Von Julia Kalchhauser

Ein Geräusch verrät mir, dass sie wach ist. Jetzt dauert es bestimmt nicht mehr lange, bis sie mich holt. Zumindest hoffe ich, dass sie heute mich auswählt. Gestern hatte sie mich schon in der Hand und dann die Entscheidung noch geändert und mich wieder zurückgestellt. Eine herbe Enttäuschung war das, aber über so etwas komme ich immer sehr schnell hinweg. Um mich herum sind lange nicht alle in so aufgeregter freudiger Erwartung. Den meisten ist nicht einmal anzumerken, ob sie wach sind oder nicht. Bewegungslos, eiskalt und glatt wie, nun ja, Porzellan stehen sie um mich herum. Manche klein und filigran, andere hoch und schlank, und wieder andere massiv und voluminös. Die ganz großen sind mir etwas unheimlich. Die stehen aber glücklicherweise weiter hinten im Schrank, nicht wie ich immer in der ersten Reihe.

 

Ich höre wie im Nebenraum Wasser aufgedreht wird. Sie wäscht sich wahrscheinlich gerade das Gesicht. Ein Gesicht, in das ich mich auf den ersten Blick verliebt habe. Damals auf dem kleinen Markt in Griechenland. Kostas, mein Schöpfer, hatte uns alle dort einmal in der Woche zum Verkauf angeboten. Der Tisch wurde niemals leerer. Kostas war ein fleißiger Mann, seine großen sanften Hände immer irgendwo mit Ton oder Farbe bekleckert. Leichte Risse in der Haut um seine Knöchel verrieten die Arbeit mit der nassen Masse, mit Farben und Chemikalien. Wenn er einen seiner Lieblinge verkauft hatte, gab es sogleich einen neuen, den Kostas an dessen Stelle auf dem Tisch platzierte.

Die Spannung, ob ich an jenem Tag ausgesucht und mitgenommen werden würde, war oft kaum auszuhalten. Ich kann mich an gemunkelte Geschichten erinnern, so lange ich denken kann. Frida die Müslischale, von der ich alles weiß was ich weiß, erzählte mir Geschichten darüber, was einem widerfährt, wenn man die heimelige Gruppe verlässt. Wie es einem „da Draußen“ so ergehe. Ein paar dieser Geschichten flößten mir Angst ein, aber die Mehrheit waren bunte Träume von aufregenden Leben. Ich glaube Frida neigte dazu etwas zu übertreiben.

 

Die meisten Touristen, die den Markt Woche um Woche fluteten, hatten eine sonderbare Art neue Dinge zu betrachten. Es machte oft den Anschein, als würden sie eher am letzten Tag schnell gezwungenermaßen irgendetwas suchen, das sie zuhause dann an den Urlaub erinnern würde, wobei es jedoch oft vollkommen belanglos erschien, was dieses etwas war. Ich sah so viele Augenpaare, die uns hastig überflogen, oft leicht gelangweilt oder genervt, dann Kostas‘ Handwerk runter machten, indem sie den Preis drücken wollten. Damit waren sie bei ihm allerdings an der falschen Adresse. Viele wussten nicht zu würdigen wieviel Sorgfalt und Hingabe Kostas in seine Arbeit steckte. Handgemachte Kunst, jedes Stück ein Unikat. Er blieb stets freundlich, ließ aber jeden bestimmt wissen, dass der Wert seiner Lieblinge nicht verhandelbar war. Erst als die enttäuschten Schnäppchenjäger sich dann in Eile abwandten um weiterzuziehen, entschlüpfte Kostas öfters ein gemurmeltes Schimpfwörtchen unter dem grau melierten Bart, während er uns wieder liebevoll auf dem Tisch zurecht rückte. Frida regte sich dann immer übertrieben auf. In acht Sprachen konnte sie den Leuten mittlerweile hinterher schimpfen. Ich musste dann immer kichern, weil ich wusste, dass sie es nicht ganz ernst meinte. So viel Temperament traut man einer Müslischale, bemalt mit meditativen marinblauen Wellen wirklich nicht zu.

 

Ich weiß noch, als wäre es gestern gewesen, wie heiß es an jenem verhängnisvollen Tag war! An diesem traurigsten und zugleich besten Tag meines Lebens. Eine stämmige Frau mit würsteligen Fingern hatte schon eine gute Weile vor unserem Tisch verbracht, versucht zu feilschen. Scheinbar wahllos zuerst den dicken Jumbo hochgehoben, dann die kleine Mokka, dann die elegante Vase. Ein Kunstwerk nach dem anderen, jedes wieder abgestellt. Als sie sich ohne Verhandlungserfolg endlich wegdrehte, passierte das Unglück: die runde Frida, meine vertrauteste Kumpanin, wurde von der breiten Hüfttasche der noch breiteren Dame einfach vom Tisch gefegt. Wie in Zeitlupe musste ich dabei zusehen, wie meine Lehrmeisterin und Schwester ohne jeglichen Schutz zu Boden fiel und dort in tausend Stücke zerbrach. Bei dem Geräusch, das ich vernahm, war ich nicht sicher, ob es sich um Frida oder um mein eigenes Herz handelte.

