Von Kornelia Wulf
Ich stehe in der vierten Etage vor der Wohnungstür. Topp gepflegt dieses Mietshaus. Nur die Flurleuchte flackert über mir, als könne sie sich nicht entscheiden Licht ins Dunkel zu bringen. Ein paar Schweißtropfen aus den Stirnfalten wischend atme ich auf. Endlich, die letzte Postsendung heute. Kramgasse 1 steht auf dem Umschlag. Eigentlich nicht mein Terrain. Doch in der Früh um sechs eine Mail meines Chefs. Heute müsse ich Kollege Karl-Heinz vertreten. Die Zähne knirschten, ich stöhnte laut auf. Schon wieder Überstunden, das dritte Mal diese Woche. Sorry, schrieb der Alte, die Grippe grassiere. Und ich dachte, vielleicht sollte ich die mir auch Mal nehmen. Nach all den schweren Zusatzpaketen, heraufgeschleppt über unzählige Stufen, kam ich mir beinahe wie Sisyphos vor.
Ich drücke auf die Wohnungsklingel. Ein Scheppern und Knarren in meinem Ohr, bevor die Tür sich widerwillig öffnet und drei weiße Federn aus dem handbreiten Spalt herauslugen.
„Die Post.“ Die Stimme klingt rau, ein bisschen belegt. Ich räuspere den Überraschungsschleim weg. „Ein Übergabeeinschreiben.“
Von innen ein unterdrücktes Ächzen und Schnaufen, als fünf Finger die Buchenholzzarge umklammern und ein schmächtiger Körper die Tür aufstemmt.
Aus dunklen Augen trifft mich der Blick. Wie zwei Eierkohlen, in denen die Glut verglommen ist, denke ich. Warum wirkt dieses Kind nur so müde auf mich. Ein buntes Band schmückt den schwarzen Schopf, die drei weißen Federn eingeknüpft. Und entlang der schmalen Silhouette hängen traurig rote Fransen – wenn ein Windhauch sie nur beleben könnte -, mit schiefen Stichen grob geheftet an eine weiße Baumwollhülle, die wie ein überdimensionierter Schlafanzug um seinen Körper schlottert.
Aus der verstaubten Karl-May-Gedächtnislade krame ich ein „Howgh! Ich grüße dich, Weißer Adler.“
Der Junge setzt eine Miene auf, die ich nicht sauber entschlüsseln kann. Etwas zwischen verächtlich starren und mich bedauern.
„Das heißt Háo Kola, hallo mein Freund. Und nenn mich nie wieder Weißer Adler.“ Angewidert rollen die Eierkohlenaugen. „Big Foot ist mein Name. Aber du darfst mich auch Benni nennen.“
Ich fische nach dem Umschlag in meiner Tasche.
„Ich habe hier einen Brief für Frau Sonja Hutter, den ich ihr nur persönlich überreichen darf. Ist das vielleicht deine Mutter?“
Der Junge nickt, die Federn wippen. „Sie musste mit meiner kleinen Schwester zum Arzt“, wispert er. Panisch jagen seine Augen durchs Treppenhaus. „Überall wuchsen rote Flecken auf ihrer Haut.“ Benni tippt mit dem Finger auf Arme und Bauch. „Die hat sie sich immer aufgekratzt. Nele, lass das, hat Mama gesagt. Ich muss sonst deine Hände fesseln, auch wenn mein Herz dabei blutet. Aber sie hat trotz langem Suchen das Paketband nicht gefunden.“ Und die kleinen Finger in meine schlüpfend zieht er mich durch den nun schulterbreiten Spalt.
Während ich in die Wohnung starre, nehme ich ein seltsames Japsen wahr, als atmete ich durch Band aus Gaze ein. Das kann doch nicht sein. Solche Müll-Dokus gibt es nur auf RTL2.
Ein Zeitungsturm. Direkt hinter Tür. Und über meinem Rücken strömt kalter Schweiß. Ihn abzubauen, käme einem Sisyphosschicksal gleich.
In Bennis Augen ein trotziger Hauch.
