Von Peter Burkhard

Unsereins hat sich das Sterben einfacher vorgestellt, zügiger auf jeden Fall.
Leider lerne ich gerade, dass es dauern kann, den Jordan zu überschreiten.
Mein Coupon trägt die Nummer 117. Auf dem Monitor über mir flimmert schon seit ein paar Minuten die 92, als wäre die Zeit ins Stocken geraten. Wenn dieser greise Türsteher die Zutrittsberechtigungen weiterhin im gleichen Tempo kontrolliert, wird es Abend werden, bis ich passieren kann.

Seit Stunden sitze ich auf dieser kleinen Bank und warte gelangweilt und freudlos auf Einlass. Dabei drehen sich meine Gedanken ständig nur um zwei Fragen: Was ist der Grund meines Ablebens und was wäre wenn? Schon als ich noch lebte, hatte ich öfters über ein ähnliches Thema philosophiert: Wo wäre ich heute, wenn ich damals bei x einer Gelegenheit einen anderen Weg eingeschlagen hätte? Eine schlüssige Antwort fand ich nie. Aber die Fragestellung ist berechtigt, da bin ich mir sicher: Wenn ich mich nur einmal im Leben an einer Verzweigung anders entschieden hätte, dann säße ich nicht jetzt vor dieser Pforte.

Die letzte Möglichkeit, eine andere Wahl zu treffen, bot sich mir vor anderthalb Tagen.
Wenn ich auf Joes Geburtstagsfeier verzichtet und damit das Debakel des Abends nicht mitverschuldet hätte, wäre wahrscheinlich alles anders gekommen.
Das Fest war in vollem Gange, alle vergnügten sich. Ich wollte mich nützlich machen und war dabei, ein Tablett voller liebevoll gefertigter Häppchen von der Küche über ein paar Stufen in den Garten zu tragen. Luna, die unberechenbare Hündin meiner Schwägerin, lag friedlich am oberen Ende der Treppe. Sie schien mich bewusst zu ignorieren, den verlockenden Bissen, die auf den hübschen Platten lagen zum Trotz.
Um sie ein wenig zu foppen, neigte ich leicht das Tablett, damit sie besser sehen konnte, was ihr entging.
„Na Luna, die hättest du wohl …“, ich kam nicht dazu, den Satz zu beenden.
Am Ende des Tumultes lagen alle Köstlichkeiten verteilt über zwei Gartenbeete. Eines der Tischchen war in einer Pfütze von Wein, Bier und Smoothies und in zersplitterten Gläsern gelandet, während Luna jaulend das Weite suchte. Sonja, das am meisten betroffene Opfer, starrte ungläubig auf ihre mit Rotwein durchtränkte Fashion-Hose und dann auf meine Schwägerin, welche schuldbewusst aus der Küche angeschossen kam.
„Um Himmels willen, war das Luna? Was ist denn vorgefallen? Großer Gott, das tut mir furchtbar leid! Wo steckt denn das böse Mädchen, wo?“
Nach einer kurzen Schockstarre wurden wir uns schnell einig, dass so etwas passieren konnte. Also hieß es zuerst alles aufsammeln, dann Schwamm drüber und weiterfeiern. Hierzu lieh meine Schwägerin ihrer Freundin eine Trainingshose für den Rest des Abends.
Obwohl meine Provokation an die Adresse der Hündin unbemerkt geblieben war, nahm ich die Schuld für das Chaos auf mich und bot Sonja an, ihre Hose zur Reinigung zu bringen.
Schade nur, dass mein Schicksal meine noble Attitüde nicht zu honorieren wusste: Denn heute Vormittag, kurz nachdem ich das teure Stück aus der Express-Reinigung geholt hatte, ließ es mich zu Tode kommen.

Nummer 105 leuchtet auf. Es geht vorwärts, langsam, aber immerhin. Ein betagtes Pärchen durfte nach einem längeren Geplänkel mit dem Türsteher soeben passieren.
Unter mir ist die Wolkendecke partiell aufgerissen und ermöglicht mir einen Blick auf die Erde. Was für eine ungewöhnliche Perspektive.
Deutlich lässt sich erkennen, wie sich die Nacht langsam über die Arabische Halbinsel ans Mittelmeer schiebt. Bald werden Afrika und Europa im Dunkeln liegen, während sich Hunger in mir breitmacht und ich noch immer hier sitze.

Ob allein der Entscheid, Joes Feier zu besuchen, meinen Hinschied bewirkt hat? Meine Zweifel an dieser Logik mehren sich. Ich musste schon vorher auf ein falsches Gleis geraten sein.
An der Ursache meines Todes hingegen gibt es nichts zu deuteln: Ein unglückliches Zusammentreffen, etwas Lautes, Heftiges hat mich ins Jenseits befördert.
Weshalb bloß entzieht es sich völlig meiner Kenntnis, was genau geschehen ist und warum?
Vielleicht war es gar nicht ich, der sich zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort befand. Möglicherweise war es der oder die andere oder sogar mehrere Personen, welche mir fatalerweise in die Quere gekommen waren. Ich muss diese Ungewissheit verdrängen, um nicht vollends zu verzweifeln. Bloß wie?

