbruch. Zum Schluss setzt sie einen farblich völlig unpassenden Haarreifen auf, den sie stellenweise mit Alufolie umwickelt hat – vermutlich soll er ein Diadem darstellen. Sie strahlt mich an und trällert: „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“

Etwas verblüfft – wann bin ich eigentlich das letzte Mal danach gefragt worden? –  sage ich: „Woher soll ich das wissen? Außerdem ist die Frage unsinnig.“

Lenis Augen werden rund. Dann sieht sie sich misstrauisch im Badezimmer um.

„Tobi? Steckst du dahinter? Hast du hier eine Webcam und ein Mikro versteckt?“

„Dein Bruder Tobias würde dich nie verarschen“, sage ich.

Ungläubig glotzt Leni mich an.

„Warum ist die Frage unsinnig?“

„Nicht Schönsein macht schön, gefallen macht schön. Anders gesagt: Die Geschmäcker sind verschieden.“

„Ich verstehe“, sagt Leni langsam und auch ein wenig enttäuscht.

Dann runzelt sie die Stirn.

„Bist du wirklich ein Zauberspiegel?“

„Ja.“

„Aus Schneewittchen?“

„Ja.“

„Aber Märchen sind doch erfundene Geschichten!“

„Die alle einen wahren Kern in sich haben. Es gab wirklich mal DEN einen Zauberspiegel und eine eitle Königin. Die wollte unbedingt von mir wissen, ob sie die Schönste ist.“

„Und was hast du ihr gesagt?“

„Dasselbe wie dir: Dass die Frage unsinnig ist. Schon weil ich ja nicht in die Welt schauen kann, sondern nur in ihr Ankleidezimmer.“

„Und dann?“

„Ist sie wütend geworden und hat mich zertrümmert.“

„Und dann?“

„Ist aus jeder Bruchkante die Magie herausgeströmt, wie lauter kleine Dampfwölkchen. Sie schwebten aus dem Palast und wurden vom Wind mitgenommen. Jedes Mal, wenn eines der Wölkchen irgendwo einen Spiegel berührte, wurde aus diesem ein Zauberspiegel. Jedes Mal, wenn einer dieser neuen Spiegel zerbrach, wiederholte sich diese Geschichte. Mittlerweile hänge ich in Hunderten von Ländern in Tausenden von Räumen.“

„Dann du bist also einer und auch viele?“

„Sozusagen.“

Die Tür fliegt auf, Larissa kommt rein.

„Du blockierst mal wieder das Bad, Kleine!“, mault sie und wirft ihr Haar zurück. „Und mit wem quatschst du da überhaupt?“

„Mit dem Zauberspiegel!“, strahlt Leni.

„Du guckst zu viele Märchensendungen! Zauberspiegel gibt es nicht!“

„Gibt es doch! Frag ihn selbst!“

Höhnisch guckt Larissa erst ihre Schwester, dann mich an.

„Also, Spiegel: Wer ist die Schönste im ganzen Land?“

„Du siehst gut aus, wenn man den Maßstab einer gewissen Klientel anlegt.“

Larissa glotzt: „Häh?“

„Jungs wie Hansi, Viktor und Mehmet finden dich heiß. Ein gewisser Influencer hingegen, dem du so inbrünstig folgst, findet, dass du aussiehst wie ein Botox-Luder“, sage ich.

„Woher weißt Du …?“, flüstert Larissa entsetzt.

Kunststück, ich kriege mehr mit als alle Geheimdienste dieser Welt zusammen.

„Was ist ein Botox-Luder?“, will Leni wissen.

„Eine junge Frau, die mal echt hübsch war, sich jetzt aber völlig verunstaltet hat und obendrein mit den falschen Typen abhängt“, erkläre ich.

Larissa schnappt sich den Badhocker und schlägt zu. Klirrend zerbreche ich in tausend Stücke.

Gottseidank! Endlich brauche ich mir dieses maulige Gesicht nicht mehr anzugucken.

 

P.S.: Leni hat sofort ihren Prinzessinnenspiegel geholt und ihn im Bad durch die Luft geschwenkt. Ich fühle mich in dem rosa Plastikrahmen mit den Glitzersteinchen etwas unmännlich, aber Leni ist ganz selig.

 

P.P.S.: Ein Jahr nach diesem erlösenden Ereignis hänge ich jetzt auch im türkischen Präsidentenpalast, im Barstädter Tierschutzverein, in der Zieloptik eines Jagdpanzers und im Bad eines völlig überspannten B-Promi-Models. Die Frau geht mir vielleicht auf den Zeiger!

 

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