Von Gabriele Lengemann

Ich lebe gern hier am Rand des Waldes. Eine großflächige Wiese trennt das Waldstück von der Straße und ihrem Lärm. Die Nachbarschaft achtet aufeinander, aber keiner macht dem anderen Vorschriften. Im Winter dämmert alles vor sich hin, aber jetzt im Frühling ist richtig was los. Unzählige Vögel zwitschern um die Wette, Füchse und Wildschweine versuchen ihren Nachwuchs zu bändigen und das Insektengeschwader erobert Wald und Wiese.  Auf der entfernten Straße rasen die Menschen in ihren Autos vorbei, immer auf der Jagd nach ein bisschen Glück. Dabei würde das Glück zu Ihnen kommen, wenn sie sich in meine Nähe setzten und einfach ihre Sinne öffneten.

Heute nun kam in aller Herrgottsfrühe ein Pärchen über die Wiese geschlendert, direkt auf mich zu. Der schlaksige junge Mann hatte einen Arm um die zierliche Frau gelegt, die ihm gerade bis zur Schulter reichte.  Zwischen den Fingern seiner anderen Hand baumelten zwei Bierflaschen.  Unablässig redete sie auf ihn ein, und ihr roter Pferdeschwanz wippte dabei auf und ab. Er hörte zu, und die Art wie er sie dabei ansah, ließ für mich keinen Zweifel aufkommen. Er war verliebt. Direkt neben mir blieben sie stehen. Er zog seine Jacke aus, legte sie ins taunasse Gras und beide setzten sich darauf. Geschickt öffnete er mit dem Feuerzeug die Bierflaschen und hielt ihr eine hin.
„Also, auf uns“, sagte er. „Auf den wunderschönen Sonntags-Frühlingsmorgen, auf die Party, auf die ich überhaupt keine Lust hatte, und auf die Frau, namens Ines, die ich dort kennengelernt habe.“

Er beugte sich zu ihr, und mir schien, als wolle er sie küssen. Sie tat, als merke sie es nicht, und redete weiter. 
„Hör doch mal, Ulrich“, sagte sie und hob eine Hand.  „Die Vögel geben ein Konzert. Wie schön das klingt. Vielleicht ist es als Geschenk für uns gedacht.“
 „Vielleicht“, sagte er teilnahmslos, und seine Augen suchten weiter ihren Blick.
„Und die herrlichen Buchen“, fuhr die Frau fort. „Was die wohl schon alles erlebt haben. Sieh nur, diese Hänge-Rotbuche. Ist sie nicht wunderschön? Die ist bestimmt schon hundertfünfzig Jahre alt.“

Noch nicht ganz, dachte ich, fühlte mich aber doch geschmeichelt. In meinen oberen Ästen hatten sich ungefähr zwei Dutzend Vögel versammelt. Zumeist Singdrosseln, aber auch Blaumeisen und einige Buchfinken waren darunter. Sie alle hatten sich die Seele aus dem Leib gesungen und erwartet, dass Ines und Ulrich sich am Ende ihres Konzertes küssen würden.  Als das nicht geschah, zwitscherten sie aufgebracht durcheinander und eine Welle der Empörung schwappte durch mein Geäst. So viel Unruhe am frühen Morgen konnte ich nicht ertragen, und ich wippte ein klein wenig mit dem Ast, auf dem sie saßen.  Gerade so viel, dass alle flügelschlagend um ihr Gleichgewicht ringen mussten. Die meisten flogen davon. Lediglich die etwas robusteren Buchfinken blieben sitzen und beobachteten weiter neugierig das Pärchen, das immer noch unter der Decke meiner rotbelaubten Zweige saß.
Ulrich lehnte mit dem Oberkörper an meinem Stamm.  Seine Begleiterin saß ihm jetzt gegenüber, erzählte von den Gästen der Party und was für eine gute Idee es gewesen war, die alkoholisierte Gesellschaft zu verlassen. Der Spaziergang, die frische Luft, wie gut das alles tat. Sie kam auf einen Film zu sprechen, den sie letzte Woche gesehen hatte, dann auf ein Buch, das sie unbedingt lesen wollte, aber allmählich versiegte der Redefluss. Sie verstummte und sah etwas hilflos an Ulrich vorbei in den Wald. Da der die Augen geschlossen hatte, fürchtete sie wohl, er sei eingeschlafen.

