von Eva Fischer 

In der Regel steht man mit beiden Beinen auf der Erde und schaut seinem Gegenüber in die Augen. Man vergisst ganz, wie es ist, wenn man den Menschen auf die Köpfe sehen kann.

Es ist Spätherbst. Zwar habe ich eine Jacke an. Doch mir wird allmählich kalt. Mein Bewegungsradius ist eingeschränkt und ich habe keine Ahnung, wie ich da wieder herunterkommen soll. Wer nimmt schon sein Handy mit, wenn er auf das Garagendach steigt? Ich kann immer noch nicht glauben, was passiert ist.

Durch das Fenster sehe ich meine Kinder in ihrem warmen Kinderzimmer sitzen. Sie winken mir fröhlich zu. Ich winke zurück, will sie nicht beunruhigen.

Da kommt der Postbote, zieht ein Paket aus seiner Tasche und schellt. Ich bin gespannt, ob Felix und Florian ihm die Tür öffnen. Felix ist seit September im ersten Schuljahr und der King. Sein Bruder Florian ist zwei Jahre jünger und möchte endlich auch in die Schule gehen. Er macht alles nach, was sein großer Bruder ihm vormacht.

Es dauert tatsächlich eine Weile, bis sich die Tür öffnet. Felix zeigt auf das Dach, wo ich stehe. Der Postbote kommt zur Garage.

„Frau Trautmann, was machen Sie denn da auf dem Garagendach? Soll ich die Feuerwehr holen?“

Ich zucke mit den Achseln und sehe schon die Überschrift im Kommunalteil:

„Postbote fragt Kinder, wo Mama ist. Die zeigen auf das Garagendach. Mutter von zwei Kindern muss wie eine Katze durch die Feuerwehr gerettet werden.“

Vielleicht hat eine Nachbarin eine hohe Leiter und kann mich herunterholen? Kann man dem Postboten zumuten, überall an den Türen der Häuser auf der Straße zu schellen? Auf gar keinen Fall dürfte er bei den Viscontis klingeln, auch wenn ich genau weiß, dass sie so eine hohe Leiter besitzen.

Während ich noch überlege, wie ich ohne öffentliches Aufsehen gerettet werden kann, hat der Postbote schon sein Handy gezückt und die 112 gewählt.

Eine Viertelstunde später höre ich das Tatütata. Meine Söhne sind ganz aufgeregt, aber auch für die Nachbarn, Alt und Jung, ist es das Startsignal, das Haus zu verlassen, um dem Spektakel beizuwohnen. Sogar von oben erkenne ich ihr höhnisches Grinsen.

Der Feuerwehrmann fährt die Leiter aus. Er reicht mir galant die Hand. Der Weg nach unten ist kurz, zu kurz. Ich möchte am liebsten im Boden versinken.

„Unterschreiben Sie hier bitte. Sie werden noch von uns hören. Sind Sie durch einen Unfall oder Gewaltanwendung einer zweiten Person in diese Lage geraten?“

Ich schüttle den Kopf, packe mir meine Kinder und eile zurück ins Haus.

„Können Sie uns sagen, Frau Trautmann, was Sie auf dem Dach wollten?“, ruft mir der neugierige Rentner von Gegenüber hinterher.

„Niemals die Leiter für den Abstieg vergessen, wenn man zu hoch hinaus will, Petra!“

Ich erkenne Giulias Stimme. Ich hasse diese Schlange! Soll ihr Mann sich mit ihr zum Teufel scheren!

Dabei fing alles so gut an.

Am 1. Juli zogen wir hier in das Haus am Stadtrand. Endlich genug Platz und ein Garten für beide Kinder. Unsere Nachbarn schauten über den Gartenzaun.

„Dürfen wir Sie zu einem Glas Vino einladen?“

Sie durften. So verbredeten wir uns für den frühen Abend. Die Sonne hatte angenehme Wärme hinterlassen. Wir nahmen auf der Terrasse unter der Markise Platz, schauten auf die prächtigen, roten Rosen und die blauen Bougainville, die an der Mauer entlang wucherten, hörten das Sprudeln des Springbrunnens, den eine Venusstatue zierte. Palmen verliehen diesem Garten endgültig ein südländisches Flair. Ich wähnte mich im Paradies, vor allem nachdem wir eine Flasche Weißwein geleert hatten. „Felicità“ erklang es aus dem Lautsprecher. Glück, ja das hatten wir gehabt mit dem Kauf dieses Hauses, mit diesen reizenden, italienischen Nachbarn. Ich empfand pure Glückseligkeit und es war klar, dass wir die Treffen wiederholten. Paolo war begeisterter Hobbygärtner und wollte mich bei unserem Garten beraten. Sie hatten eine Tochter, Chiara, im gleichen Alter wie Felix. Die Kinder verstanden sich prima. Ich glaube, Felix und sogar Florian bewunderten die langen Haare, die dunklen Augen und die zierliche Figur von Chiara. Ihre Schönheit konnte einem wirklich den Atem rauben. Die hatte sie ganz eindeutig von ihrem Vater geerbt, der ein leidenschaftlicher Tänzer war, wie sich bald herausstellte.

