Von Martina Zimmermann

 

Das neue Jahr hatte gerade begonnen, und zwar alles andere als gut. So hatten wir uns das nicht gewünscht, aber wer fragt schon danach? Unsere Familie bestand aus Mama, Papa, meinem kleinen Bruder Titus und mir.  Im Dezember wurde ich 15, also fast schon erwachsen. So fühlte ich mich auch, aber Mama und Papa sahen das manchmal nicht so. Na, ja, das sind wohl die üblichen unterschiedlichen Ansichtssachen, zwischen Eltern und Kindern. Allerdings waren sie froh, dass ich schon so weit war, und alles im Haushalt schmeißen konnte. Außerdem musste ich ein Auge auf meinen Bruder haben, er war mit seinen zehn Jahren alles andere als reif und vernünftig. 

Wir bewohnten eine schöne Vierzimmerwohnung in der ersten Etage.  Alles war gemütlich und zu Weihnachten wurde stets alles schön weihnachtlich geschmückt, darauf legte Mama sehr viel Wert. Der Weihnachtsbaum musste frisch aus der Schonung kommen, sodass wir auch lange diesen Baum genießen konnten. Papa war mit Titus zum Baumaussuchen gefahren und mit dem „Schönsten“, so wie sie sagten, zurückgekehrt. Mama war begeistert und sie konnte es kaum erwarten, dieses Prachtstück gebührend zu schmücken. Sie hatte alles gegeben. „Was sagt ihr dazu?“, frage sie und wies auf den Baum, der in voller Pracht unser Wohnzimmer schmückte. „Er ist wunderschön“, bestätigte ich. 

Mama strahlte und auch Titus und Papa waren sehr zufrieden. 

„Jetzt kann Weihnachten kommen“, sagte Papa. „Es gibt noch einiges zu tun“, erwidert Mama, „aber das Wichtigste steht. Die Einkäufe müssen noch erledigt werden und mit dem Vorkochen wollte ich auch beginnen.“

„Alles mit der Ruhe, du wirst es schon schaffen, wie immer“, lachte Papa.

Weihnachten kam und wir feierten zusammen mit Oma und Opa. Es waren schöne Feiertage. Alle waren sehr zufrieden und auch die Geschenke waren gut ausgefallen. 

Meine Wünsche waren erfüllt worden und auch Titus war glücklich. Weihnachten hatte sich in jeder Hinsicht wieder einmal gelohnt, und obendrauf kam noch, dass wir Ferien hatten. „Was wollten wir mehr?“

Nach dem Fest ging alles seinen gewohnten Gang. Mama und Papa arbeiteten, während Titus und ich noch unsere Ferien genossen. 

„Morgen habe ich einen Tag Urlaub“, erklärte Mama beim Abendessen. „Hast du etwas Besonderes vor?“, fragte ich.

„Ich wollte den Tag dafür nutzen, die Weihnachtsdeko zu entfernen, den Weihnachtsbaum abzuschmücken und herauszubringen.  Die Zeit ist vorbei und er nadelt schon sehr.  Ihr könntet mir helfen“, sagte Mama.  Die Begeisterung war nicht gerade groß. „Ja, ok, ich helfe dir“, fügte ich mich. Titus nickte und meinte: „Ok, ich helfe euch auch.“

„Dann werden wir morgen früh gleich nach dem Frühstück loslegen“, beschloss Mama und machte dabei einen zufriedenen Eindruck. 

„Titus, ich bitte dich, räume doch wenigstens deinen Kram auf die Seite. Wenn wir gleich noch die Kartons mit den Weihnachtssachen hier stehen haben, dann ist alles voll und durcheinander“, erklärte Mama sichtlich genervt von meinem kleinen Bruder, der wie immer seine Autosammlung überall hingestellt hatte. „Ja, mache ich gleich“, murmelte Titus, aber er bewegte sich keinen Zentimeter. Mama sah ihn ermahnend an und als er die Blicke registrierte, setzte er sich widerwillig in Bewegung, um aufzuräumen und dann in seinem Zimmer zu verschwinden. Mama und ich nahmen die Dekoration ab und packten sie in die passenden Kartons. Eins nach dem anderen. Die Kugeln und Lichterkette, zuletzt die Spitze, bis er sozusagen nackt da stand.  

„Soweit so gut, aber wie bekomme ich den Baum durch das Treppenhaus? Er nadelt so schlimm, wie noch nie ein Baum vorher?“, fragte Mama und sah dabei verzweifelt auf den Baum.  „Ich glaube, ich habe die Lösung“, rief sie und steuerte dabei schnurstracks auf das Fenster zu. Sie öffnete das Fenster weit und meinte: „Ich werfe den Baum einfach durchs Fenster hinunter in den Garten, somit bleibt das Treppenhaus sauber und der Baum ist unten.“

Zufrieden ging sie zurück zum Baum. Mit der rechten Hand fasste sie den Baum, um zeitgleich mit dem Fuß, den Ständer zu lösen. Sie zog den Baum aus der Halterung und man sah ihr sofort an, wie schwer er war. Schnell drehte sie sich um und schritt in Richtung Fenster. Ihre Schritte wurden immer größer und ihr Tempo nahm zu, der Baum schien so schwer zu sein, sodass sie ihn kaum halten konnte. Fast hatte sie das offene Fenster erreicht, als sie über Titus Spielzeugauto, welches noch vor dem Fenster auf dem Boden gestanden hatte, getreten war. Mama schien ihr Gleichgewicht nicht mehr halten zu können. Es sah so aus, als wenn sie auf dem Auto in Richtung Fenster gleiten würde. Sie versuchte sich krampfhaft zu halten und schrie noch laut: „Hilfe“, als sie mitsamt des Tannenbaumes aus dem Fenster fiel.

 

Ich stand wie angewurzelt vor dem Fenster und schaute hinunter, als es klingelte. Wie ferngesteuert, lief ich zur Wohnungstür und öffnete sie. Der Postbote stand dort und lächelte mich an. „Hallo, ist deine Mutter da?“, fragte er freundlich.

„Sie ist gerade aus dem Fenster gefallen!“, schrie ich ihn verzweifelt an.  Zunächst schaute der Mann ungläubig und fragte verunsichert, „was ist mit ihr?“ „Sie ist gerade aus dem Fenster gestürzt!“, rief ich erneut. Dann ergriff ich seine Hand und zog ihn hinter mir her in die Wohnung zum offenen Fenster.  Als er heruntersah, wurde er blass. „Du meine Güte.“ Er zog sein Telefon aus der Hosentasche und rief den Notarzt, danach lief ich zusammen mit ihm die Treppen hinunter, um zu meiner Mama zu gelangen. Sie war ansprechbar, hatte aber große Schmerzen. „Alles wird gut“, beruhigte der Postbote meine Mama. 

Der Notarzt war schnell eingetroffen und meine Mutter wurde ins Krankenhaus gebracht. Wie sich später herausstellte, hatte sie sich bei dem Sturz ihr Bein gebrochen und Gott sei Dank keine weiteren Blessuren davon getragen. Der Arzt führte das darauf zurück, dass sie auf dem Tannenbaum gelandet war.