Von Miklos Muhi

Immer wenn Sepp von der Landstraße in die Hirschberg-Straße nach Issing abbog, dachte er an Erika. Sie arbeitete bis 2003 im Postamt des Dorfes, bis es geschlossen wurde, wie viele andere. Die Post bezeichnete diese dämliche Aktion als Rationalisierung. Sepp vermisste die Gespräche mit ihr immer noch und war sich sicher, dass früher oder später daraus mehr geworden wäre.

Heute war das ehemalige Postamt nur daran zu erkennen, dass der einzige Briefkasten des Dorfes an dessen Außenmauer befestigt war.

Das Leeren der Briefkasten gehörte auch zu Sepps Aufgaben. Die Ausbeute wurde von Jahr zu Jahr geringer. Wenn man keine Briefmarken im Dorf kaufen konnte, fuhr man nach Landsberg und warf die Briefe, die man im Zeitalter des Internets noch schrieb, vor Ort in den Briefkasten.

Der Rückbau der Post-Infrastruktur hinderte Behörden und Ämter jedoch nicht daran, weiterhin Briefe an den Bürger zu verschicken. Es lebe die Digitalisierung, über die immer wieder gesprochen wurde. Über langsame und teure Internetverbindungen und fehlende Glasfaserkabel verloren die Zuständigen kein Wort.

So war Sepps große Tasche schon wieder voll. Er hatte auch einige Pakete und Einschreiben, manche mit Rückschein, dabei.

Die Straßen waren menschenleer und die Stille des Ortes wurde nur hin und wieder vom Verkehrslärm der Landstraße gestört. Eigentlich so wie immer, nur etwas stiller.

Als er das erste Paket abliefern wollte, machte niemand auf. Auch beim zweiten und dritten nicht. Sein Gefühl, dass etwas nicht in ganz Ordnung war, wurde stärker, als die hauptberufliche Mutter und Hausfrau aus der Dießener Straße 5 auch nicht aufmachte.

Kein Mensch war ihm begegnet. Bäckerei und Metzgerei, die sonst immer gut besucht und (außer Sonntag und Montag) jeden Tag geöffnet waren, waren geschlossen.

Als er in der Reichlinger Straße 12 klingelte, hörte er ein Rascheln aus dem dichten Gebüsch, das neben dem Zaun wuchs und diesen vollständig verdeckte. Als das Kichern dazu kam, wusste Sepp, dass weder der unausstehliche Hund noch die freundliche Katze der Familie Maindl die Quelle war.

»Hallo Jakob«, sagte er.

Ein 8 Jahre alter Knabe kletterte daraufhin aus dem Gebüsch. 

»Guten Tag, Herr Kaltmayr«, antwortete der Junge.

»Ich habe hier ein Einschreiben mit Rückschein für deine Mutter. Kannst Du ihr bitte Bescheid sagen?«

»Kann ich nicht. Sie ist nicht zu Hause. Sie ist beim See mit den Tauchern«, antwortete der Junge grinsend.

»Dann hole bitte deinen Vater. Er darf den Rückschein auch unterschreiben«, sagte Sepp mit wachsendem Unbehagen.

»Er ist auch nicht zu Hause. Er ist im Sumpfgebiet mit einer Hälfte des Dorfes«, antwortete der Junge und sein Grinsen wurde breiter.

»Ist überhaupt jemand zu Hause?«

»Nur ich. Opa klappert die Krankenhäuser der Gegend ab. Oma ist bei der Polizei und Onkel Johann ist im Wald mit der anderen Hälfte des Dorfes.«

»Was zum Teufel ist hier los? Was machen die?«

»Sie suchen mich!«, antwortete der Junge und lachte.

 

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