Von Valentina Vahle

Passend zum ärztlich errechneten Termin erblickt sie das Licht der Welt. Zeitgerecht – da komme ich das erste Mal ins Spiel. Nun beginne ich – nicht gänzlich, aber ein Teil von mir, der für sie bestimmte Teil – sie zu begleiten. Klein und faltig ist sie, kann ihre Äuglein kaum offenhalten, so ungewohnt ist die neue Helligkeit. Sie hat alle Zeit der Welt. Und da, schon wieder. Sie merken, ich spiele eine bedeutsame Rolle, und zwar von Beginn an. Auch, wenn Sie sich dessen erst später im Leben bewusst werden, aber ich begleite Sie von Beginn an und zwar Tag für Tag, Stunde für Stunde, Minute für Minute.

Schnell wächst das kleine Mädchen heran, aus dem nahezu ständig schlafenden kleinen Bündel wird ein propperes, rosiges kleines Mädchen, das sich mit ihren großen Kulleraugen umschaut und ihre neue Umgebung betrachtet. Aufgeregt robbt sie umher, um ihre Umgebung nicht nur zu betrachten, sondern auch zu begreifen, und zwar am liebsten mit Hand und Mund. Ihre Eltern Sorgen sich, wäre es nicht längst an der Zeit, dass sie krabbelt oder gar die ersten Schritte macht? Und ja, da bin ich wieder. Aber schon hier frage ich mich, oft nicht das erste Mal, was die Eltern eigentlich meinen. Hängt es nicht vielmehr an der natürlichen Entwicklung des kleinen, wundervollen Mädchens als an mir? Ich spüre einen leichten Hauch von Anschuldigung. Nein, ich bin mir sicher, dass ich das Mädchen, wie auch Sie und alle anderen Menschen, begleite, aber mehr auch nicht. Irgendwann fängt die Kleine an zu krabbeln, zu laufen, wie alle Kinder es natürlich irgendwann einmal – die einen eher, die andern später- machen. Die Eltern sind beruhigt, schmunzeln manchmal gar über ihre anfängliche Ungeduld, es geschehe einfach alles zu seiner Zeit. Nun ja, ich finde, das trifft es ganz gut.

Bald geht das Mädchen in die Schule und kann es kaum abwarten, dass die Zeit vergeht, bis es endlich wieder Geburtstag hat und ihr neues Fahrrad bekommt! Sie wirft mir vor, ich würde mich ziehen, lang wie Kaugummi, dabei mache ich nur meine Arbeit, nicht schneller als vorher, nicht langsamer als sonst, immer schön gleichmäßig, wie es meine Aufgabe ist, wie ich bin. Dann ist sie bald oft wütend auf mich, während sie im Unterricht darauf wartet, dass endlich Schulschluss ist oder nachmittags, wenn sie darauf wartet, endlich zu ihrer Freundin zu dürfen. Oft fragt sie sich, wie sie mich bis dahin totschlagen kann. Ich weiß, sie meint es nicht so, auch wenn es sich wirklich übel anhört. Wie gesagt, ich kann nichts dafür, ich mache nur meine Arbeit. Tagaus, tagein.

Aber dann plötzlich wendet sich das Blatt, das Mädchen hat einen Freund, verbringt jede freie Minute mit ihm, jedes Mal traurig, wenn sie ihn verabschieden muss. Und dabei wundert sie sich doch, wie es sein kann, dass die Zeit so schnell verfliegt. Nun ja, auch daran trage ich keine Schuld. Aus ihrem Mund klingt es wieder wie ein Vorwurf, aber auch hier mache ich nur meine Arbeit, gleichmäßig wie immer.

Aus dem Mädchen ist nun eine junge Frau geworden, erfolgreich im Job, glücklich in einer Beziehung, jedoch nicht immer in der gleichen. Gerne trifft sie sich mit Freunden, verbringt ihre Zeit mit Reisen, Sport und Träumerei. Ob sie nicht mal sesshaft werden möchte, mit Haus, Mann und Kind, fragen ihre Eltern, fragen ihre Freunde, die Zeit laufe ihr davon! Ich laufe nicht davon, ich laufe mit ihr, aber meine Sicht unterscheidet sich ohnehin von der der anderen. Aber die Frau denkt nicht daran, genießt ihre Zeit, ihr Leben, ihre Freiheit und wie im Flug ziehen die Jahre dahin. Plötzlich entscheidet sie sich doch für das traute Heim und das Familienglück, aber sie klagt nun über das Rennen gegen die Zeit. Das muss ich vehement verneinen, sie kann ja nun gar nicht gegen mich rennen, denn ich laufe immer mit ihr, in gleichsamen Schritten nebenher. Ich bin ihr treuer Begleiter.