Längst hat der Nachtschatten das Rote Meer geschluckt und die Wolkendecke ist verschwunden. Links unter mir erstreckt sich der Unterlauf des Nils, an dem sich Städte und Oasen wie eine gelblich glitzernde Perlenkette auf schwarzem Grund aneinanderreihen. Wunderbar anzusehen ist die Welt von hier aus und friedlich, weil man das Leiden der Kreaturen im Finstern nicht sehen kann und hier oben auch nicht hören.

Na also, endlich. Es ist so weit, die Anzeige des Monitors befreit mich aus meiner Grübelei: Nummer 117 prangt in großen Zahlen vom Monitor.
Ich möchte aufspringen, doch mein Rücken zwingt mich zu mehr Besonnenheit beim Aufstehen und noch ein letztes Mal verliert sich mein Blick nach unten.
In ganz Europa funkeln mir die großen Städte und ein dichtes Netz von Lichterfäden entgegen. Wie unendlich beschaulich zeigt sich die Erde zu meinen Füßen. Alles Glück und aller Schrecken sind unter einer schwarzen, Eintracht verheißenden Decke verhüllt.
Der Türsteher versprüht Ungeduld, blickt suchend um sich. „Nummer 117 ist an der Reihe. Nummer 117?!“
Ich trete unsicheren Schrittes ans Tor und ringe um Haltung. „Entschuldigen Sie bitte, ich war gedanklich abgeschweift. Aber sagen Sie mir doch, was ist geschehen, warum ist unsereins hier?“
Petrus – so steht es auf seinem Namensschild – blättert wortlos in seinem Ringheft, liest und runzelt die Stirn.
„Äh …, einen Moment, es gibt da, mmh …“ Wieder verstummt der Greis und mit jeder Zeile, die er überfliegt, scheint sich seine Miene zu verdüstern.
„Mmmh …, da ist anscheinend etwas schiefgelaufen. Es macht den Eindruck, dass da zwei Lebensläufe durcheinandergeraten sind.“ Er nickt: „Ja, es ist leider so: Du bist zu früh gekommen, das wäre der Termin deines Bruders Joe gewesen.“
Meine Knie beginnen zu zittern, das Blut weicht mir aus den Adern. „Aber, was heißt durcheinander, wie ist so etwas möglich?“
Petrus kratzt sich nervös am Kopf und scheint zögerlich zu einem Entschluss zu gelangen. „Es ist mir ein wenig peinlich, aber du musst nochmals zurück. So will es die Hausregel, es tut mir leid. Solche Missgeschicke sind unangenehm, sehr sogar, aber sie kommen leider hin und wieder vor.“
Peinlich? Missgeschicke? Unangenehm? Mein Kopf scheint nächstens zu explodieren …
Ich möchte eine Erklärung und versuche mich zu wehren, doch die Ohnmacht droht meine Stimme zu ersticken.
„Was heißt das?“, stoße ich hervor, „was bedeutet dies für Joe und mich? Muss er jetzt …?“
Petrus versucht zu beschwichtigen: „Bleib ruhig, du wirst schon sehen, alles kommt gut.“
Der Klingelton meines Handys unterbricht jäh seine Plattitüde.
„Hörst du“, meint der alte Mann, „man verlangt nach dir, geh schon ran.“

* * *

Vibrierend tanzt mein Mobiltelefon zu Purple Rain auf meinem Arbeitspult und reißt mich aus meiner Mittagsruhe: Johanna.
„Schatz, denk daran, pünktlich um 18 Uhr in der Europaallee. Und vergiss nicht, vorher noch unsere Flugtickets abzuholen!“
„Meinst du wirklich, dass wir zu dieser Feier gehen sollen?“ Ein unheilvolles Gefühl beschleicht mich. Es ist, als würde mir jemandes Schicksal in die Hand gelegt, ohne mich wissen zu lassen, wozu und von wem. „Wir müssen morgen sehr zeitig raus, die Kanaren erwarten uns.“
Doch ich beiße auf Granit. „Keine Diskussion, mein Lieber. Es ist Joes Fünfzigster und da können wir nicht kneifen. Also sei pünktlich, enttäusche mich nicht, tschüüüüss.“
Verunsichert und deprimiert lehne ich mich in meinem Bürosessel zurück und wische Staub, von dem ich nicht weiß, woher er kommt, vom rechten Hemdsärmel. Mich schaudert, irgendetwas stimmt hier nicht.

Ein Blick auf die Armbanduhr: Es ist halb sieben.
Gelächter und lautes Stimmengewirr dringen vom Garten um die Hausecke.
„Schau mich an.“ Mit kritischem Blick zupft Johanna meine Krawatte zurecht. „Jetzt stell dich nicht so an. Joe freut sich und wir müssen ja nicht ewig bleiben.“
Joe. Mein Bruder Joe. Wieder meldet sich mein Unterbewusstsein, lässt mein Innerstes gefrieren und ich weiß nicht warum.
„Liebling, worauf wartest du?“
Ich zucke zusammen, blicke stumm in die Augen meiner geliebten Frau und klingle kurz an der Tür.

 

 

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