Von Regina W. Egger

Das Zimmer ist groß und hell. 

Ich kann durch das Fenster in den Garten sehen. Es ist einen Spaltbreit geöffnet und der Vorhang bewegt sich sacht. 

Ein Segel? Ein Mast? Segel-mast. 

Worte kommen und gehen, bewegen sich schwebend. Lodern auf, züngeln, zucken. Und verlöschen. 

Und noch ein Wort: Take-lage. Was bedeutet es? 

Ich schließe die Augen. Ganz fest, bis ich die Sternchen sehe. Dann öffne ich die Augen wieder. 

Ich sehe blühende Zweige vor dem Fenster und höre von fern Vogelgesang und Stimmen. Leise, verhalten. 

Warum bin ich hier untergebracht? Unter-ge-bracht. Her-ge-bracht. 

Bringen. Brachte. Gebracht. 

Ja, so geht das, da bin ich mir sicher. Ich habe es oft geübt mit den Kindern, vor allem mit Eduardo. Mit ihm musste man viel üben.

Aber warum bin ich hier? 

Weshalb steht da mein alter Apothekerschrank? Der müsste doch in meinem Wohnzimmer sein? Das hier ist nicht mein Wohnzimmer mit den dunklen Möbeln und den Vitrinen, in denen ich die ganz alten Bücher aufbewahre. 

Hier sind die Möbel weiß gestrichen und die Leisten sind aus hellem Holz. 

Die Schubladen des Apothekerschranks hat man mit braunem Paketband zugeklebt. Das sieht hässlich aus. Das kann auf keinen Fall so bleiben! Ich muss es Laetitia sagen. 

Laetitia. Sie hat mich hierhergebracht. Und ihr Mann. Paul? Ja, Paul heißt er, glaube ich. Zumindest sieht er so aus, als könnte er Paul heißen. 

Gutmütig sieht er aus. Alle, die Paul heißen, sehen gutmütig aus. 

Warum hat Laetitia mich hierher verfrachtet? Ver-frach-tet. Ich bin Frachtgut. Gerettet von einem sinkenden Kahn. 

„Du kannst unmöglich mehr in deiner alten Wohnung bleiben!“, hat Laetitia gesagt. 

Meine Wohnung ist ein sinkender, alter Kahn.

Ach, alles Blödsinn, was mir da so in den Sinn kommt. Blöd. Sinn. Sinn-los. 

Irgendetwas ist in meinem Kopf, das da nicht hingehört. Ich glaube, es ist ein Kissen, ein weiches, weißes Daunenkissen, das sich über mein Gehirn gelegt hat. Ob das möglich ist? Zumindest fühlt es sich so an. Das Kissen verhindert, dass ich klar denken kann. 

Ich taste mit den Händen die Decke entlang. Ich befühle die Struktur des Stoffes. Kleine Unebenheiten. Irgendwie fühlt es sich rau an. Billige Baumwolle, kein Damast. Sicher nicht gebügelt. Es ist nicht mein Bettzeug. Es duftet auch nicht so frisch nach Lavendel wie meines. In meine Wäsche lege ich Lavendel, in Seidenpapier eingeschlagen, wegen der Motten. Und alles wird stets gebügelt. Frau Lipovec macht das.

 

Meine Hand tastet weiter, befühlt etwas Weiches gleich neben meinem Oberschenkel. Es vibriert leicht. Ach, das ist Verdi! Wie schön! Sie haben mir also auch den alten Kater mitgegeben. 

Er ist also auch Frachtgut. Oder Strandgut? 

Wir sind an Land gespült worden, der alte Kater und ich. Wir sind hier gestrandet. 

Verdi. So habe ich ihn genannt, wegen der grünen Augen und wegen des Opernkomponisten. Verdi, mein Lieblingskomponist. 

Aber das ist alles schon so lange her.

Er muss also alt sein, der Kater. Wie lange habe ich ihn wohl schon? Sein Fell fühlt sich ein wenig struppig an, aber er schnurrt. Er ist zufrieden.

 

Ich taste zum Nachttisch. Da liegt etwas. Ein kleines dünnes Büchlein. Ich nehme es an mich. Dunkelrot. 

Warum liegt es da und wer hat es hergelegt? 