Anfangs tanzte Paolo mit seiner Frau, die ebenfalls eine hervorragende Tänzerin war. Mein Mann und ich hatten genauso unseren Spaß, auch wenn wir längst nicht so graziös und temperamentvoll tanzten. Irgendwann tauschten wir die Partner.

„Scusi, Wolf, mein Freund. Darf ich? Ich werde deiner Frau zeigen, wie sie ihren Körper noch besser zur Geltung bringen kann.“ Er zwinkerte meinem Mann zu. Sobald mich Paolo berührte, spürte ich, wie das Feuer in meinem Körper brannte.

Paolo war eine verbotene Frucht, von der ich nicht kosten durfte, sonst würde dies den Rauswurf aus dem neu gefundenen Paradies bedeuten.

Von nun an wich ich den Einladungen der Viscontis aus. Giulia war damit zufrieden, aber Paolo drang weiter in mich.

„Petra, du bist meine Sonne! Du darfst nicht auf unseren Festen fehlen“, sagte er.

„Wolf, ich nehme dir deine Ehefrau nicht weg“, zwinkerte er jovial meinem Ehemann zu.

 

Hatte ich anfangs viel mit Giulia geplaudert, so gingen nun auch wir beide uns aus dem Weg. Manchmal sah ich sie mit anderen Frauen zusammenstehen. Sobald ich kam, erstarb das Gespräch.

„Sie ist nicht gut auf dich zu sprechen“, sagte eine Nachbarin. „Und das ist noch untertrieben.“

„Hetzt sie über mich?“, wollte ich wissen.

Ich erhielt keine Antwort, war mir keiner Schuld bewusst.

 

Draußen wurde es kälter. Es gab keine Feste mehr. Der Wind hatte die Blätter von den Bäumen geweht. Mein Mann war auf Geschäftsreise. Da klingelte es an der Haustür. Es war ein fordernder Klingelton, wie ich ihn nur von Paolo kannte. Durch das milchige Glas konnte ich seinen dunklen Lockenkopf erkennen.

„Mach auf, Petra! Du musst mit mir auf das Garagendach klettern. Wir müssen die Blätter entfernen, sonst verstopfen sie alles und setzen unsere Garagen unter Wasser.“

„Warum ich? Warum nimmst du nicht deine Frau mit?“

„Meiner Frau geht es nicht so gut. Komm schon! Das ist schnell erledigt. Wolf ist verreist, oder? Sonst hätte ich ihn mitgenommen.“

Täuschte ich mich oder huschte ein schelmisches Lächeln über sein Gesicht?

Er legte die Leiter an unsere Garagen.

„Ladys first!“, meinte er und stieg dicht hinter mir aufs Dach.

Ich spürte seinen heißen Atem.

„Ach, Petra! Warum bist du wie dein Name, so kalt wie Stein?“

Er versuchte mich zu küssen.

„Bist du verrückt? Hier kann uns jeder sehen“, fuhr ich ihn an.

„Dann komme ich dich heute Abend besuchen?“ Er reichte mir die Hand. Ich sollte einschlagen, was ich auch tat. Mit einem Handkuss verschwand er wieder wie ein Wiesel. Ich fasste es nicht. Er hatte mich auf das Dach gelockt, nur um mir das zu sagen. Ich war vollkommen aufgewühlt und beschloss noch eine Weile auf dem Dach zu bleiben, um mich zu beruhigen. Schließlich nahm ich den Besen und kehrte die Blätter zusammen.

Als ich wieder heruntersteigen wollte, war die Leiter weg.

Wer hatte sie weggenommen?

Paolo, um mir einen Streich zu spielen?

Oder hatte uns seine Frau beobachtet?

Ich weiß es nicht und es spielt im Grunde keine Rolle mehr.

(2.Fassung)/7135