Von Christian Günther

»Über Euern Fall wurde heute in der Zeitung berichtet.« Schmunzelnd reichte Romina Judith den Lokalteil. »Rechts, oberes Drittel.«

Judith nahm ihn und las die Überschrift vor: »Postbote fragt Kinder, wo Mama ist: Mit dieser Antwort hatte er nicht gerechnet.«

»Die hat er dat erste Ma gehört, glaub ich«, vermutete ich.

»Janz sischa doch. Dat hätten wa ihn ma fragen sollen.«

»… und hat ’nen Schreck für et Leben bekommen.«

»… aber richtig gehandelt.«

Zwei Tage zuvor

»Judith, Nick? Für Romina?«, tönte es aus dem Funkgerät des Wagens.

»Judith und Nick hörn«, bestätigte ich, während Judith an der roten Ampel am Werdener Markt mit einem Finger auf dem Lenkrad trommelte.

»Wo seid Ihr grad?«, wollte die Chefin wissen.

»An ’ner roten Ampel«, antwortete meine Partnerin laut.

»Da gibt es sicher einige. Etwas detaillierter: Welche genau?«

»B224, Höhe Haltestelle am Markt, Fahrtrichtung Gustav-Heinemann-Brücke«, präzisierte ich die Angabe.

»Das trifft sich sehr gut«, fand die Chefin. »Einsatzort im Wesselswerth. Betrifft Familie Steimer. Entführungsfall. Melder ist der Postbote, Herr Mill. Sondiert die Lage, bitte, und gebt mir Rückmeldung.«

»Okay, sind in zwo Minuten dort«, versprach ich, mich korrigierend, als sich Judith auffällig räusperte und bei Grün sportlich losfuhr. »Sorry, Ette fährt ja. In ’nem Minütken da.«

»Ich such Euch noch weitere Infos raus.«

Als wir in den Wesselswerth bogen, kamen diese: »Andrea Steimer, 29, getrennt. Hat zwei Mädchen, sieben und neun. Der Vater ist aus Essen weggezogen.«

»Verstanden, Romina. Erreichen Einsatzort. Tragen Schutzwesten, schalten den Funk anne Weste ein.« Ich legte das Gerät weg und steckte den zum Telefon-ähnlichen, an der Weste befestigten Funkgerät gehörenden Knopf ins Ohr und löste das Kabel, das sich mit der kleinen Antenne verhakt hatte. Es musste nicht jeder oder jede Unbeteiligte die Kommunikation aus dem Revier mitverfolgen.

Der Postbote stand vor dem Eingang des Mehrfamilienhauses. Kein Parkplatz in der nahen Umgebung frei. So stellte Judith den 3er-BMW in einer Garageneinfahrt ab, den Gehweg blockierend, etwa zwanzig Schritte vom Boten entfernt.

»Dürfen et ja, ne?«, meinte sie.

»Tatsächlich?«, fragte ich. »Seit wann?«

»’ne Gesetzesänderung. Trat heut in Kraft.« Sie suchte ihren Dienstausweis hervor und überquerte die Straße, während ich zunächst das Auto umrundete und zu ihr aufschloss.

»Bisse aber noch sehr fit für Dein Alter, Nick«, lobte sie.

»Na, mein blonder Bengel hält mich jung, nö?«, konterte ich.

Die eben neckend als blonder Bengel bezeichnete Judith zwinkerte mir zu und zeigte dem Boten den in Nordrhein-Westfalen hellblauen Ausweis. »Reiter, Kollege Fengler. Zivilfahndung Revier Kettwig/Werden. Herr Mill?«

»Jau«, bestätigte dieser. Er war merklich aufgeregt. »Ich hab ein Übergabe-Einschreiben für die Frau Steimer und deshalb geklingelt. Sind aber nur ihre Kinder da. Haben über die Sprechanlage gefragt, wer vor der Tür ist, jedoch nicht geöffnet. Als ich sie nach ihrer Mutter fragte, haben sie geantwortet, sie sei entführt worden.«

»Dein Part«, meinte Judith zu mir. »Hast doch selber zwei Mädels, ne?«

»… aber ältere.« Ich entfernte mich ein paar Schritte und drückte zweimal auf die Steimersche Schelle, wartete, bis sich eines der beiden Kinder über die Sprechanlage meldete. »Nick Fengler von der Polizei«, stellte ich mich freundlich vor.

»Die sind anders bekleidet«, kam als Antwort. Sie hatten uns demnach zur Straße – und nicht zur Hausrückseite – hin aus einem Fenster beobachtet.

»Kollegin Judith und ich sind zivil bekleidet.«

»Stimmt ja nicht. Steht doch Polizei drauf.«

»Das sind unsere Schutzwesten.«

»Im Tatort tragen die so etwas nicht.«

Ich hoffte, dass sie die ältere Tochter war, mit der ich sprach, während ich mich über die TV-Gewohnheiten der Familie wunderte. »Tatort ist fiktiv. Wir sind von der realen Polizei. Ihr habt gesagt, jemand hat Eure Mama entführt?«

Judith gab derweil die ersten Informationen an Romina weiter, ich hörte die Partnerin parallel über Funk reden.