„Meine Mama liest halt gern.“
Ein drückender Dunst zieht durch den Raum. Es riecht süßlich faul, egal, wohin ich schau. Alles drängt in mir, Luft einzulassen. Doch Klorollen, Nägel, Pizzakarton und Dinge, die ich nicht anschauen mag, verdecken die Wände wie einen Schutzwall aus Unrat, hinter dem sich selbst die Fenstergriffe verstecken.
Er zieht an meiner Hand – wir schleichen gebückt -, bis zu einem Kindertipi, mit einer grauweiß gestreiften Matratze bestückt. Neben dem Eingang ein textiler Stapel. Jeans und T-Shirts, Slips und Socken, exakt gefaltet im akkuraten Gleichmaß.
„Meine Mama will, dass wir ordentlich aussehen. Und spätabends, wenn die anderen schlafen, schleicht sie mit dem Korb in den Keller, um unsere schmutzige Wäsche zu waschen.“
Er deutet auf die Jungensachen.
„Die ziehe ich nur an im Unterricht. Denn in meiner Schule herrscht Verkleidungspflicht. Dort darf ich das I-Wort nicht mal sagen.“
Wir lassen uns auf den Streifenstoff fallen, aus dem mich nur fünf winzige Flecken anstarren. Benni streckt den Arm zur Seite aus, sucht nach einem kleinen Karton hinter der Matratze. Und zwischen Zahnbürste, Seife und Tomahawk kramend, greift er nach einer verbeulten Thermosflasche.
„Ich hole uns aus der Küche frisches Wasser.“
Und er pirscht sich durch eine schmale Schneise. Keine Tannenknospen springen auf. Neben ihm. Und nirgendwo der Geruch von frischem Harz, eingebettet in Mutter Natur. Nein. Er quetscht sich an prallen Tüten vorbei. Aufgetürmt in schwindelnde Höhen. Der Berg Sinai kommt mir in den Sinn, den ich heut´ nicht besteigen will. Um uns nur Schwaden von gärendem Unrat. Alle Gebote verrotten im Biomüll.
Benni biegt um die Ecke. Ich höre ein Knistern, das Gluckern des Wassers. Und während ich wartend nach ihm schaue, verfängt sich mein Blick in ein Puppenbein, das nackt und weiß aus dem Plastikberg ragt. Hoffentlich hat ihn der Müllberg nicht verschluckt, denke ich.
Warum habe ich mich nur hineinziehen lassen. In diese eklige, unappetitliche Sache. Nach dieser Woche voll stressiger Tage. Gleich nur noch chillen, hatte ich gedacht, bevor ich diese Wohnung betrat, mit einer heißen Kaffeetasse in der Hand mich einfach fallenlassen.
Mein Blick wandert weiter entlang der Schneise. Entdeckt einen Bildschirm. Der Gelenkarm schief nach vorn gedrückt, wie ein Nacken, dem zu Schweres aufgeladen ist. Und meine Gedanken sacken hinab. Verlieren sich in die langen Jahre, an die ich mich nicht mehr erinnern mag
… als ich im Zimmer meines Sohnes saß. Alles hatte ich dort für ihn aufbewahrt. Nachdem meine Ex zu ihrem Neuen gezogen war. Ihn einfach mitnahm. Weit, weit fort. Ein-bis-an-das-Ende-der-Welt-Gefühl. Der Blick so kraftlos, das Feuer erloschen. Nur noch Schwärze, nachdem ich ihn auf dem Monitor nicht mehr sehen durfte. Wir skypten an jedem Sonntagnachmittag. Von zwei bis meine Seele einbrach ….
Drei weiße Federn streifen an dem schwarzen Plastik entlang. Bleiben fast hängen, knicken fast ein. Und mit Ruck ziehe ich die Erinnerungsreißleine. Er lässt sich neben mich auf die Matratze fallen, eine Taco-Chipstüte und die Flasche in der Hand. Wir hüllen uns ein in den Mantel des Schweigens. Unsere Seelen stellen sich auf Entspannungsmodus ein. Nur die Stille hebt nachdenklich die Brauen an, als ich Bennis Handfläche spüre, die ganz sacht in meine gleitet.