Aus ihrer Sicht gewinnt sie den Kampf nun doch, mit der Zeit füge sich alles, bekräftigt sie. Doch nun mit Kindern, Mann und Job, mit ihren Freunden und der Familie, ihren Hobbys und Verpflichtungen vergeht die Zeit nicht nur wie im Flug, sie rast dahin und wie über Nacht – ich verspreche, ich mache noch immer einfach nur meine Arbeit, mit immer dem gleichen Rhythmus – sind die Kinder groß, die ersten Enkel haben das Licht der Welt erblickt. Oft schaut sie nachdenklich ihren Mann und ihre Kinder an, wie schnell die Zeit vergangen ist, wie schnell die Zeit vergeht! Und bei jedem Blick in den Spiegel sieht sie sich, aber erkennt sich kaum wieder in der alternden Frau. Sie weiß nicht, wo die Zeit geblieben ist. Ihre Eltern gibt es schon nicht mehr, jedoch fragt sie sich immer wieder, ob sie genauso empfunden haben. Ich verspreche es ihr wie Ihnen, ich bin immer da. Immer da in gleichmäßigem Schritt, auch wenn ich Ihnen mal schleichend, mal rennend und mal fliegend erscheine.

Sie spürt Veränderungen, Müdigkeit, die Kräfte schwinden, immer wieder kommt ihr in den Sinn, dass ihr die Zeit durch die Finger rinnt. Sie lädt ihre Familie ein, ihre Freunde, sie geht noch einmal auf Reisen, möchte jede kostbare Minute nutzen, weil sie spürt, dass ihre Zeit bald ein Ende hat. Dabei habe ich natürlich in diesem Sinne kein Ende, mich gab es ewig und wird es ewig geben. Für Sie bin ich weiterhin da, wie für die vielen anderen Menschen auch. Aber ihre Zeit, die für sie bestimmte Zeit, da hat sie tatsächlich Recht, hat bald schon ein Ende.

Sie bittet um mehr Zeit, überlegt immer wieder, was sie anders gemacht hätte, besser hätte machen könnte. Sie stellt sich die Fragen, die sich jeder irgendwann stellen wird, die auch Sie sich irgendwann stellen werden, wieviel Zeit ihr noch bliebe, was sie mit ihr noch am sinnvollsten anfange, ob sie ihre Zeit richtig genutzt habe, wieviel Zeit sie verschwendet habe. Letztlich kommt sie zum Schluss, dass ihre Zeit einfach zu wenig war. Das ist auch für mich, für den Teil von mir, der für Sie bestimmt ist, einer der schwierigsten Momente. Ich werde manchmal gelobt, häufig verflucht, oft beschimpft und angebettelt, ich werde verschwendet und totgeschlagen, man verlangt von mir Wunden zu heilen, nützlich sein und Rat zu bringen. Meist unterstell man mir zu kurz oder zu lang zu sein. Aber wissen sie was? Ich mache immer die gleiche Arbeit, ich gebe immer mein bestes, ich bin, was ich bin, in immer gleichem Rhythmus. Ein treuer Begleiter, gewiss niemandem böse gesonnen. Entscheidend ist, was Sie aus mir machen.

Nun nähern sich auch die letzten Momente von mir und ihr, ich muss sie verlassen, das erste, einzige und letzte Mal, auch wenn ich sie ihr Leben lang begleitet habe. Sie ist froh, dass sie vor ihrem Mann gehen muss, gehen darf. Sie schließt ihre Augen und spürt, dass ihre Zeit gekommen ist. Dabei ist es genau genommen umgekehrt, ihre Zeit ist gegangen. Nun habe auch ich ein Ende, nein, nicht ganz, nur der für Sie bestimmte Teil. Ich mache weiterhin meine Arbeit, tagaus tagein, bin weiterhin da, für die anderen Menschen, für Sie. Mich gab es ewig und wird es ewig geben.

Nun, was bin ich? Zeit ist Leben. Leben ist Zeit.

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