Ich wusste es besser, denn ich kann die Gedanken und Gefühle der Menschen in meiner Umgebung wahrnehmen und in ihrem Leben lesen wie in einem Buch.  Ich spürte in dem jungen Mann eine Grundtraurigkeit, die er wohl immer bei sich trug.  Zusätzlich kämpfte er in diesen Tagen aber noch mit einem schlechten Gewissen, weil er den Besuch des Großvaters so lange hinausgeschoben hatte, bis es schließlich zu spät war. Er war fasziniert von Ines und hätte sie gern geküsst, aber dann verließ ihn der Mut. Irgendwie war ihm die beherzte Furchtlosigkeit seiner Jugend in der letzten Zeit abhandengekommen.  So schloss er einfach die Augen und genoss den Klang ihrer Stimme. Als Ines aufhörte zu reden, konnte er den schmerzhaften Druck seiner Blase nicht länger ignorieren, der ihm unmissverständlich klarmachte, dass es höchste Zeit war, das Bier wieder loszuwerden.  

„Entschuldige bitte, ich bin gleich zurück“, sagte er zu Ines, stand auf und lief in den Wald hinein.

Als er nach ein paar Minuten noch nicht wieder aufgetaucht war, gab sie ein Bild des Jammers ab. Alle Gewitztheit und alle Lebendigkeit waren aus ihrem Gesicht gewichen. Sie fürchtete tatsächlich, er sei ohne sie gegangen. Ich sah, dass ihr Selbstbewusstsein durch ihre letzte Trennung arg gelitten hatte. Sie fand sich dürr und hässlich. Ihre Augen hatten sich im letzten Jahr sehr verschlechtert, so dass sie nicht mehr ohne Brille das Haus verlassen konnte. Mit Kontaktlinsen kam sie nicht zurecht, aber ihr Spiegelbild mit Brille mochte sie auch nicht. Am liebsten verkroch sie sich hinter Büchern. Zum Besuch der gestrigen Party hatte eine Freundin sie überredet. Es hatte ihr dort nicht gefallen und sie wollte schnell wieder verschwinden. Im Flur war sie auf Ulrich getroffen, der allein mit einem Bier dort gestanden und sie zaghaft angelächelt hatte. Er hatte ihr geholfen, ihre Jacke zu finden und angeboten, sie bis zur Straßenbahn zu begleiten.
„Falls wir unterwegs Durst bekommen“, hatte er gesagt und zwei Flaschen Bier aus dem Kasten im Flur genommen. Dann waren sie an der Haltestelle vorbei und lange durch die Straßen gelaufen, bis Ines vorgeschlagen hatte, den Sonnenaufgang an einem nicht weit entfernten Waldstück zu genießen.
„Schöne Idee“, hatte er gesagt und sie hatte sich darüber gefreut. Er gefiel ihr, seine ruhige Art und die blassblauen klugen Augen.  
Ich habe viel zu viel geredet, dachte sie jetzt erschrocken. Ich bin einfach zu nervös. Ich muss mich zusammennehmen. Sicher habe ich alles verdorben. Was soll auch an mir interessant sein?
 Ulrich kam aus dem Wald und ging auf sie zu. Noch bevor er sie erreichte, stand sie auf und hielt ihm seine Jacke hin.
„Ich möchte nach Hause“, sagte sie.   

Die beiden gingen nebeneinander über die Wiese, zurück zu der Straße, von der sie gekommen waren. Ich sah ihnen lange hinterher. Sie berührten sich nicht mehr, wirkten müde, redeten nicht und doch erkannte ich, dass aus den beiden bald ein Liebespaar werden würde. Denn zu meinen Fähigkeiten zählt auch, ein gutes Stück in die Zukunft sehen zu können.  Heute in einem Jahr würden sie mich besuchen und in meinem Schatten mit einem Glas Sekt auf ihr Glück anstoßen. Ob es weitere Jahrestage bei den beiden zu feiern gibt? Alles weiß ich auch nicht. Aber ich kann abwarten.

Auf einmal ist es ruhig geworden. Sogar die Vögel sind verschwunden und der Himmel ist still wie ein Gemälde. Langsam entfaltet sich der Tag in seiner ganzen Schönheit. Ich taste mit meinen Wurzeln nach denen der anderen Bäume und vergewissere mich, dass es ihnen gut geht. Dann recke und strecke ich mich, schüttele meine nach unten hängenden Zweige aus und genieße die Sonne.

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