„Hey, das war fein. Besuch mich doch öfter, wenn du magst.“ Ein vorsichtiges Glimmen in seinen Augen. „Aber du darfst niemandem etwas verraten.“ Sein Blick kreist warnend um das Tipieiland. „Auch nicht, wenn sie dich martern.“
Ich zucke zusammen. Während die Realität mich wieder einfängt mit fester Hand, lächele ich ihn an.
„Ja, vielleicht.“
Und streiche meine gelb schwarze Jacke glatt – als verleihe die Dienstkleidung mir Sicherheit -, nachdem ich unser Lager verlassen hab. Auf dem Weg zur Tür drehe ich mich noch einmal um.
„Ich werfe einen Zettel in den Briefkasten für deine Mutter, die ich ja leider nicht angetroffen habe. Morgen kann sie das Einschreiben im Kiosk abholen.“
In den Knien noch Matratzensteife stakse ich die Stufen hinab und wieder zurück auf dem Bordstein sauge ich Luft ein, die so frisch schmeckt. Und so rein.
***
Ich stehe vor dem gelben Haus. Sechs weiße Federn zittern in meiner Hand. Drei Kiele wollte ich in mein Kopfhaar stecken. Doch der Kranz hinten am Schädel wächst wohl zu rund. Und ein Band um die kahlen Stellen – das wird mir zu bunt. Also bekommt Benni sie alle geschenkt.
Eine Frau erscheint, als ich auf den Klingelknopf drücke. Sie führt mich in den Flur, hell und sauber. Durch die gekippten Fensterflügel hör ich ein Lachen. Sehe kleine Füße, die durch die Weite der Wiese trappeln.
Sofort haben sie ihn hierhin gebracht, in das Kinderwohnheim, Fröbelstraße 8 – weit entfernt von der Kramgasse 1 -, nachdem ich mich an die zuständige Stelle gewandt hatte.
Denn wenn ein Kind auf einer Müllhalde lebt, häuft sich der Ballast in seiner Seele. Da hilft auch kein Kammerjäger, erklärte sie mir am Telefon. Die nette Dame vom Jugendamt.
Vor zwei Tagen rief sie mich an. Benni wolle mich sehen, habe er zu ihr gesagt. Möglichst bald. Und dass er es fast nicht erwarten könne.
Ich folge der Frau über den Gang. An den Wänden hängen Bilder, von Kinderhand gemalt. Und alles fließt in mir. Weich und warm. Nur der weiße Vogel neben der Tür, an die die Frau gerade klopft. Er starrt so traurig durch die Käfigstäbe. Vielleicht vermisst er seinen Heimatbaum?
Vorsichtig trete ich über die Schwelle, nachdem die Klinke sich langsam absenkte und den Eingang weit für mich öffnete. Schrank und Sofa und Bücherregal. Die Legokiste. Holzeisenbahn. Jedes Teil hat seinen Platz, den Benni hier noch nicht gefunden hat. Alle Spielsachen wirken septisch und rein. Selbst der Löwe, den Hintern abgelegt auf dem Hinterbein, thront er im Bett auf dem Supermankissen. Steif und leblos sitzt der da. Das flauschige Fell wohl unberührbar.
Ganz hinten in der Ecke, vom Schrank halb verdeckt, entdecke ich sein kleines Kindertipi. Und als Benni die Plane am Eingang teilt, bebt es ein wenig. Er kriecht durch den Spalt. Die Eierkohlenaugen glühen auf, flammen fast aus den Höhlen heraus. Ich spüre ein Brennen auf meiner Haut. Und die Arme hinter dem Rücken versteckt, richten sich plötzlich die Fransen steil auf. Wie ein Igel mit roten Stacheln sieht er jetzt aus.
Ein feines Sirren in meinem Ohr, als sein Arm nach vorne schnellt. Mit kraftvollem Schwung. Oh Gott, lass das kein Tinnitus sein, denk ich noch, bevor die Tomahawkschneide haarscharf an meiner Stirn vorbeipfeift. Ich schlage die Hände über dem Skalp zusammen und sechs weiße Federn suchen das Weite. Sie trudeln verschreckt unter das Bett.
Howgh!
V2