 

Noch in fassungsloser Traurigkeit sah ich dann plötzlich SIE. Am Nachbarsstand bestaunte sie die aus Olivenholz geschnitzten Küchenutensilien. Sie hatte ein Funkeln in ihren Augen, das sie neugierig wirken ließ, was wiederum mich neugierig machte und welches mich aus meiner Schockstarre lockte. Die meisten Marktbesucher betrachteten uns als Ware. Einer nach dem anderen wurde kurz unsanft geschnappt, im Kreis gedreht, auf den Kopf gestellt um ein Preisschild zu erspähen, und dann genauso grob wieder abgestellt. Doch sie war anders. 

 

Als sie sich vom Stand mit den Olivenhölzern losgerissen hatte und zu unserem kam, blieben ihre Augen schnell auf mir liegen. Als sie mich hochhob, behutsam und liebevoll, legte sich ein breites Lächeln über ihre Lippen. Ihre schmalen Finger strichen zärtlich einmal meine Innenseite entlang, dann einmal außen herum, dann fühlte sie wie gut ich in ihrer Hand saß: mein Umfang war wie geschaffen für die Größe ihrer Hände. Sie schaute nicht nach dem Preis, sondern blickte zufrieden zu Kostas, nickte ihm freudig zu und überreichte mich vorsichtig. Ich war so aufgeregt wie noch nie zuvor in meinem bis dahin recht kurzen Leben. Die Tragödie um Frida wie weggeblasen in dem Moment. Was würde mich erwarten? Wohin würde sie mich mitnehmen? Würde sie mich oft so sanft berühren wie gerade eben? All meine Gedanken purzelten wild durcheinander, während Kostas mich frisch poliert in schützendes Papier wickelte und ich fortan nur noch ahnen konnte, wo ich mich befand. 

 

Ich höre sie jetzt ganz nah, sie muss schon in der Küche sein, es kann also nicht mehr lange dauern. Das dumpfe Geräusch eines gekünstelt fröhlichen Sprechers im Radio dringt durch die Schranktür. Zum Radiogeschwätz mischt sich nun das Gurgeln der Kaffeemaschine auf dem Herd. Da wird die Dunkelheit prompt beiseite geschoben, als die Kastentür aufgeht und ich ihr müdes, aber um nichts weniger zauberhaftes Gesicht sehe. Sie greift mich genauso sanft und sorgsam wie damals, als ich sie zum ersten Mal spüren durfte, und schließt ihre gesamte Handfläche um meinen Bauch. Etwas kühl sind ihre Finger aber gleich werde ich sie wärmen. Gekonnt gießt sie in hohem Bogen eine großzügige Menge Kaffee in meinen Bauch. Ein wohliges Kitzeln erfüllt mich jedesmal in diesem Moment. Die heiße Flüssigkeit erhitzt meinen Körper in wenigen Augenblicken und die Wärme gebe ich direkt an ihre Haut weiter. Sie führt mich zu ihren blassen Lippen und nimmt einen vorsichtigen Schluck. Ich genieße jede Millisekunde ihrer Lippen an meinem Hals.  

 

Gedankenverloren stellt sie sich ans Fenster und schaut in den dämmrigen Winterhimmel. Genießt sie meine Wärme genauso wie ich ihre Berührungen? Das ist Vollkommenheit. Hierfür wurde ich gemacht und nichts anderes möchte ich für den Rest meines Lebens tun. Ihre Hände und Lippen spüren, ihren Start in den Tag verschönern, sie wärmen und alles andere rundherum für den Moment vergessen. Sogar den mühsamen Radiomoderator. Und wenn wir so gemeinsam schweigend den Anbruch des Tages genießen, bin ich mir sicher, dass auch sie oft an den Tag zurückdenkt, an dem wir uns gefunden haben. 

 

Abrupt stellt sie mich in die kühle Senke des Waschbeckens und ein eiskalter Strahl Wasser von oben löscht all meine Tagträumereien. Nicht ganz dreinundzwanzigeinhalb Stunden, dann sind wir wieder vereint. Ich kann‘s kaum erwarten!

 

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