Ich schlage es auf. Eine Frau mit hellen Augen und grauen Haaren schaut mich an. 

Franziska Perisutti steht da. 

Die Schrift verschwimmt ein wenig vor meinen Augen, aber ich kann sie lesen. 

Franziska Perisutti. Das ist mein Name. Ist das mein Reisepass? Aber der müsste doch außen grün sein, und der hier ist rot. Da stimmt etwas nicht. Die Frau auf dem Foto ist mir auch fremd. Sie müsste doch schwarzes Haar haben! Und ein viel jüngeres Gesicht. Nicht so viele Falten rund um die Augen und an der Oberlippe. Franziska Perisutti. Ja, so heiße ich. Hier steht auch mein Geburtsdatum. Es ist der 8. Juni 1930. Und welches Jahr haben wir jetzt? Es ist mir entglitten. 

Was ich sicher weiß, ist, dass ich fünf Kinder geboren habe und dass Eduardo bereits tot ist. Er war der Jüngste, lange ersehnt nach den vier Töchtern durch meinen Mann Raul. Raul? Ja, das war mein Mann. Raul. Vielleicht heißt Laetitias Mann gar nicht Paul? Paul, das klingt so ähnlich wie Raul. Und Raul war auch gutmütig, am Anfang zumindest.

Die Tür wird leise geöffnet. Laetitia steckt den Kopf durch den Türspalt.

„Bist du wach?“, flüstert sie. 

Und weil ich nicht antworte, fragt sie noch einmal: „Nonna, bist du wach?“

Sie nennt mich Nonna. 

Raul nannte mich Francesca. 

Und die Kinder, als sie größer wurden, La Mamma. Mama allein genügte ihnen dann nicht mehr. 

Niemand sagte Franziska zu mir, zumindest erinnere ich mich nicht daran. 

Aber Franziska Perisutti steht in dem Büchlein mit dem roten Umschlag, meinem Reisepass. Also ist Franziska mein Name.

Ich nicke Laetitia zu. Ich versuche etwas zu sagen, aber meine Lippen sind trocken, ich probiere sie mit der Zunge zu befeuchten. Ich bin sicher, dass ich aus dem Mund stinke. Das ist mir peinlich. 

Laetitia kommt zu mir ans Bett. Ich halte die Hand vor meinen Mund, ich möchte nicht, dass sie riecht, wie sehr ich aus dem Mund stinke. 

Sie hält ein Tablett mit einer dampfenden Tasse und einem Glas Wasser. Sie stellt es auf dem Nachttisch ab. Sie nimmt das Glas und führt es an meine Lippen. Ich trinke gierig und sie lacht ein wenig. „Na, na, Nonna! Du säufst ja, als wäre es Bachwasser!“ 

Sie zwinkert. Bachwasser? Warum sagt sie das? Und warum zwinkert sie mir zu? Der Satz kommt mir bekannt vor. Habe ich das früher so gesagt? Oder Raul? Zu den Kindern? Zu den Enkeln? 

Wie viele Enkel habe ich eigentlich? Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur, dass Laetitia Beatrices einziges Kind ist. Geboren nach vier Fehlgeburten. Deshalb Laetitia. Die Freude. Aber die anderen? Wie viele Kinder haben die? Jungen oder Mädchen? Ich kann es nicht genau sagen.

Eduardo hatte keine Kinder. Er war noch jung, als er starb. Sie brachten ihn mir ins Haus. Er war blass und sein Haar war nass und klebte am Kopf, ringelte sich in feuchten Locken an den Schläfen. Wir haben ihn im Studierzimmer auf das Sofa gelegt, auf dem Raul immer sein Mittagsschläfchen hielt. 

Danach habe ich zu trinken begonnen, anfangs nur ein kleines Glas Cognac, zur Beruhigung. Später auch eine Flasche Wein für mich allein, abends, wenn die anderen schon schliefen. Trotzdem bin ich ziemlich alt geworden. Unkraut verdirbt eben nicht.

Laetitia streicht mir über den Kopf wie einem Kind. 

„Nonna“, flüstert sie. Es klingt liebevoll. Ich weiß, dass Laetitia mich mag. Aber ich sage nichts. 

