Von Clara Sinn

Ich liebe sie.

Aber was sie alles nicht weiß von sich!

Damit meine ich nicht, dass ihr erst mit 46 klar wird, dass sie zur Fotografin berufen ist. So, wie sie erst kürzlich, mit über 35, gepeilt hat, dass sie gar nicht heiraten will.

Die Wenigsten wissen, was alles in ihnen steckt. In dem Alter, wo es darauf ankäme. In dem die wichtigsten Lebensentscheidungen getroffen werden, um die 18, 20, 25. Wo die berufliche Laufbahn ausgewählt wird und oft auch schon der Beziehungstyp.

Ich meine sowas wie: Was bereitet dir am meisten Freude? Und worauf müsstest du dich entsprechend eigentlich konzentrieren? Was ist denn deine größte Stärke? Und wo passt sie natürlicherweise hin? Was wär ein dazu passender Suchfokus? Sowas.

Aber sie hat nicht viel mit sich selbst am Hut.

Damit meine ich nicht, dass sie nicht die Absicht hätte, es sich gut ergehen zu lassen im Leben. So, wie sie sich wünscht, dass ihr Baby gesund zur Welt kommen möge.

Die Wenigsten verfügen über viel mehr Phantasie bei den Lebenszielen als gesund und glücklich zu sein. Zusammen mit ihren Lieben. Und dann im Lotto zu gewinnen. Früher nebst Weltfrieden. Heute mehr auf die erfolgreiche Klimawende ausgerichtet.

Ich meine sowas wie: Was ist meine individuelle Ausgabe einer guten Gesundheit? Was sind meine privaten Kriterien von Glück? Von Gelingen? Persönliche Erfüllung finden? Was würde mir am meisten fehlen, wenn es unversehens abhandenkäme?

Sie interessiert sich einfach nicht für sich.

Sie befasst sich damit, wo sie ihre Brüste wieder straffen lassen kann. Bloß, für wen denn? Und damit, wie ihre Stunden wieder aufzustocken wären, damit sie bei der nächsten Beförderungsrunde nicht wieder übergangen wird. Nur, wofür überhaupt?

Sie verwechselt andauernd Zweck mit Mittel zum Zweck. Gestern erst dachte sie über effektiveren Sport nach! Statt klar darüber zu sein, dass sie keineswegs Sport treiben, sondern durch Sport lediglich die Silhouette wieder in den Griff kriegen will.

Sie interessiert sich nicht für mich.

Ihr Wesen. Ihr eigentliches Selbst.

Sie könnte abends mit dem Gedanken zu Bett gehen, wie wahnsinnig gesegnet sie ist. Mich zu haben. Für sich. Und sie könnte morgens mit der Frage aufstehen: „Was kann ich dir denn heute Gutes tun? Was würde dir denn heute am besten gefallen?“

Neben allen Notwendigkeiten, Pflichten und Schlimmerem.

Sie könnte auf mich ausgerichtet sein. Jetzt schon. Bevor es schief geht mit ihrem aktuellen Tuppes. Der denkt auch nicht an sich. Als ureigenes Wesen. Sondern nur sein Ego. Wie er sie besser an sich binden kann. Diesen zu unabhängigen Freigeist.

Für mich alles okay.

Ich lieb sie auch so.

Jetzt hat er Heiraten vorgeschlagen. Weil er weiß, ein Kind bindet diesen Wildfang noch lange nicht sicher genug. Argumentierte mit berechtigten Geldforderungen und so. Bei seinem unbeholfenen „Wir haben jetzt Nachwuchs …“ hat sie laut aufgelacht.

Dennoch essen sie abends! Warm. Und viel. Weil er tagsüber arbeitet. Obwohl sie der Mittagessen-Typ ist. Und es ihr auch nicht bekommt. Abends Bratkartoffeln. Auch nur wegen ihm. Für ihn mit Frikadelle. Sich Salat. Das gärt doch, das weiß man doch.

Was soll’s?

Ich lieb sie.

Ich verzeihe ihr alles. Mit mir kann sie tun und lassen was sie will. Ich halte das gerne aus. Ich bin von Natur aus langmütiger als der geduldigste Engel. Aber ich merke, die Zeit vergeht, die Zeit reift, die rechte Zeit dämmert. Es gibt Dinge, die Größeres sind.

Als ich. Und ich bin schon ziemlich mächtig. Aber die Zeit gehört nicht mir. Genau genommen gehört ihre Zeit ihr allein. Sie könnte ja so unendlich viel draus machen. Großes. Werden. Größer als ich jetzt. Mich überschreiten. Weiß sie aber noch nicht.

Man tut, was man kann.

Als die liebende Seele.

Ich kann mich gut zu ihr bekennen. Sie ist noch weit davon ab, mich zu verwirklichen, aber ich kann sie schon als die spätberufene erfolgreiche Frau und Mutter sehen. Die heiß Beneidete. Neid, ja! Die aufrichtigste Form der Anerkennung. Zeige ich ihr noch.

Vielleicht kommt sie aber auch selbst drauf. Ich muss ja hier gestehen, dass sie mich durchaus zu verblüffen vermag. Wo sie gar Manches nur hernimmt? Wie Kindermund schon mal Sachen sagt, die definitiv keiner wissen kann. Es gibt das Unerklärliche …

Ich gehöre ja selbst zum Stamme des prinzipiell Unverständlichen.

Prinzipiell Unbeweisbaren. Sie wird am Ende an mir nicht zweifeln.

Ich werde mich mehr einmischen in ihr „Leben“. Das im Moment noch eher sowas wie ein gänzlich unbewusstes Dahinleben ist. Kollektiven Idealen folgend! Statt den  eigenen. Sie tut halt das, was man so tut, macht, eher blind, das, was alle machen.

Wird Zeit, sie einzuschwingen auf den radikalen Wechsel, ihre Liebe zur Fotografie zu entdecken. Das ist mit dem kleinen Kind ganz gut zu bewerkstelligen. Mal sehen, wie milde ich das mit der Trennung, die sie ja doch ereilen wird, ablaufen lassen will.

Sehr mild.

Sehr glatt.

Ich liebe sie so sehr!

Wenn sie es wüsste!

Sie sinniert immer mehr über Selbstbewusstsein.

Sie recherchiert im Netz zur Selbstermächtigung.

Heute werde ich ihr mal zufällig das Wort „Würde“ unterjubeln. Mal sehen, ob es …

zündet!

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