»Ja«, antwortete mir die Tochter.

»Aus diesem Grunde sind wir hier. Wir wollen Eure Mama suchen. Ihr möchtet sie doch sicher gesund und munter wieder bei Euch wissen. Oder nicht?«

»Ja.«

Irgendwo, ein gutes Stück entfernt, parkte ein Auto ein. Der Rückwärtsgang knirschte mehrfach, als er eingelegt wurde, und der Motor war immer nur kurze Zeit etwas angestrengter zu hören. Vermutlich eine sehr enge Lücke.

Romina dankte Judith für die Situationsbeschreibung.

»Habt Ihr denn ein Bild von ihr?«, forschte ich weiter.

»Wir dürfen niemandem die Tür öffnen, wenn Mama nicht hier ist.«

»Da hat Eure Mama völlig recht, im Grunde. Nur …«

»Wie weit bisse, Nick?«, fragte Judith leise über Funk.

»Ich arbeite noch dran«, raunte ich zurück und hob die Stimme wieder: »Nur, wir bräuchten einige Informationen, die uns die Suche nach ihr erleichtern.«

»Kannst Du haben«, erwiderte die Stimme.

Hatte ich es geschafft? »Lasst Ihr uns herein? Ich meine, den Briefträger kennt Ihr doch. Der hat uns verständigt wegen der Entführung.«

Nein, nicht geschafft: »Wir reden ja miteinander.« Vermutlich sahen die Kinder schon im jungen Alter recht viele Krimis …

»Die echte Polizei hat einen Dienstausweis. Mit Bild. Daran könnt Ihr sehen, dass wir tatsächlich von der Polizei sind und Euch helfen möchten.«

»Ein Ausweis kann gefälscht sein.«

Wieso hatte ich diese Antwort erwartet?

Zwei Personen näherten sich, wie ich beiläufig mitbekam. Judith und Herr Mill sahen sie nicht, da sie ihnen den Rücken zuwandten.

»Ihr könntet das Fenster öffnen?«, schlug ich vor.

»Wir wohnen im Erdgeschoss. Das ist zu nah.«

»Habt Ihr denn etwas gesehen? Zur Entführung?«

»Ein Mann hat sie … mit schwarzem Auto …«

»Frau Steimer?«, rief in diesem Moment Herr Mill laut. »Gott sei Dank! Wir haben uns schon große Sorgen um Sie gemacht.«

»Warum?«, fragte sie den Postboten.

»Ist das Eure Mama?«, fragte ich. »Schaut heraus.«

»Romina, für Judith?«, hörte ich meine Partnerin über Funk und sah zu ihr und den weiteren Personen herüber. »Entwarnung: De Frau is wieder da.«

»Mir ist das peinlich«, gestand Herr Mill und reichte ihr das Einschreiben. »Als ich Ihre Kinder, Frau Steimer, fragte, wo Sie seien, haben diese mir geantwortet, Sie seien entführt worden. Tut mir leid, Frau Reiter, dass ich Sie völlig umsonst informiert hab. Unnötig Alarm geschlagen. Muss ich den Einsatz zahlen?«

»Keinesfalls, nein«, antwortete sie ihm. »Dat war richtig, wat Se getan ham. Et könnt ja wirklich wat Ernstes sein.«

»Entführt?« Frau Steimer senkte den Blick. »Nein, das ist mein neuer Freund. Wir haben uns vor kurzem kennen gelernt. Ist noch sehr frisch. Deshalb hab ich den Kindern bisher nichts gesagt. Vorhin nur, dass ich mal kurz weg bin. Leider war kein Parkplatz frei und Heiko hat in der Einfahrt gehalten, in der nun der BMW steht. Von uns aus schwer einzusehen, jedoch nicht unmöglich. Wir wollten uns einen guten Zeitpunkt überlegen, wann ich ihn meinen Mädels vorstelle. Zum Beispiel bei einem Ausflug zum Baldeneysee.«

»Ich glaub, der Zeitpunkt is jetzt spontan da«, meinte ich und deutete zur Gardine im Parterre, die sich bewegte. Gerade noch hatten zwei Gesichter interessiert herausgeschaut. »… und zum See is et ja nich allzu weit.«

»Fall abgeschlossen«, meinte Judith, den Motor des Wagens startend und losfahrend. »Kommen wa also zu ’em nächsten, ne?«

»Nächster Fall?«, wollte ich wissen. »Ich wüsst von kei’m?«

»Beamtinnenbeleidigung: Da hat mich vorhin doch tatsächlich so ’n alter Sack als ’nen blonden Bengel bezeichnet.«

»Dat hab ich gar nich mitbekommen. Wann war dat denn?«

»Demenz«, seufzte sie. »Massel gehabt. Dann bisse nich zu belangen.«

»Samma, Judith, wie hasse den Täter grad eben nomma betitelt?«

»Als ’nen sonst recht netten, älteren Se…ni… öhm … Herren!«

(Version 2)