Ich kann nichts sagen. In meinem Kopf wirbeln so viele Worte und ich weiß nicht, welche die passenden sind, die ich an sie richten sollte.

Jetzt setzt Laetitia sich auf mein Bett und schiebt den Kater ein wenig zur Seite. Der aber ist hartnäckig, der alte Verdi, und rollt sich neuerlich zusammen.

„Nonna, meine Nonna! Wie geht es dir?“

Laetitia schaut so traurig aus. Beinah kommt mir vor, als glänze eine kleine Träne in ihrem Augenwinkel. 

Dann reißt sie sich zusammen, wird fröhlich, und verkündet: 

„Heute Nachmittag kommt deine Pflegerin. Direkt aus der Slowakei mit dem Bus. Zuzana heißt sie.“

Ich nicke und sie geht.

 

Zuzana ist jung. Sie ist klein und zierlich und sie hat schiefe Zähne. Keines meiner Kinder hatte je schiefe Zähne und auch Laetitias Zähne sind wie Perlen. 

Zuzana spricht nicht gut Deutsch und ich bin nicht sicher, wie viel sie versteht. Sie nickt zu allem, was Laetitia ihr erklärt. Aber sie wirkt dumm auf mich. Ich glaube, ich werde sie nicht mögen.

Jetzt sitzt sie an meinem Bett und füttert mich mit Suppe. Ich habe noch gar nicht hinuntergeschluckt, da hält sie mir schon den nächsten vollen Löffel hin. Ich schiebe ihn mit meiner Hand weg und drehe mich zur Seite.

„Essen. Noch ein bisschen. Ein Löffel noch.“

Aber ich vergrabe mein Gesicht im Kissen und warte, dass sie geht. Ich werde nicht mehr hinschauen, bis sie endlich weg ist. 

Sie bettelt noch immer. „Essen. Ein Löffel noch.“

Aber ich bleibe tief in das Bettzeug vergraben. Vergraben. Begraben. Warum bin ich noch nicht tot? Warum bin ich noch immer hier? Und wo bin ich hier?

Ich weiß, dass ich gestürzt bin. In meiner Wohnung. Nicht das erste Mal. Aber diesmal bin ich zwei Tage dort gelegen, weil ich den Notfallknopf im Nachtkästchen versteckt habe. Den brauche ich nicht, dachte ich. Ich bin noch nicht so alt. Paul hat gelacht, als ich das sagte. Ich habe es genau gesehen. Er hat gegrinst und sich weggedreht. Vielleicht ist Paul gar nicht so gutmütig, wie ich glaubte. Vielleicht ist er sogar verschlagen. Ich sollte ihm nicht trauen.

„Bitte, noch ein bisschen Suppe!“ Zuzana fleht mit einer seltsam hohen Stimme.

„Geh weg!“, murmle ich in das Kissen und weil sie mich nicht versteht, hebe ich den Kopf etwas an und sage es ganz laut und deutlich: „Geh weg!“

Ich warte. Sie scheint zu zögern. Dann höre ich, wie sie selbst die Suppe schlürft. 

Später spricht sie mit Verdi in ihrer Sprache. Slowakisch. Es klingt freundlich, wie sie mit ihm spricht.

Laetitia kommt ins Zimmer, ich kann sie an ihren Schritten erkennen. Ich halte das Gesicht noch immer abgewandt.

„Sie hat alles aufgegessen“, höre ich Zuzana sagen. 

Und Laetitia entgegnet erleichtert: „Das ist gut. Sie braucht es, damit sie zu Kräften kommt.“

Das gefällt mir. Ich kichere und drehe mich zu Zuzana hin. Jetzt kommt sie mir auf einmal gar nicht mehr so hässlich vor. Ich würde ihr gerne zuzwinkern, wenn ich nur wüsste, wie das geht. Meine Gesichtsmuskeln scheinen mir nicht mehr zu gehorchen und so lasse ich es. Ich versuche stattdessen freundlich zu schauen. Es funktioniert und sie lächelt zurück. Vielleicht ist Zuzana gar nicht dumm. Vielleicht ist sie sogar schlau. Bauernschlau. Und sie könnte zu meiner Verbündeten werden. Jedenfalls haben wir jetzt ein kleines Geheimnis.

 

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